Mit dem Verbot des Gesichtsschleiers (in den meisten Fällen der Niqab von der arabischen Halbinsel) wurden gleich mehrere Schranken überschritten.
Die Gesichtsverschleierung wird bei uns nur von einer winzigen Minderheit der muslimischen Frauen praktiziert. Sie behördlich zu unterbinden, hebt ihre symbolische Bedeutung unermesslich an. Sie wird so in der öffentlichen Wahrnehmung dem Islam als Ganzem zugeschrieben und zwingt die Muslime Stellung zu beziehen. Wir wissen von vielen Beispielen, dass Fremdzuschreibungen im Gegenzug oft in Selbstverteidigung in die Eigendefinition übernommen werden. Wenn es also um Integration ginge, so würde die Maßnahme mit Sicherheit nach hinten losgehen.
Der Gesichtsschleier ist ein Nicht-Problem, das von der Regierung zu einem Problem gemacht wird. Das Verbot suggeriert, dass von Niqab/Burka Gefahr für die Öffentlichkeit ausginge. Tatsächlich geht es um brachiale Identitätsstiftung und Feindbildkonstruktion. Nehmen wir das Beispiel der Homosexualität noch vor einigen Jahrzehnten. Diese wurde ebenfalls als Gefahr für die öffentliche Ordnung bezeichnet. Die konservative Moral (vulgo Prüderie), forderte Ächtung, Verfolgung und Verbot. Heute ist es umgekehrt. Die Mainstream-Identität ist jene der sexuellen Selbstbestimmung. Da ist die durch Verhüllung manifestierte Prüderie Stein des Anstoßes. Bisher wurde sie geächtet, nun wird sie verboten und ihre Trägerinnen sogar verfolgt. Das Gegenteil des finsteren Mittelalters?
Gerne wird das paternalistische Argument verwendet, dass man die unterdrückten Frauen befreien wolle. Doch die Vollverschleierung ist ein weitgehend neues, identitäres Phänomen, ein Symbol der Ablehnung der herrschenden Weltordnung. Mag sein, dass einige Frauen bei uns zum Tragen gezwungen werden. Doch viele tut das freiwillig und bewusst. Es ist ein Kulturkampf, in den sich unsere Regierung einlässt. Da ist sie um nichts besser als jene von islamischer Seite, die ihrerseits die ungerechten Machtverhältnisse mit einem identitär-kulturellen Konflikt verdecken oder gar stablisieren.
Das Allerschlimmste ist aber, dass ein elementares Prinzip der Demokratie, die Meinungs- und Religionsfreiheit, eingeschränkt wurde. Die Substanz der demokratischen Bewegung war, dass es nicht dem Staat obliege, welche Meinung oder Religion die Untertanen zu praktizieren hätten. Meinungsfreiheit war ein Recht, das gegenüber dem Staat durchzusetzen war oder ist. Dieser nimmt jede Gelegenheit wahr, den Überwachungsapparat auszubauen und Meinung zu regulieren und zu beschränken. Jedes kleine Loch kann zu einem Dammbruch führen, zumal wir uns in einer Situation befinden, wo sich die herrschenden Eliten zunehmend vom Volk entfernen.
Bisher hatte sich vor allem die FPÖ als chauvinistische Einpeitscherin gegen die Muslime betätigt – gefährlich genug. Doch das Burkaverbot wurde von Rot-Schwarz beschlossen. Kurz führte einen antimuslimischen identitären Wahlkampf im Stile der FPÖ. Und nun hat sich auch Peter Pilz auf dieses Feld begeben und stilisiert den politischen Islam zur großen Bedrohung. Es gibt eine Querfront des parlamentarischen Spektrums von rechts nach links gegen Muslime und Musliminnen.
Das Verschleierungsverbot macht den Muslimen symbolisch klar: Integration heißt Unterordnung, Unterwerfung. Es gibt keinen Platz für sie. Demokratie bedeutet aber das Gegenteil, nämlich, dass für das Andere ebenfalls Platz ist, dass man Toleranz walten lässt. „Deradikalisierung“ per Zwang führt zum Gegenteil, zur Radikalisierung.
In der Wiener U-Bahn forderten Passanten mit dem neuen Gesetz eine Frau auf, die Gesichtsverschleierung abzunehmen. Glaubensgenossen eilten ihr zu Hilfe. In der durch Politik und Medien aufgeheizten Stimmung dient das Gesetz als Freibrief zur Selbstjustiz. Es ist ein Rezept, latente soziokulturelle Konflikte anzuheizen, die unter bestimmten Bedingungen (wie in den französischen Vorstädten) zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen können. Das ist also Kurz’ Integrationspolitik. Es ist ein ausgezeichnetes Beispiel für institutionellen Rassismus, der Öl ins Feuer des Kulturkampfes gießt. Auch die Lynchjustiz an den Schwarzen im US-amerikanischen Süden wäre ohne ein System des institutionellen Rassismus nicht möglich gewesen. Das Ausmaß ist nicht vergleichbar, der methodische Kern schon.
Wurzel (globale) Ungerechtigkeit ausreißen
Außer der FPÖ und Kurz bevorzugen die meisten Elitenpolitiker, nicht von Muslimen als solchen zu sprechen: Sie nehmen spezifischer den politischen Islam ins Visier, denn die FP-Fantasien von der „Islamisierung“ erinnern gar zu sehr an die „Verjudung“. Damit will man sich vom Vorwurf des Kulturchauvinismus und Rassismus freisprechen.
Der politische Islam ist ein unscharfer Begriff. Nur an den Rändern bedeutet er bewaffneten Kampf. Und lediglich eine kleine Gruppe dieser Jihadisten ruft zum Terror gegenüber Zivilisten im Westen auf.
Wesentlich ist, dass sich der Islam gegen den Kolonialismus und die westliche Vorherrschaft politisiert hat. Und da geht es nicht nur um die Vergangenheit, sondern da geht es bis heute um Fremdherrschaft und Unterdrückung.
Symbol dessen ist Israel, der letzte große westliche Kolonialismus, der in infamer Weise den in Deutschland begangenen Holocaust zur Vertreibung der Palästinenser missbraucht. Aber nicht zu vergessen sind die Millionen Toten als Folge von Embargo, Krieg und Besatzung gegen Irak, Afghanistan, Libyen usw. Der Westen verhindert seit mehr als einem Jahrhundert die Selbstbestimmung und Entwicklung unserer unmittelbaren Nachbarregion im Süden. Dazu unterstützt er Regime wie Saudi-Arabien, die sich ihrerseits einer extremen Auslegung des Islams bedienen, um ihre und damit auch westliche Interessen durchzusetzen.
Nachdem die linksnationalen Befreiungsversuche und vor allem Regime besiegt oder gescheitert waren, hat der politische Islam einen Teil des Protests von wichtigen Teilen der Bevölkerung auf seine Art und Weise zum Ausdruck gebracht. In Europa wiederum hat die soziale Konterreform eine marginalisierte Unterschicht ohne Lebenschancen geschaffen, die oft muslimisch ist.
Die Melange dieser zwei Phänomene führt zu einer islamischen Mobilisierung und Radikalisierung, gegen die der beschriebene identitäre Mechanismus durch die Eliten in Stellung gebracht wird, und den Konflikt noch weiter befeuert.
Dieser Kulturkampf kann keinen fortschrittlichen Ausgang haben. Wir müssen ihn unterbrechen, ihn stoppen:
• Schluss mit Imperialismus und Kolonialismus in Nahost. Mit dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Ende des neoliberalen Freihandelsregimes Entwicklungsmöglichkeiten freigeben.
• Schluss mit der Verarmungspolitik. Schließen der sozialen Schere. Den Unterschichten Lebenschancen zurückgeben.
• Die grundlegenden demokratischen Freiheiten verteidigen und wiederherstellen.
Darum fordern wir die sofortige Aufhebung des Vollschleier-Verbots!
* Paula Abrams-Hourani, Frauen in Schwarz Wien
* Alfred Almeder, sozialdemokratischer Gewerkschafter
* Iris Friedrich, AHS-Lehrerin
* Leo Gabriel, Anthropologe und Mitglied des Rats des Weltsozialforums
* Doris Höflmayer, Ärztin
* Wilhelm Langthaler, Autor und Aktivist
* Richard Lederer, Linkswende Jetzt
* Elisabeth Lindner, pensionierte AHS-Lehrerin
* Brigitte Neubacher, ehem. UN-Bedienstete in Afghanistan
* Marcus Scholz, Dar al Janub
* Peter Unterweger, ehem. Leiter der Automobilabteilung des Internationalen Metallgewerkschaftsbundes (IMB)
* Paul Winter, Verlagsmitarbeiter
* Helga Suleiman, Palästina-Solidarität Steiermark
* Michael Pröbsting, Buchautor und Herausgeber von www.thecommunists.net
* Udo K. Bauer
* Elias Davidsson, Komponist und Autor
Wer als Mitunterzeichner_in aufgeführt werden will, bitten wir, an aik@antiimperialista.org zu schreiben.