Beim Symposion zu Hundert Jahre Roter Oktober der Steirischen KP erzählte ein deutscher Genosse: Er habe bei der KP in Wien nach den Aufsätzen von Alfred Klahr gefragt. Die Sammlung war 1978 erschienen. Verlegen habe man ihm erklärt: Eine Neuauflage sei nicht geplant, denn sie passe heute nicht in die Welt der KPÖ. Ja, die Bundes- und die Wiener KPÖ… Aber da gäbe es auch noch die Alfred Klahr-Gesellschaft.
Doch in der letzten Nummer der „Mitteilungen der Alfred Klahr-Gesellschaft“ finden wir da einen Beitrag von Winfried Garscha. Dieser Verein trägt den Namen jenes Theoretikers aus der KPÖ, welcher 1938 in einer Serie von luciden Artikeln analytisch die nationale Eigenstän¬digkeit Österreichs begründet hatte, gegen den wilden Widerstand insbesondere der damals illegalen SPÖ. Die Gesellschaft wurde von der KPÖ 1993 in einer Situation gegründet, als die Existenz der KPÖ nicht mehr völlig gesi¬chert schien, denn gerade die Spitze der Partei selbst neigte zur Selbstauflösung. Aber eine Reihe von Genossen hatte den Kampf noch nicht aufgegeben. Noch war die Partei auch EG-/EU-kritisch und erkannte im sich andeutenden EG-Anschluss die bedingungslose Unterwer¬fung unter die neueste Form des (Super- und Supra-) Imperialismus und seine soziale und ökonomische Roll back-Politik. Der Vorsitzende Walter Baier liquidierte diese Position in der Bundes-KPÖ.
Garscha schreibt über Felix Kreissler, der ein sehr umfangreiches und sehr lesenswertes Buch über die Geschichte dieser Entwicklung geschrieben hat. Und dort lesen wir: Felix Kreissler hat die Situation Österreichs nach 1980 überhaupt nicht mehr verstanden. Anstelle die „gesell¬schaftliche Wirklichkeit“ der neoliberalen Konterrevolution hinzunehmen, den sich abzeich¬nenden EU-Anschluss zu befürworten und die österreichische nationale Eigenständigkeit zu bekämpfen, schrieb er da ein Buch, das diese Eigenständigkeit zum Kern seines Engagements machte. So in etwa, leicht akzentuiert, zu lesen in Garschas Aufsatz für Austriaca, begründet eben von Felix Kreissler, zum 100. Geburtstag von Felix Kreissler, nun wiederholt in der Alfred Klahr Gesellschaft.
Das wäre soweit heute noch keine Polemik wert. Man darf und soll Kritik an jeder Autorität üben, auch wenn es seltsam anmutet, dies ausgerechnet in einer Zeitschrift zu tun, welche der Angegriffene für das völlig gegenteilige Ziel gegründet hatte.
Aber noch gab und gibt es Widerstand. Die einzig erfolgreiche Landespartei, die steirische KPÖ, geht noch immer nicht mit in dieser Fundamental-Revision. Auch die Alfred Klahr-Gesellschaft war bisher nicht völlig auf Linie.
Nun ist es offenbar so weit.
Garscha handelt sein Anliegen an einer besonders kennzeichnenden Episode ab. Er weiß of-fenbar sehr gut, was er da tut. Alois Oberhummer kam aus dem deutschnationalen Eck, bevor er bei den Sozialdemokraten andockte. In der Ersten Republik wurde er als „besonders gehäs¬sig“ in den parteilichen Auseinandersetzungen beschrieben (Schausberger 2017). Dieser Oberhummer publizierte 1946 eine wilde Polemik im SP-Blatt, wo er sich in ausgesprochenen Nazi-Phrasen gegen den „Austritt aus der deutschen Nation“ wandte. Garscha nimmt ihn in Schutz. Er habe ein ehrenwertes Anliegen gehabt. Und das war? Er habe die (Mit-) Verant¬wortung „Österreichs“ für die Nazi-Verbrechen thematisieren wollen. Dafür habe „Öster¬reich“ noch 40 Jahre gebraucht.
Damit sind wir beim Thema der späten 1980er Jahre.
Nun kann man offenbar von einem älteren Historiker nicht verlangen, dass er den feinen Unterschied zwischen einer Institution („Österreich“) und den individuellen Menschen („Österreichern“ oder halt solche, die in Österreich geboren sind) erkennt und begreift. Dieses intellektuelle Unvermögen hatte damals in den 1980ern und hat auch heute noch seinen präzi¬sen politischen Sinn. Es sollte die nationale Eigenständigkeit der Republik, die auf politischer Ebene tatsächlich und ausgesprochen als ein „Austritt“ dieses Landes aus der deutschen Nation inszeniert wurde, diskreditieren. Oberhummer stand damit übrigens dort, wo auch der Erz-Opportunist und Nazi-Fürsprecher (1938!) Karl Renner stand, der 1946 allerdings mit seinem ausgerprägten taktischen Gefühl eben davon abzurücken begann. Und er stand dort, wo auch Friedrich Adler, der angebliche Widerpart von Karl Renner („Intimfeind“ – Ardelt 1984, 7), der sich links gerierte, stand.
Dieser Punkt ist es wert, ihn kurz auszuführen.
Die Mehrzahl der österreichischen Intellektuellen stand noch Ende der 1950er auf deutsch-nationalen Positionen. Auch die Affaire Borodajkewycz 1965 mit Ernst Kirchweger als Opfer war nur durch diese Tradition möglich. Dann verstummten diese Stimmen in ihrer eindeutigen Klarheit, aber nicht in ihrer Grundlage und in ihren Absichten. Vergessen wir dabei nicht: Die Abhängigkeit vom „deutschen Kulturraum“ ist für Intellektuelle auch ökonomisch groß. Wenn man mit einer Veröffentlichung gehört werden wollte, musste man zu einem Verlag in die BRD gehen. Nun, in den 1980ern, kam dies auf eine neue Art wieder hoch. Die alte Otto Bauer’sche Haltung wurde politisch-korrekte Pflicht: Alles, was dunkel war, ist österreichisch. Die Deutschen verkörpern die Aufklärung und den Fortschritt.
Auf ihre Weise nutzten dies die Konservativen und Neoliberalen, denen die zahme sozial-demokratische Politik inzwischen lästig war und zu teuer kam. Sie setzten sich den EG-Beitritt als Ziel. Die Vranitzky-SPÖ liquidierte die Kreisky-Zeit und legitimierte auf diese Tour die neokonservative Politik.
Felix Kreissler (1980) hatte sich auf die intellektuellen Grundlagen und die nationale Orien-tierung insbesondere der Historiker als mentale Basis für das Scheitern der Ersten österreichischen Republik konzentriert. Und nun passte „das Buch nicht mehr in die gesellschaftliche Wirklichkeit“ der späten 1980er, wie Garscha so unnachahmlich schreibt, hatte „Patina angesetzt“. Denn nun „taten sich ganz andere Frontlinien auf“. Wie recht und gleichzeitig wie unrecht er doch hat! Die Nation mit ihrem emanzipatorischen Potenzial musste unterdrückt werden. Die Bürokratie in Brüssel, Luxemburg und Frankfurt konnte eine eigenständige Politik in Wien, Rom oder Athen ganz und gar nicht brauchen.
Und nicht allein Garscha verwechselt die übernationale Bürokratie mit dem proletarischen Internationalismus. Bei denen aus der Tradition der alten Linken ist dies wahrscheinlich wirklich intellektuelle Unfähigkeit und Naivität. Der (neo-) liberale Hauptstrom aber weiß diese Naivität, die oft zum antinationalen, insbesondere auch anti-österreichischen Janitscharentum wird, wohl zu schätzen.
Dass nun die Alfred Klahr-Gesellschaft – Garscha ist dort Mitglied und scheint durchaus einen gewissen Einfluss zu haben – auf diese Linie einsteigt, ist ein weiteres Zeichen der konsequenten Sozialdemokratisierung der Bundes-KPÖ. In der BRD würde man sagen: Sie ist schon in Bad Godesberg angelangt; in Österreich heißt es wohl besser: sie steht vor Eisenstadt – dort hat Kreisky seine antikommunistische Erklärung 1969 abgegeben.
Verstehen wir uns recht: Wir müssen mit allen Menschen, die sich persönlich als emanzipatorisch oder gar „links“ definieren auseinandersetzen, diskutieren, sprechen. Aber wir müssen uns auch klar sein: Offensichtlich ist die Hegemonie des Zentrums derart stark, derart überwältigend, dass wir immer noch fast am Anfang stehen.
24. August 2017
Ardelt, Rudolf G. (1984), Friedrich Adler. Probleme einer Persönlichkeitsentwicklung um die Jahrhundertwende. Wien: Bundesverlag.
Klahr, Alfred (1978 [1937]), Die Österreicher – eine Nation. – Gegen die These ‚Österreich als zweiter deutscher Staat‘. – Der Marxismus und das Wesen der Nation. – Gegen die ‚gesamtdeutsch‘ Geschichtsfälschung. In: Die KPÖ im Kampf für Unabhängigkeit, Demokratie und sozialistische Perspektive. Sammelband. Wien: Globus, 42 – 66.
Kreissler, Felix (1980), La prise de conscience de la nation Autrichienne. Paris: PUF.
Schausberger, Franz (2017), Kontinuität und Konsens. Die Landtagswahlen in Oberösterreich in der Ersten Republik. In: Dachs, Herbert / Dippelreiter, Michael / Schausberger, Franz, Hg., Radikale Phrase, Wahlbündnisse und Kontinuitäten. Landtagswahlkämpfe in Österreichs Bundesländern 1919 – 1932. Wien: Böhlau, 183 – 312.