Lenins Herangehen an die Nationen- bzw. Nationalitätenfrage erweist sich heute noch in vielerlei Hinsicht als hochaktuell. Die Nation dominiert – trotz gegenteiligem Anschein – auch gegenwärtig kapitalistische Staatlichkeit als Organisationsform. Konkurrenz, sowohl zwischen einzelnen Unternehmen wie auch zwischen Nationen bzw. zu Blöcken geeinter Staaten, ist dem System immanent geblieben; ebenso wie der Drang nach Vereinheitlichung und Vereinigung zu Lasten Dritter. Letzteres geschieht weltweit durch die Tendenz zum Monopol, durch supranationale Bündnisse der Mächtigen – wie die EU eines ist – oder einfach durch global organisierten Neokolonialismus.
Lenins grundsätzlicher Standpunkt in der nationalen Frage könnte wie folgt zusammengefasst werden: Solange es den Kapitalismus bzw. die Ära des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus gibt, gibt es auch Entitäten wie Nationen oder Nationalitäten. Solange die aber existieren, wird es Unterdrücker-Nationen und unterdrückte Nationen geben, also – wenn man so will – fortschrittliche und repressive Aspekte der nationalen Frage [fn]Vgl. Wladimir Iljitsch Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, in: W. I. Lenin, Werke Bd. 22, Berlin, 1960, 326-368, hier: 326-331[/fn]. Dadurch wiederum wird impliziert, dass alle wirklichen Sozialisten bzw. Marxisten strikt für die unterdrückten Nationen und deren Selbstbestimmungsrecht eintreten müssen. Insofern hat ein nationaler Befreiungskampf unbedingt progressiven Charakter, der von demokratischen Bewegungen genutzt werden sollte. Es versteht sich daher von selbst, dass Lenin der nationalen Ebene im Zuge des Kampfes für demokratische bzw. sozialistische Verhältnisse entscheidende Bedeutung beimaß.
Er wollte die antiimperialistischen und nationalen Bewegungen innerhalb und außerhalb des Landes aufgrund dieser Einschätzungen unbedingt als Verbündete gewinnen und handelte dementsprechend. Bedingungslos wurde nach der Revolution das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten anerkannt, einschließlich ihres Austrittsrechts aus dem russischen Staatsverband. Allerdings betonte Lenin gleichzeitig, dass er den Austritt unter gegenwärtigen Umständen nicht für nützlich hielt. So konnte auf der einen Seite die Unterstützung der nationalen Bewegungen gesichert werden, auf der anderen wurde dennoch ein möglichst enger Zusammenschluss voneinander unabhängiger Völker gefördert. Diese Dialektik von Selbstbestimmung und freiwilligem Verschmelzen ist charakteristisch für leninsches Politikverständnis und Methodik, worin die Freiwilligkeit das zentrale Axiom darstellt.
Die auf Freiwilligkeit basierende Konstitution von – vor allem kleinen und bisher unterdrückten – Nationen und Nationalitäten ist Voraussetzung für die Umsetzung von Lenins grundsätzlicher Ausrichtung: „Das Proletariat kann keinerlei Verankerung des Nationalismus unterstützen, im Gegenteil, es unterstützt alles, was dazu beiträgt, die nationalen Unterschiede zu verwischen, die Schranken zwischen den Nationen niederzureißen, alles, was den Zusammenhalt zwischen den Nationalitäten immer enger gestaltet, alles, was zur Verschmelzung der Nationen führt. Anders handeln heißt sich auf die Seite des reaktionären nationalistischen Spießertums schlagen.“ [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: W. I. Lenin, Werke Bd. 20, Berlin, 1960, 1-37, hier: 20-21.[/fn] Um aber die Schranken zwischen den Nationen niederreißen zu können, um sie gänzlich aufzulösen, muss zuerst alle Unterdrückung, jedwede ungerechte Differenz eliminiert werden. So lautete Lenins Überzeugung und nach ihr richtete er seine politische Aktion aus.
Schon am 2. November 1917 erfolgte seitens des Volkskommissariats für nationale Angelegenheiten – als eines der ersten Dekrete der Sowjetmacht überhaupt – die „Deklaration der Völker Russland“. Darin waren verankert: Die Gleichheit und Souveränität der Völker Russlands, ihr Recht auf freie Selbstbestimmung, bis hin zu einer Loslösung und Bildung eines selbständigen Staates. Außerdem beinhaltete die Deklaration die Aufhebung aller und jeglicher nationaler und nationalreligiöser Privilegien und Einschränkungen sowie die freie Entfaltung nationaler Minderheiten und ethnographischer Gruppen, die das Gebiet Russlands bewohnen. [fn]Vgl.: Helmut Altrichter, (Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 1, München, 1985, 135f-137.[/fn]
Nichts war geeigneter das Vertrauen der Völker und nationalen Bewegungen zu gewinnen als dieser prompt erfolgte konkrete politische Schritt. Und dieses Wohlwollen zu fördern war notwendig, denn infolge der Unterdrückung durch Zarismus und großrussisches Kapital hatte sich bei den Völkern an der Peripherie des Reichs eine Unmenge an Erbitterung und Misstrauen angehäuft. Beides konnte die nunmehrige Sowjetmacht nur durch Taten und nicht durch Worte zerstreuen [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Zur Revision des Parteiprogramms, in: Lenin, Werke Bd. 26, Berlin, 1960, 163.[/fn].
Was nicht immer gelang. Als Konsequenz des fixierten Selbstbestimmungsrechtes erkannte die Sowjetregierung am 3. Dezember 1917 die staatliche Unabhängigkeit Finnlands an. In der Begründung offenbart Lenin Grundzüge seines Denkens: „[…] es mußte getan werden, weil diese Bourgeoisie damals dem Volk, den werktätigen Massen weismachen wollte, die Moskowiter, die Chauvinisten, die Großrussen wollten die Finnen versklaven. Man mußte das tun.“ [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, VII. Parteitag der KPR (B), in: Lenin, Werke Bd. 29, Berlin 1962, 156. [/fn] Selbst mit dem Wissen, dass die Bourgeoisie den Nationalismus hier für ihre Interessen schamlos ausnutzte, konnte die frühe Sowjetmacht gar nicht anders handeln. Lenins Maxime war ja durch praktisches Handeln zu beweisen, anders als alle bisherige Staatsmacht zu sein: Das Vertrauen der Werktätigen – auch derjenigen Finnlands – damit endgültig zu gewinnen.
Selbst bei offener Unterstützung der auf russischem Gebiet agierenden Konterrevolution durch andere Nationen hielt Lenin am Selbstbestimmungsrecht unbeirrt fest. So heißt es in einem Beschluss des Rats der Volkskommissare, der nachdem die ukrainische Rada [fn]Die Zentralna Rada (deutsch Zentralversammlung, Zentralrat) war das politische Entscheidungsorgan der Ukraine von 1917 bis 1920. Sie stand stark unter bürgerlich-nationalistischem Einfluss.[/fn] auf ein Ultimatum der Sowjetmacht geantwortet hatte, erfolgt war: „[…] daß die direkte oder indirekte Unterstützung der Kaledinleute [fn]Alexei Maximowitsch Kaledin (1869-1918), zaristischer General der Kavallerie und Anführer der konter-revolutionären Kosaken gegen die Bolschewiki im Dongebiet.[/fn] durch die Rada für uns ein zwingender Grund zur Eröffnung von Kriegshandlungen gegen die Rada ist. […] Die nationalen Forderungen der Ukrainer aber, die Selbständigkeit ihrer Volksrepublik, ihr Recht föderative Beziehungen zu verlangen, werden vom Rat der Volkskommissare vollauf anerkannt und geben zu keinerlei Streitigkeiten Anlaß.“ [fn] Beschluss des Rats der Volkskommissare vom 30. Dezember 1917, in: Lenin, Werke Bd. 26, Berlin, 1960, 418-419.[/fn]
Bemerkenswert auch die Haltung der jungen Sowjetmacht gegenüber Nationalitäten islamischen Glaubens. Unmittelbar nach der Revolution, am 20. November 2017, kam es zu dem Aufruf „An alle werktätigen Mohammedaner Rußlands und des Ostens. [fn] Vgl.: Illustrierte Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Berlin 1973, 223.[/fn] Darin hieß es unter anderem: „Muslime Russlands […] ihr, deren Moscheen und Gebetshäuser von den Zaren und Unterdrückern Russlands verwüstet wurden, deren Überzeugungen und Sitten mit Füßen getreten wurden: Euer Glaube und eure Sitten, eure nationalen und kulturellen Einrichtungen sind für immer frei und unantastbar. Wisset, dass eure Rechte wie die aller Völker Russlands unter dem mächtigen Schutz der Revolution stehen […].“ [fn] Zitiert nach: Dave Crouch, der Islam und die Politik der Bolschewiki. http://www.marxists.de/religion/crouch/bolsch_islam.html#n26 (1. 9, 2017).[/fn]
Auch hier folgte in der leninschen Sowjetunion den Worten die Tat: „Heilige islamische Denkmale, Bücher und Gegenstände, die von den Zaren geraubt worden waren, wurden an die Moscheen zurückgegeben: ‚Der Heilige Koran von Oman‘ wurde im Dezember 1917 in Petrograd feierlich einem muslimischen Kongress überreicht. Der Freitag wurde als Tag der muslimischen Religionsfeiern zum offiziellen Feiertag in ganz Mittelasien.“ [fn] Avtorkhanov, Imperija Kremlija, 1988, 99. Bzw.: Alexander G. Park, Bolshevism in Turkestan, 1917–1927, New York, 1957, 214. [/fn] In Mittelasien und dem Kaukasus schuf die Sowjetmacht sogar ein paralleles Rechtssystem, in dem die islamischen Gerichte in Übereinstimmung mit den Schariagesetzen neben den sowjetischen Rechtsinstitutionen Recht sprachen. Die Menschen sollten die Wahl zwischen religiöser und revolutionärer Gerichtsbarkeit haben.
Auch dieses Herangehen ist typisch für Lenins Methodik: Die Toleranz gegenüber der Scharia war eine Anerkennung der Tatsache, dass der islamische Konservativismus nur mittels eines Bruchs mit der großrussischen chauvinistischen Politik zurückgedrängt werden konnte. Nur dann gelang es den religiösen Eliten nicht mehr so leicht, Menschen klassenübergreifend um die Moschee zu scharen und die Klassenspaltungen in der muslimischen Gesellschaft dadurch zu verdecken. [fn] Vgl.: http://www.marxists.de/religion/crouch/bolsch_islam.html#n26 (1. 9, 2017).[/fn]
Politischer Anspruch und Wirklichkeit stimmen hier absolut überein. Die prinzipielle Grundlage einer solchen Politik hatte Lenin nämlich bereits vor dem Krieg, im Jahr 1913, formuliert. In einem Artikel für „Sewernaja Prawda“ schreibt er: „Das nationale Programm der Arbeiterdemokratie: absolut keine Privilegien für irgendeine Nation, für irgendeine Sprache; Lösung der Frage der politischen Selbstbestimmung der Nationen, d. h. ihrer staatlichen Lostrennung, auf völlig freiem, demokratischem Wege; Erlass eines für den ganzen Staat geltenden Gesetzes, kraft dessen jede beliebige Maßnahme (der Semstwos, der Städte, der Gemeinden usw. usf.), die in irgendwelcher Hinsicht einer der Nationen ein Privileg gewährt und die Gleichberechtigung der Nationen oder die Rechte einer nationalen Minderheit verletzt, für ungesetzlich und ungültig erklärt wird – und jeder beliebige Staatsbürger berechtigt ist zu verlangen, dass eine solche Maßnahme als verfassungswidrig aufgehoben wird und diejenigen, die sie durchsetzen wollen, strafrechtlich belangt werden.“ [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Liberale und Demokraten zur Sprachenfrage,in: Lenin Werke Bd.19, Berlin, 1962, 344-347, hier: 346. [/fn] Allerdings hütete sich Lenin trotz dieses so beweglichen – und dennoch konsequenten – Herangehens stets davor, Nation und nationale Bewegung zu verabsolutieren. Er skizzierte genau, wo für ihn der Fortschritt durch regressiven Nationalismus begrenzt wird: „Fortschrittlich ist das Erwachen der Massen aus dem feudalen Schlaf, ihr Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, für die Souveränität des Volkes, für die Souveränität der Nation. Daher die unbedingte Pflicht des Marxisten, auf allen Teilgebieten der nationalen Frage den entschiedensten und konsequentesten Demokratismus zu verfechten. […] Weiter aber darf das Proletariat in der Unterstützung des Nationalismus nicht gehen, denn dann beginnt die ‚positive‘ (bejahende) Tätigkeit der nach Stärkung des Nationalismus strebenden Bourgeoisie.“ [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: W. I. Lenin, Werke Bd. 20, Berlin, 1960, 1-37, hier: 19-20. [/fn] Auf den Punkt gebracht ließe sich sagen, fortschrittlich an den nationalen Bewegungen war für Lenin nur das demokratische bzw. antiimperialistische Moment.
Nun, ein Erwachen aus dem feudalen Schlaf steht hier und heute nicht an, wohl aber die so zentrale Demokratiefrage und der Kampf um Souveränität. Gegenwärtig fallen die Entscheidungen, die Österreich betreffen, in Brüssel – und das meist durch Gremien, denen es an jedweder demokratischen Legitimation mangelt. Genau an diesem Punkt müssen fortschrittliche Kräfte – wie Lenin es einst getan hat – die soziale Frage mit der nationalen verknüpfen. Hier stoßen wir auf die nach wie vor aufrechte Aktualität seines Herangehens.
Lenins praktische Methode bedingte auch eine Reflexion auf theoretischer Ebene. Er korrigierte den Ansatz von Marx und Engels in der Nationalitätenfrage entscheidend: Dabei ging es ihm darum, diesem Phänomen angemessene Bedeutung – letztlich bis hin zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts – zu verschaffen. Ebendiese Übernahme des Selbstbestimmungsrechts der Nationen in die sozialistische Revolutionstheorie stellte einen entscheidenden Bruch mit den ursprünglichen Auffassungen von Marx und Engels dar. Er wendete damit die Position von den beiden in der Nationalitätenfrage noch einmal „marxistisch“. Resultat ist, dass dadurch letztlich auch solchen Völkern, die nach Marx und Engels ungeschichtlich waren, zu einer eigenen Historie verholfen wurde.
Lenin betonte mit seinem differenzierten Herangehen den prozesshaften, dialektischen Charakter der Nationswerdung, die von sozio-ökonomischen Ursachen dominiert wird – ohne dabei ihren genuin bürgerlichen Ursprung zu übersehen. Er meinte, „dass die Marxisten die mächtigen ökonomischen Faktoren nicht außer Acht lassen können, die den Drang zur Schaffung von Nationalstaaten erzeugen.“ [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, W. I. Lenin. Werke, Bd. 20, Berlin, 1960, 402.[/fn]
Ebenso, glaube ich, dürfen wir heute die mächtigen wirtschaftlichen Faktoren nicht außer acht lasse, die das Kapital zur Ausformung der Europäischen Union drängten. Genau wie Lenin müssen wir konsequent gegen die großen Ausbeuter-Nationen, wie sie die EU darstellt, Stellung nehmen. Dabei ist das partielle demokratisch-fortschrittliche Potential des Patriotismus in den kleinen, um ihre Selbständigkeit ringenden Nationen unbedingt im Auge zu behalten.
Worin besteht nun dieses Potential? Nach Lenin gibt es in jeder Nation zwei verschiedene Kulturen: Elemente einer demokratischen, sozialistischen, aber auch eine bürgerliche Kultur – und zwar in Gestalt der vorherrschenden. Deshalb sei auch die „nationale Kultur“ im Allgemeinen die Kultur der Herrschenden. [fn] Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, Berlin, 1949, 9[/fn] Unser Augenmerk muss daher natürlich ersterem, einer demokratisch-sozialistischen Kultur als fortschrittliches Potential gelten.
Diese Trennung in – hauptsächlich! – zwei Kulturen ist ganz wesentlich für Lenins Methode: Er geht nicht von einer abstrakten, von den herrschenden Eliten einfach als solche postulierten Nation aus. Lenin sieht sie vielmehr als eine wirklich existierende, in der die verschiedenen Interessen und Praxen aufeinander prallen – und die in dieser ihrer konkreten Widersprüchlichkeit erst eine sehr bewegliche Einheit ergeben. Daher postulierte er auch, dass das Problem der „nationalen Kultur“ für Marxisten von enormer Bedeutung sei. Und zwar, „weil sie den ideellen Inhalt unserer ganzen Propaganda und Agitation in der nationalen Frage zum Unterschied von der bürgerlichen Propaganda“ [fn] Ebenda, 18.[/fn] bestimme.
Freilich ist die Nation nichts ewiges, sondern an konkrete historische Bedingungen geknüpft. Lenin betont stets ihr Insignifikantwerden im Kommunismus. Ein Vorgang, den er aber als langwierigen Prozess fasst. Selbst in die neue Gesellschaft wirke daher die alte, in Nationen strukturierte, noch lange hinein. Zur geschichtlicher Bedingtheit der Nation erklärt er: „In der ganzen Welt war die Epoche des endgültigen Sieges des Kapitalismus über den Feudalismus mit nationalen Bewegungen verbunden“, [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, W. I. Lenin. Werke, Berlin, 1961, Bd. 20, 398.[/fn] um ein paar Absätze weiter schließlich zu ergänzen: „Die grundlegenden wirtschaftlichen Faktoren drängen dazu, und in ganz Westeuropa – mehr als das: in der ganzen zivilisierten Welt – ist deshalb der Nationalstaat für die kapitalistische Periode das Typische, das Normale.“ [fn] Ebenda, 399.[/fn]
Folgt man diesem Ansatz, dann ist auch heute die nationale Existenzweise, jene, die für den Kapitalismus charakteristisch ist. Daran ändern auch der Trend zur „Supernation“ und der internationalisierte Aktionsradius des Kapitals kaum etwas. Globale Ausbeutung funktioniert nach wie vor nach quasi-kolonialem Schema. Wenn man so will agiert die Europäische Union gegenüber anderen – im Speziellen gegenüber Afrika – wie eine Ausbeuter-Nation, während Deutschland im Innenverhältnis, das gegenüber etwa Griechenland oder Rumänien macht.
Lenins Verdienst liegt vor allem auch darin, erkannt zu haben, wie wichtig es für alle fortschrittliche Bewegungen ist, die ausgebeuteten Völker in ihrem Kampf um nationale Souveränität bedingungslos zu unterstützen. Außerdem hat er klar gesehen, dass nationale Souveränität eine unerlässliche Voraussetzung für echte Demokratisierung darstellt. Eine Tatsache, die auch aktuell von großer Bedeutung ist.
Lenin analysierte stets konkret. Wichtig war ihm, ob nationaler Kampf im gegenständlichen Fall – und nur in diesem! – eine fort- oder rückschrittliche Aufgabe erfüllt. Demnach schien für ihn klar, dass nationale und soziale Befreiung durchaus Hand in Hand gehen können – aber es eben nicht müssen! Es war „die Überschneidung zwischen den Appellen an die nationale und die soziale Unzufriedenheit, die Lenin“, wie Eric J. Hobsbawm es ausdrückt, „mit seinem üblichen Scharfblick für politisch Realitäten zu einer der Grundlagen für die kommunistische Politik in der kolonialen Welt machen sollte“. [fn] Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt am Main, 1991, 147.[/fn] Lenin sah also nicht, wie Engels, nur ein vorwiegend retardierendes Moment in der nationalen Frage gegenüber dem Klassenkampf, sondern zuweilen auch ein katalysatorisch wirkendes, das man sich zu Nutze machen musste.
Das hervorstechende an seinem Denken war, dass er Revolution als Gesamtkunstwerk betrachtete und nicht als isolierten Selbstläufer der „nur“ sozialen Aktion: „Denn zu glauben, dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung – das zu glauben, heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer aufstellen und erklären: ‚Wir sind für den Sozialismus‘, an einer anderen Stelle das andere Heer aufstellen und erklären: ‚Wir sind für den Imperialismus‘, und das wird dann die soziale Revolution sein! […] Wer eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben.“ [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, in: W. I. Lenin, Werke Bd. 22, Berlin, 1960, 363-364.[/fn]
Bei Lenin stand die Analyse der realen Kampfsituation, aus der allein heraus er seine Politik entwickelte, absolut im Mittelpunkt. Das losgelöste Postulat einer Nation als Wert „an sich“ war ihm ebenso fremd wie jenes eines abstrakten, das heißt, des proletarischen Elements beraubten, Internationalismus: „Was ist darunter (Selbstbestimmungsrecht der Nationen, M. W.) zu verstehen? Ist die Antwort in juristischen Definitionen (Begriffsbestimmungen) zu suchen, die von allen möglichen ‚allgemeinen Rechtsbegriffen‘ abgeleitet werden? Oder muss die Antwort im historisch-ökonomischen Studium der nationalen Bewegungen gesucht werden?“, [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, W. I. Lenin. Werke, Bd. 20, 398.[/fn] frug er rhetorisch zu Beginn seiner Schrift „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ und umriss damit programmatisch seine problemorientierte Sicht der Dinge. Ihm war zudem klar, dass nationale Bewegungen nicht unbedingt im Gegensatz zu internationalistischer Ausrichtung stehen müssen, sonder sie – im Gegenteil – oft sogar erst ermöglichen: Die Unterstützung für die nationale Selbstbestimmung der Unterdrückten war, wie er erkannte, ein Hebel, die internationale Einheit der Arbeiterklasse herzustellen. [fn] Vgl. zum diesbezüglichen Standpunkt Lenins: Michael Löwy, „Die Marxisten und die nationale Frage“, in: Löwy, Internationalismus und Nationalismus, Köln 1999. [/fn]
Lenin wählt eine ambivalente Herangehensweise. Nationalität als Phänomen wird nachhaltig anerkannt, aber relativiert und entfetischisiert: „Der Grundsatz der Nationalität ist in der bürgerlichen Gesellschaft historisch unvermeidlich, und der Marxist rechnet mit dieser Gesellschaft und erkennt die geschichtliche Gesetzmäßigkeit der nationalen Bewegungen durchaus an. Um sie aber nicht in eine Apologie des Nationalismus zu verwandeln, muss sich diese Anerkennung strengstens auf das beschränken, was in diesen Bewegungen fortschrittlich ist, damit sie nicht zur Vernebelung des proletarischen Klassenbewusstseins durch bürgerliche Ideologie führe“, stellt er fest. [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: W. I. Lenin, Werke Bd. 20, Berlin, 1960, 1-37, hier: 19.[/fn] Lenin korrigiert mit marxistischem Instrumentarium das bei Marx und Engels angelegte Unterschätzen der nationalen Frage, ohne sie – ähnlich wie der Austromarxist Otto Bauer – zu verabsolutieren. Seine Prämisse lautete: „Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – jawohl unbedingt. Kampf für jedwede nationale Entwicklung, für die ’nationale Kultur‘ schlechthin – keinesfalls.“ [fn]Vgl.: Ebenda, 19-20.[/fn] Dass er nationale Empfindlichkeiten auch als solche durchaus nicht unberücksichtigt ließ, zeigt sein diesbezüglicher Hinweis auf Friedrich Engels. Der meinte, dass die Grenzen der „großen und lebensfähigen europäischen Nationen“ im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung, die eine ganze Reihe kleiner und lebensunfähiger Nationen aufgesogen hat, immer mehr und mehr durch „Sprache und Sympathien“ der Bevölkerung bestimmt wurden. [fn] Friedrich Engels, Po und Rhein, in: MEW Bd.13, Berlin, 1961, 225-268, hier: 267. [/fn]
Lenin weist nun darauf hin, dass der Imperialismus die von Engels angesprochenen Grenzen immer mehr verschiebt und stellt schließlich in diesem Zusammenhang die rhetorischen Fragen: „Wird nun der siegreiche Sozialismus, der auf der ganzen Linie die vollkommene Demokratie wiederherstellen und zu Ende führen wird, auf die demokratische Bestimmung der Staatsgrenzen verzichten? Wird er mit den ‚Sympathien‘ der Bevölkerung nicht rechnen wollen?“ [fn] Vgl.: Wladimir Iljitsch Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, W. I. Lenin, Werke Bd. 22, Berlin, 1960, 330.[/fn]
Auch heute mutet es durchaus nicht falsch an, nationale Sympathien und Befindlichkeiten – die Vorteile eines Kampfes im nationalen Rahmen überhaupt – zu nützen. Vielversprechender jedenfalls, als die EU mit der Aufhebung der Nationen und der Verwirklichung des Internationalismus zu verwechseln. Es ist dieser EU-“Internationalismus“ nämlich einer, der die real existierende Differenz im Interesse ihrer Erhaltung einfach ignoriert, anstatt sie in einem fortschreitenden Prozess aufzuheben.
Aber nicht nur die nationalen Befindlichkeiten sind Lenin wichtig, vor allem die objektiven Bedingungen von Nation und deren Aufhebung leiten sein Herangehen. Das wiederum ist alles andere als voluntaristisch, weder der sozialistische Staat noch sonst etwas – also etwa die EU – bringen die Nation per Deklaration zum Verschwinden: „Unter dem Kapitalismus kann die nationale (und überhaupt die politische) Unterdrückung nicht beseitigt werden. Dazu ist die Aufhebung der Klassen, d.h. die Einführung des Sozialismus unerläßlich. […] Hat das Proletariat den Kapitalismus in den Sozialismus umgestaltet, so schafft es die Möglichkeit für die völlige Beseitigung der nationalen Unterdrückung; diese Möglichkeit wird ‚nur‘ – ,nur‘! dann zur Wirklichkeit werden, wenn die Demokratie auf allen Gebieten vollständig durchgeführt sein wird – bis zur Festlegung der Staatsgrenzen entsprechend den ‚Sympathien‘ der Bevölkerung, bis zur völligen Freiheit der Lostrennung einschließlich. Auf dieser Basis wird ihrerseits in der Praxis die absolute Beseitigung auch der kleinsten nationalen Reibungen, des geringsten nationalen Mißtrauens erfolgen und damit die beschleunigte Annäherung und Verschmelzung der Nationen […].
Lenin sieht also: Bis zu einer demokratischen Auflösung der Nationen durch Angleichung der Völker im gesellschaftlichen Prozess ist es ein weiter Weg. Bis dahin müssen wir mit der Realität von Nation nach egalitären Prinzipien umgehen. Wichtig ist, die Nation muss im hegelschen Sinne positiv aufgehoben werden und darf als partiell demokratische Ausformung nicht mittels Vergewaltigung durch das Großkapital den Todesstoß erhalten; denn das heißt nur ihre progressiven Aspekte werden beseitigt, während all das Negative großer Ausbeuter-Nationen in Gebilden, wie die EU eines darstellt, aufgeht.
Lenins Methode ist also eine wirklich dialektische, er sieht das Absterben der Nation als Prozess und eben nicht als Folge eines administrativen Postulats. Die Voraussetzung dafür bildet das Verschwinden des Kapitalismus, denn unter dem Primat der Differenz kann es niemals echte Gleichheit geben. Nur die reale, vom Subjekt Mensch gestaltete, Bewegung hin zur Aufhebung der alten Ungleichheit und in Richtung einer egalitären Gesellschaft, befördert ein Verschmelzen der Nationen und damit deren Auflösung. Das wiederum erfordert eine vollständige Demokratisierung aller Bereiche der Gesellschaft. Bis dahin allerdings sieht Lenin die Menschen als Akteure, die nicht nur in einem sozialen, sondern auch in einem nationalen Rahmengefüge handeln und er richtet seine revolutionäre Praxis genau danach aus.
Nach der Oktoberrevolution führte Lenin seine Korrektur an den „Klassikern“ – den Anforderungen der Praxis gemäß – noch konsequenter durch. Das Selbstbestimmungsrecht der Polen zu Gunsten des höheren Prinzips des Sozialismus zu opfern, lehnt er ab. Das polnische Volk von letzterem zu überzeugen, sei schließlich Aufgabe der polnischen und nicht der russischen Kommunisten, die ja der Unterdrücker-Nation angehören. Demgegenüber hatte Lenin vor dem Krieg für die polnischen Gebiete noch ein reines Autonomieprinzip vertreten. [fn] Vgl.: Ebenda, 36-37.[/fn] Er geriet ob dieser späteren, entschlossenen Haltung mit Rosa Luxemburg in Streit, die den polnischen bürgerlichen Chauvinismus ja gerne mit Gewehren gebrochen hätte. Diese Verschärfung des ursprünglichen Standpunkts ist wohl den Erfahrungen der Revolution geschuldet. Das russische Beispiel lehrte, dass radikaler Wandel nur im Einklang mit den nationalen Bewegungen möglich ist.
Charakteristisch für Lenin ist die enge Verschmelzung von nationaler Souveränität und Demokratiefrage. Er stellte fest: „Der bürgerlichen Demokratie ist ihrem ganzen Wesen nach eine abstrakte oder formale Fragestellung hinsichtlich der Gleichheit überhaupt, darunter auch der nationalen Gleichheit eigen.“ [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und zur kolonialen Frage, in: Lenin Werke Bd 31, Berlin, 1960, S. 133. [/fn] Das ist brandaktuell und trifft ganz auf die Europäische Union zu, die permanent eine Imagination von interner Gleichheit erzeugt: Einen Schein von Gleichheit zwischen Deutschland und Griechenland bzw. zwischen Deutschland und Portugal oder Rumänien auf der einen Ebene, zwischen Kapital und den Menschen auf der anderen. Sprich: Die EU als ein alle Europäer und ihre Staaten vereinheitlichendes Projekt als Muster für formale Gleichheit. Das erfolgt ganz nach dem bewährten Schema der ehemals mächtigen imperialistischen Unterdrücker-Nationen Europas, die – zumindest nach innen – gerne vorgegaukelt haben, dass alle in dem einen großen nationalen Boot sitzen.
Die Gleichheit, welche die EU zu bieten hat, gibt es aber – wenn überhaupt – nur, wie Lenin schon betonte, auf formal-abstraktem bzw. rechtlich-theoretischem Felde. Doch Gleichheit macht nur wirklichen Sinn, wenn sie eine reale oder materielle ist, wenn also die Differenz zwischen arm und reich, zwischen kolonialisierender und kolonialisierter Nation aufgehoben wird. Die EU steht nun für das genaue Gegenteil: Ihre formale Gleichheit ist die Voraussetzung für reale Ungleichheit. Sie stellt demnach eine Super-Nation dar, die den Imperialismus der einzelnen europäischen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts nur auf eine neue qualitative Ebene hebt.
Die Europäische Union verkörpert daher nicht die Aufhebung der Nation, sondern vielmehr deren funktionelle Optimierung im Interesse des europäischen, vornehmlich deutschen Kapitals. Auch an dieser Stelle erweist es sich als notwendig, ganz im Sinne Lenins, die nationale Frage mit der sozialen zu verknüpfen. So ist der Sozial- und Lohnabbau in Deutschland Voraussetzung bzw. auch Konsequenz des sogenannten Exportwunders. Das im supranationalen Rahmen national organisierte Kapital Deutschlands schafft im national-deutschen Rahmen also die Bedingungen für die Profitmaximierung auf supranationaler Ebene. Die dem modernen Kapitalismus innewohnende Affinität zu Entgrenzung und Maximierung offenbart hier ihre negativsten Seiten.
Zu Lenins Zeiten hatte ein vom Kapitalismus ausgehender Trend zur Vereinigung, zur Assimilierung, noch positive Aspekte, die dieser auch würdigte. Prinzipiell stellt er fest: „Der Kapitalismus kennt in seiner Entwicklung zwei historische Tendenzen in der nationalen Frage. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Herausbildung von Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißung der nationalen Schranken, Herausbildung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw.“ [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: W. I. Lenin, Werke Bd. 20, Berlin, 1960, 1-37, hier: 12.[/fn] Um danach zu ergänzen: „Wer nicht in nationalistischen Vorurteilen versumpft ist, kann nicht umhin, in diesem, durch den Kapitalismus bewirkten Assimilationsprozeß der Nationen einen gewaltigen geschichtlichen Fortschritt, die Beseitigung der nationalen Verknöcherung der verschiedensten Krähwinkel zu sehen, die es namentlich in rückständigen Ländern wie Rußland gibt.“ [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: W. I. Lenin, Werke Bd. 20, Berlin, 1960, 1-37, hier: 14.[/fn]
Heute gibt es diese vereinheitlichenden Tendenzen im Zuge der Globalisierung nur noch partiell und ihr Charakter ist durchaus widersprüchlich. Der Grundzug der Epoche besteht vielmehr in einer absoluten Differenzierung. Vor allem ein Gegensatz nimmt weltweit immer beunruhigendere Dimensionen an: Jener von arm und reich. Der neokoloniale Monopolkapitalismus schafft Zonen, in denen ein menschliches Überleben de facto unmöglich geworden ist. Nicht zuletzt provoziert diese Ungleichheit eine enorme Wanderungsbewegung. Wenn diese aber einen Aspekt der Angleichung hat, dann den einer Nivellierung nach unten im sozialen Bereich.
Der Kapitalismus erzeugt damit nicht den beweglichen Proletarier, dessen Lebensbedingungen die spezifisch nationale Beschränktheit sprengen. Ihn hatte Lenin noch im Zuge einer Angleichung innerhalb des russischen Reichs vor Augen, als er von der Fortschrittlichkeit des nationalen Vermahlens in Amerika sprach. [fn] Vgl.: Ebenda, 16.[/fn] Erzeugt wird dadurch vielmehr ein neues, rechtloses Subproletariat, das eher an den mittels ständige Alimentierung degenerierten römischen Plebs erinnert, als an ein selbstbewusstes Volk von Werktätigen. Das heißt: Die Vereinheitlichung im positiven Sinne umfasst im Wesentlichen die Kapitalien, weniger die Produktionsbedingungen und kaum die Lebensverhältnisse der Menschen. Aber nur wenn letztere einbezogen werden, ist Angleichung von wirklichem Wert für die Völker.
Trotz dieser widrigen Entwicklungen könnten EU-Befürworter folgende Worte Lenins als Bestätigung ihrer Haltung interpretieren: „Aber solange und soweit verschiedene Nationen einen Einheitsstaat bilden, werden die Marxisten unter keinen Umständen das föderative Prinzip oder die Dezentralisation propagieren. Ein zentralisierter Großstaat ist ein gewaltiger historischer Schritt vorwärts auf dem Wege von der mittelalterlichen Zersplitterung zur künftigen sozialistischen Einheit der ganzen Welt, und einen anderen Weg zum Sozialismus als über einen solchen (mit dem Kapitalismus unlösbar verknüpften) Staat gibt es nicht und kann es nicht geben.“ [fn] Ebenda, 31.[/fn] Soweit Lenins theoretische Reflexion. Seine praktische, politische Methode ist variabler gestaltet: „Bei Anerkennung der Gleichberechtigung und des gleichen Rechts auf einen Nationalstaat schätzt und stellt es (das Proletariat, M. W.) die Vereinigung der Proletarier aller Nationen über alles andere, wobei es jede nationale Forderung, jede nationale Lostrennung unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfes der Arbeiter wertet.“ [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: W. I. Lenin. Werke, Berlin, 1961, Bd. 20, 414.[/fn] Die Achtung des hier fixierten Selbstbestimmungsrechtes ermöglicht ein Zusammengehen mit den progressiven nationalen Bewegungen unter Ausnutzung der dort vorhandenen vorwärts weisenden Triebkräfte. Und noch wichtiger: das Richtmaß für alle diesbezüglichen Bestrebungen sind die Interessen des werktätigen Volkes. Wenn man beides zusammen denkt, ergibt sich daraus: Lenin war vor allem und mehr als alles andere die Selbstbestimmung des Proletariats innerhalb der Nation wichtig – und dafür musste nach dem bestmöglichen Rahmen gesucht werden.
Das führt uns wieder zur EU und zur Begründung, warum sich deren Befürworter nur unzulässig auf Lenin berufen dürfen, denn Tatsache bleibt: Auch innerhalb der Europäischen Union kann keineswegs von einer Angleichung der Verhältnisse gesprochen werden. Zu augenfällig sind die Unterschiede, die Griechenland oder Portugal – zum Beispiel – von Deutschland trennen. Regionen, in denen Handel und Gewerbe maximale Profite erwirtschaften, stehen immer ausgedehnteren Industriewüsten gegenüber. Das kann nicht im Interesse der arbeitenden Menschen in den marginalisierten Ländern sein.
Hinzu kommt, dass diese Differenzen welt- und europaweit zunehmend größer und nicht kleiner werden. Lenin spricht in diesem Zusammenhang vom „bürgerlich-demokratischen Lug und Trug, vermittels dessen man die der Epoche des Finanzkapitals und des Imperialismus eigene koloniale und finanzielle Versklavung der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs durch eine verschwindende Minderheit der reichsten fortgeschrittenen kapitalistischen Länder zu vertuschen sucht“. [fn] Wladimir Iljitsch Lenin, Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage, in: Lenin, Werke, Bd.31, 132-139, hier: 133. [/fn] Von dieser Art der Täuschung ist auch das Bemühen, die Europäische Union als im Interesse der Menschen stehend darzustellen.
Die Zerschlagung von nationalen Strukturen als – ihrer Potenz nach – natürliche und demokratische Bastionen gegen solche Entwicklungen, schlägt da bitter zu Buche. Hinzu kommt, dass die EU auch als Werkzeug für Sozialabbau und Kaufkraftverlust in den ökonomisch starken Regionen und Staaten dient – also dort auch wider die Interessen der Menschen wirkt. Das kann nur im Interesse von Siemens, Bayer oder Deutscher Bank liegen – und nicht in dem, von Lenin an die zentrale Position gerückten, proletarischen. Ein wichtiger Ansatz fortschrittlicher Politik wäre daher, ganz im Sinne Lenins, an dem demokratisch-fortschrittlichen Potential des Widerstands anzuknüpfen und die Nation als wirkliches Politikfeld der kapitalistischen Supernationen EU entgegen zu setzen. Es handelt sich also um einen Fall, indem – wie Lenin einmal ausführte – „die Interessen der kapitalistischen Entwicklung und der Freiheit des Klassenkampfes gerade durch diejenigen vertreten (werden, M. W.), die sich lostrennen.“ [fn] Ebenda, 427.[/fn]
Das sind die konkreten Verhältnisse, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben – und für Lenin waren die wirklichen Umstände immer der Maßstab, an dem er sein Herangehen ausrichtete. Darin liegt das Wesen seiner Methode. Er hielt nie dogmatisch an irgendwelchen unverrückbaren Wahrheiten fest, sondern betrachtete die Dinge stets aus einer historisierenden Perspektive. Sein Handwerkszeug war eben der historischer Materialismus. Und zwar nicht als leere Worthülse, wie im späteren östlichen Vulgärmarxismus üblich, sondern als praktisches Instrument. Den daraus resultierenden scharfen Blick behielte er wohl bei einer Beurteilung der heutigen Kampfsituation in Europa ungebrochen bei.