„Sozialismus“ ist der Zentralbegriff für alle politisch Engagierten auf der Linken. Und doch sind wir uns nicht darüber einig, was das eigentlich sei – Sozialismus. Seit eineinhalb Jahr-hunderten, seit die sozialistische und die Arbeiter-Bewegung erst recht eigentlich entstanden, ist das die entscheidende Frage. Die zwei Pole des Versuchs, das zu definieren, können wir als eine sehr diffuse Festlegung auf einige Ziele auf der einen Seite sehen, auf ein ziemlich strikt ausgebautes Modell von politischer Herrschaft und von sozialen Strukturen auf der anderen Seite.
Ich will mich hier vor allem mit der zweiten Annäherung auseinandersetzen. Seit Kautsky seine Schrift „Die soziale Revolution“ schrieb, vor allem aber nach der Oktober-Revolution und dem Aufbau der Sowjetunion haben wir uns damit zu beschäftigen. Ich möchte dieses detaillierte Modell-Denken einen politischen Nominalismus taufen. Ich sehe es in vielerlei Hinsicht als das Gegenteil der theoretisch-politischen Dialektik. Die Geschichte und die politische Entwicklung werden in festgefügte konzeptuelle Blöcke gefasst, die kaum veränderlich sind. Sie werden in essentialistischer, in substantivierender Weise festgelegt. Was, wie mir scheint, fehlt ist die Einsicht: Zuerst einmal sind solche Begriffe Produkte des menschlichen Verstandes. Erst dann muss man sehen, ob sie fruchtbar sind, angewendet werden können und in der Realität ihre Brauchbarkeit für Analyse und Strategie gegeben ist.
Insbesondere wird eine Charakteristik immer wieder in den Vordergrund gestellt. Die politi-sche und soziale Organisation der Gesellschaft, die Produktionsverhältnisse, können die Weiter-Entwicklung der Gesellschaft be- oder sogar verhindern. Das geschieht, wenn die Herrschenden versuchen, sie ein- für alle Male festzuschreiben. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln, so meinte Marx, behindert in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht nur die umfassende Entfaltung der Menschen, sondern auch die technische Produktivität. Diese nicht unriskante Behauptung wurde verkürzt und versimpelt, als die revolutionäre Theorie zur Ideologie der neuen herrschenden Schicht im sowjetischen Machtbereich wurde. Die Aussage wurde fetischisiert: Es ging nur mehr um höhere Wachstumsraten. Und umgekehrt wurden hohe Wachstumsraten per se zum alleinigen Zeichen des Sozialismus stilisiert. Die Stalin’sche Sowjetunion wurde zum historischen Erfolgs-Modell erklärt, weil es ihr unter schrecklichen „Kosten“ für die Bevölkerung gelang, in einer Generation den Übergang von der traditionalen Agrar-Gesellschaft zur Industrie-Gesellschaft zu machen. Und diese technokratische Fetischisierung finden wir nun wieder bei den Bewunderern des neuen, vor allem des post-maoistischen China.
Festhalten möchte ich also von vorneherein: So wichtig ich die Entwicklung der globalen Peripherie halte – allein Wachstumsraten zum Kriterien des Fortschritts der Geschichte zu machen, ist Pinochetismus, nicht Sozialismus, heißt Lee Kuan Yew, den faschistoid-autoritären Präsidenten von Singapore, zum Sozialisten zu machen.
Modernisierung – Nation – Imperium – Sozialismus?
In den 1950er kam vor allem in den USA eine Theorie-Strömung auf, die im Anschluss an Max Weber und seine Überlegungen zur Rationalität den Begriff Modernisierung prägte. Die Grundidee dabei war: Es gibt eine menschheitsgeschichtliche Tendenz zur höheren Effizienz in der Produktion und überhaupt im Verhalten. Wir können das als abstrahierte Entlehnung aus der Marx’schen Theorie betrachten. Aus der Modernisierungs-Theorie wurde im weltweit schnell eine Konvergenz-These: Die damals beiden antagonistischen oder vielleicht auch nur konkurrierenden Systeme würden „Entwicklung“ in vergleichbarer Weise durchziehen. Theoretiker aus dem sowjetischen Bereich reagierten ziemlich wütend auf die Konvergenz-These. Das war wenig verwunderlich: Sie sahen damit zu Recht die sozialistische Legitimität ihres Systems in Frage gestellt. Nun finden wir eine neue Form der Konvergenz-These bei jenen, welche China etc. als Muster der Entwicklung darstellen. Die Modernisierungs- und dann die Konvergenz-Theoretiker waren immerhin so aufrichtig und so vorurteilslos, dass sie zum Einen nach vergleichbaren Strukturen Ausschau hielten; dass sie zum Anderen die Frage der umfassenden Organisation von Gesellschaft und damit auch die Frage der Gerechtigkeit nicht stellten und damit auch nicht beantworten mussten.
Ihren politisch prominentesten Sprecher fanden diese Theoretiker in Deng Hsiaoping. „Egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist, Hauptsache ist, sie fängt Mäuse“ (im Original soll es angeblich lauten: Weiße Katze, schwarze Katze – Hauptsache sie frisst Mäuse). Das ist politische Konvergenz-Theorie in Reinkultur. Das ist aber noch die pragmatische Fassung. Mittlerweile sind wir, nach mehreren Generationen Nachfolger Dengs, bei einer Ideologisierung dieser Haltung angelangt. Der Pragmatismus wird zur „sozialistischen Theorie“, zur „Lehre“.
Was für solche Modernisierungs- und Konvergenz-Theoretiker „die Moderne“ war, ist für unsere Neostalinisten heute die „nationale Entwicklung“ und „der Sozialismus“. Das Wort, denn von Ideologie kann man schon nicht mehr sprechen, hinter dem schon längst nicht mehr die sozialistische Inspiration von einigen Begründern des Regimes und die Frage der Gerechtigkeit steht, wird ernst genommen. Alles wird den Wachstumsraten, dem „Sozialismus“, untergeordnet und dem „Fortschritt der Nation“.
Dass man aber nicht nur nach dem Sozialismus zu fragen hat, sondern auch der Begriff der Nation für China höchst zweifelhaft ist, wird nicht einmal in Andeutungen gesehen. Damit stellen sich aber auch die Probleme der nationalen Entwicklung neu. Nur ein paar Hinweise.
Wie soll man einen sinnvollen Begriff von Nation auf ein politisches Gebilde anwenden, welches bald 1,4 Mrd. Menschen in seinen Grenzen hat? Allein diese Zahl spricht schon da-gegen. Wenn wir einen seriösen Begriff von Nation bilden wollen, bezeichnet die eine staatlich organisierte Gesellschaft mittlerer Reichweite, nicht eine globale Struktur. Ich weiß, dass diese Überlegungen auch bei Nationen-Theoretikern Widerstand hervorrufen werden. Doch wenn der Begriff Nation irgendeinen strategischen Sinn haben soll und wir nicht auf die nationale Identität als zentralen Bestandteil dieser politischen Strategie vergessen, dann muss man sich mit dem Gedanken anfreunden: Nation hat eine obere Grenze, eine Schwelle, die sie nicht überschreiten kann. Ansonsten werden Staat und Gesellschaft zu etwas Anderem. Dieses Andere ist eine bestimmte Form des Imperiums. Das aber ist eine postnationale und postdemokratische Angelegenheit – wie es, in archaischer Form, auch schon eine vornationale und vordemokratische war.
Das hängt mit einem anderen Theorie-Komplex zusammen: Wir fragen nach Periodisierungen im Zeitablauf („Feudalismus“, „Kapitalismus“, …), und das war durchaus ein Ausgangspunkt einer marxistischen Theorie der Geschichte, des historischen Materialismus. Dann müssen wir natürlich auch fragen, wie wir bestimmte Gesellschaften einordnen. Denn die Klassifizierung ist nicht eine lineare Frage – übrigens ein altes theoretisches Problem des Sozialismus. Es besteht dann kein Grund mehr, jeden gegenwärtig existierenden Staat als „Nation“ zu bezeichnen. Allein dadurch wird die „nationale Entwicklung“ dann u. U. zur Entwicklung im Interesse von neuen Klassen.
Der Reisebericht eines „Philosophen“ nach China
Der Anlass dieses Debatten-Beitrags ist eine Auseinandersetzung, provoziert von einer meinerseits eher heftigen Stellungnahme zu einem „Reisebericht“ des Domenico Losurdo nach China. Er wird darin zum Apologeten einer Entwicklung, welche ich für verhängnisvoll für Gegenwart und Zukunft betrachtet, wenn man sie so auffasst wie eben Losurdo. Ich werde einige Punkte hervorheben. Entscheidend insgesamt ist, dass hier eine Entwicklungs-Diktatur mit menschenverachtendem Charakter als „Sozialismus“ vorgestellt wird, weil sie gegenwärtig hohe wirtschaftliche Wachstumsraten aufweist. Das verknüpft sich mit einer bestimmten Auffassung der Zentrum-Peripherie-Struktur im letzten halben Jahrtausend, die unter dem zugkräftigen Slogan vom „Ende des Kolumbianischen Zeitalters“ abgehandelt wird. Dieses Schlagwort lenkt die Aufmerksamkeit in glücklicher Weise auf einen wichtigen Aspekt der Geschichte. Aber gleichzeitig trägt es auch dazu bei, den kulturalistischen Charakter dieses Blicks stark zu betonen, möglicher Weise zu stark. Das ist eine Debatte, die ziemlich wichtig ist.
Der „hypermoderne und glitzernde Flughafen fasziniert“, und „wir sind auf unserer Reise der Dritten Welt nie begegnet“. Dafür sahen sie den „wunderbaren Kaiserpalast“ und trafen chinesische Touristen, die sich „die uralte Zivilisation“ dieses „immer weltoffenen Landes aneignen“. Es ist, als ob man Habsburg-Nostalgiker in Schönbrunn zu Vorkämpfern eines selbstbestimmten Österreich machte! Achten wir wohl drauf: Es ist eine wichtige Frage, ob und wie sich Menschen in einer kulturellen Tradition orientieren, auch in einer Tradition, die, wie hier, ganz aus den Symbolen und Überresten einer despotischen Herrschaft, des chinesischen Kaisertums besteht. Aber das kann man doch nicht in dieser Naivität ohne nachzufragen bewundern. Das ist ein Riesen-Problem, theoretisch wie politisch. Das ist eine Debatte, die im Zentrum gegenwärtiger Widersprüche zwischen der Mondialisierung (nicht gleich Globalisierung, welche den politischen Einsatz dieser Trends gegen die Arbeiter und die Unterschichten darstellt) und der Selbstbestimmung auf regionaler / nationaler Ebene darstellt.
In völlig legerer Weise über die rasend schnell zunehmende Ungleichheit in China mit einer schönen Fabel von zwei Zügen hinweg zu gehen, ist ebenfalls eine Unredlichkeit, die sprachlos macht. Warum ist die zunehmende Ungleichheit in den USA und in Europa das wichtigste politisch-ökonomische Problem, aber die noch viel schneller zunehmende Ungleichheit, dieser schreiende Gegensatz zwischen den vielen chinesischen Milliardären, wie wir sie in der Fortune’s-Liste finden, und den verelendeten und nahezu verhungernden Bauern nicht?
In der eben erwähnten Fortune-List finden wir unter den rund 2.300 Milliardären der Welt, gerechnet in US-Dollars, zum Stand von 17. März 2018 gleich 373 chinesische Staatsbürger. Die Liste reicht von einem gewissen Ma Huateng auf der 17. Stelle dieser Liste und mit einem Vermögen, welches mit 45,3 Mrd. US-$ beziffert wird, bis zu einer ganzen Reihe auf der Stelle 2.124 mit dem Bettel-Vermögen von nur 1 Mrd. US-$. Wir brauchen uns hier gar nicht den Kopf über die schwierigen methodische Probleme solcher Vermögens-Schätzungen den Kopf zu zerbrechen, über die Frage der Bewertung, etc. Das trifft auf der ganzen Welt zu, keineswegs nur in China.
Machen wir dazu noch einige wenige Rechnungen! Sie werden gleich zeigen, was wir von dieser großartigen Gesellschaft zu halten haben. Das p.c.-Produkt Chinas nach den offiziellen Angaben macht heute 8.836 US-$ aus, in KKP (Kaufkraft-Paritäten) 17.000 Int. Dollar. Das wäre ein rundes Drittel des heutigen gemittelten Lebensstandards in Österreich. Stimmt dies also, oder stimmt es nicht und ist nur chinesische Regierungs-Propaganda? Rechnet man in Österreich zurück, dann kämen wir auf ein vergleichbares Produkt im Jahr 1973. Damals war Österreich bereits ein ziemlich gut entwickeltes Land. Von Hunger war keine Rede mehr, und auch die Unterschichten hatten einen bescheidenen Wohlstand aufzuweisen. Allerdings war die Ungleichheit im kapitalistischen Österreich damals auch nicht annähernd so hoch wie heute im „sozialistischen“ China. Sich also bei der wirklich grellen, skandalösen Ungleichheit in China darauf hinauszureden, dass dies eben in schlecht entwickelten Ländern quasi ein Natur-Gesetz wäre, trifft einfach den Sachverhalt nicht im Mindesten. Ich denke, diese Gegenüberstellung sagt mehr als viele theoretische Überlegungen.
Dies aber auch noch so rechtfertigen zu wollen, dass Sozialismus nichts mit der gleichen Verteilung des Elends zu tun habe, ist Zynismus, der sich kaum mehr überbieten lässt. Dass Losurdo den „brillante Außenhandelsminister“ Bo Xilai anhimmelte, war Pech für den begeisterten Philosophen mit seinen Elogen auf das „neue Modell“. Dieser „brillante“ Politi-ker gilt inzwischen bei seinen Peers als Korruptionist größten Stils, ein Mörder und was sonst noch Alles. Er sitzt im Gefängnis und wird dies vermutlich nicht überleben. Und Losurdo schreibt weiter: „Überwunden sind die Personalisierung der Macht … Schluss gemacht wurde mit der lebenslänglichen Wahrnehmung politischer Funktionen…“ Da besteht gegenwärtig ein bisschen Ungewissheit wegen dieser Errungenschaften der neuen Führungsgruppe, die Losurdo so betont. Sogar die Verfassung hat der neue Große Vorsitzende deswegen ändern lassen. Usw.
Überlassen wir den Propagandisten der absoluten Macht, die er für Sozialismus hält, seinem Schicksal. Man wird mir konzedieren, dass die Empörung über eine solche Art von Reisebericht berechtigt ist.
„Technisch-organisatorische“ Frage und ihre politische Einschätzung
Es gibt eine offenkundige Dialektik in der sozialen Entwicklung, welche insbesondere in der Ökonomie manchmal grell hervortritt. Es ist der Doppel-Charakter der sozialen und historischen Handlung. Sie hat beim Menschen immer einen technischen Aspekt und gleichzeitig eine kulturell-politische Bedeutung. Der technische Aspekt in der Entwicklung der Produktivkräfte, in der Steigerung der Produktion kann, bis zu einem gewissen Grad, von unterschiedlichen politischen und sozialen Systemen befördert werden. Das gilt zumindest eine Zeitlang. Ganz gegensätzliche Interessen können sich ähnlicher Organisationsformen bedienen; Klassen antagonistischer Natur können sich die Früchte der menschlichen Produktion aneignen. Sich ausschließlich auf die Produktivitäts-Steigerung (Wirtschaftswachstum) zu berufen, ist bereits ein ominöses Zeichen, lässt den Verdacht auf Ideologie aufsteigen.
Presse, 4. März 2018: „Es gab noch nie eine Epoche, in der die Menschen so lange und gesund lebten, sich so sicher fühlen konnten, so gut ausgebildet und so wohlhabend waren… Das ist der Triumph des modernen Kapitalismus: Er hat nicht den Reichen am meisten gebracht, sondern den Mittel- und Unterschichten…. Wen kümmern schon die Reichen? … Wir müssen den Fortschritt schätzen lernen, den wir erreicht haben…“
Der schwedische „Bestseller-Autor Johan Norberg“ argumentiert zur Verteidigung des Neo-liberalismus im Interview mit den Propagandisten der Industriellen-Vereinigung (Agenda Austria) nicht anders als Domenico Losurdo zur Verteidigung der „sozialistischen“ Elite in China. Gibt es etwas Aussagekräftigeres als diesen Vergleich?
Die Frage nach der Entwicklungs-Strategie und nach den Akteuren dabei stellt sich nicht erst heute. Als Friedrich List Mitte des 19. Jahrhunderts das deutsche Mitteleuropa entwickeln wollte, hat er nach dem Staat gerufen. Er hat den Freihandel und seine Ideologie als Instrument im Interesse der Starken und Mächtigen denunziert. Adam Smith sei der frühe Verfechter der britischen Dominanz gewesen. Das ist gegenwärtig höchst aktuell, auch wenn wir den britischen Anspruch längst hinter uns gelassen haben. Dafür stellt sich China als Verfechterin des Freihandels dar, auch als Unterstützerin der EU.
Das Instrument Staat sagt gar nichts darüber aus, wer von seinem Einsatz profitiert. Nur weil gewisse Regime, in der Dritten Welt oder im Zentrum, ein Minimum an Planung versuchen, werden sie damit nicht sozialistisch. Das war bereits das Problem im seinerzeitigen Kalten Krieg. Weil Mengistu Haile Marijam einige entwicklungsplanerische Maßnahmen setzte und sich gegen die USA stellte, wurde er deswegen noch lange nicht zum Sozialisten. Er blieb eine der blutrünstigsten Figuren der neueren afrikanischen Geschichte, der Alles ausrottete, was links dachte. Die Gewehr-Kugeln, die er bei den Hinrichtungen seiner Gegner einsetzte, wurden in grenzenlosem Zynismus ihren Angehörigen in Rechnung gestellt. Und dasselbe passiert, wie wir hören in China… Solche Beispiele könnten wir leider dutzendfach bringen.
Einige Fragen
Wir können hier nicht die gesamte politische Theorie und den Historischen Materialismus aufrollen – obwohl dies längst überfällig wäre. Im Grunde soll diese Polemik auch ein Anstoß dazu sein. Es gibt zwei inhaltliche und methodische Probleme. Das eine besteht in einem schematischen und simplen Denken, welches die Kategorien der eigenen Sichtweise mit der Wirklichkeit verwechselt. Die ist wesentlich dialektischer. Sozialismus ist ein Konzept, wo wir die Definitions- und die Mobilisierungs-Versuche (den „Mythos“) aus den Anfängen der Arbeiter-Bewegung nicht so einfach weiterziehen können, als ob wir nicht zwischenzeitlich genug Erfahrungen gemacht hätten. Das aber gilt nicht nur für den Begriff Sozialismus. Dies gilt auch und ebenso wesentlich für Begriffe wie Nation, Modernisierung, Fortschritt, …, und wie alle unsere Konzepte heißen mögen, die wir zur Erfassung, zum Begreifen der historischen Prozesse brauchen. Sie sind völlig unentbehrlich; aber sie sind gleichzeitig auch immer in der Sekunde überholt, wenn wir sie formuliert haben. Wir müssen sie ständig neu entwickeln.
Das zweite Problem ist direkter und ich möchte sagen, in einem „kleineren“ Sinn politisch. Aber es ist ebenso wichtig, und für politisch Militante ziemlich entscheidend. Als Oppositionelle gegen dieses System tendieren wir dazu, ausschließlich die Schattenseiten und die Mängel anzusprechen. Doch gerade für die Älteren unter uns gilt: Wir haben in unserer Lebenszeit auch die Erfolge erfahren. Solche Leute wie Johan Norberg (s. o. der Kasten) haben auch in einigen wesentlichen Linien recht – sie könnte diese übrigens von Marx angeschrieben haben: Zu unseren Lebzeiten hat sich die Produktivität in einer Weise entwickelt, wie wir sie vorher kaum je gesehen haben. Die Lebenserwartung als der gröbste Indikator für einen solchen Fortschritt ist gestiegen, und zwar eben auch in der schlecht entwickelten Welt. Usw. Diese Prozesse in Abrede zu stellen, macht uns unglaubwürdig.
Mit den „neuen sozialen Technologien des globalen Zeitalters“ (Albrow) stehen wir politisch vor der Wahl: Das chinesische Modell der Entwicklung erklärt eine fetischisierte Rationalität und Effizienz, „Wachstum“, zum alleinigen Ziel. Wollen wir dagegen nicht doch eine universale Entwicklung von Mensch und Gesellschaft, welche die Fähigkeit und den Wert aller Menschen anerkennt? Heißt nicht das „postkolumbianische Zeitalter“ gerade auch, einen Universalismus des Partikularen zu schätzen, auch wenn der – vielleicht – einmal den Verzicht auf ein-zwei Prozent „Wachstum“ heißt?
Können wir heute noch guten Gewissens vom SOZIALISMUS als eines klar umrissenen und in Einzelzügen abgegrenzten Ziel-Systems sprechen? Das ist die Grundfrage jeder sozialistischen Theorie, und darüber müssen wir diskutieren.