Am 5. Mai 1818, vor zwei Jahrhunderten, wurde Karl Marx geboren. Die Heilige Allianz beherrschte unangefochten Europa. Eben hatte sie das Wartburgfest und damit die Vorhut der national-liberalen Bewegung erfolgreich unterdrückt. In Großbritannien und Frankreich begannen die frühsozialistischen Theoretiker gerade ihre Sekten zu gründen.
Zwei Jahrzehnte später, als Marx zu studieren begann, wies das bleierne und scheinbar so unerschütterliche System bereits eine Reihe von Sprüngen und Rissen auf, die einen Zusammenbruch ankündigten. Die bürgerlichen Liberalen stellten sich in ganz Europa gegen das Alte System. In Frankreich war die umfassende Restauration bereits einem kurzen revolutionären Aufruhr zum Opfer gefallen (1830). Und jenseits des Kanals kontrollierten die britischen Eliten zwar weitgehend die Exponenten einer auf Legalität ausgerichteten Arbeiter-Bewegung; aber der Widerstand wuchs.
Marx kam in sehr akademischer Weise in die Opposition: Er schrieb eine Dissertation über den antiken Materialismus (MEW, Ergänzungsband I, 257 – 373), nahm die deutsche Religions-Kritik auf und dachte mit Hegel weiter. In seiner kurzen Zeit bei der Rheinischen Zeitung realisierte er, dass konsequenter Liberalismus die Überwindung liberaler Politik forderte. Aus dem Intellektuellen der radikalen Demokratie wurde ein Intellektueller, der eine konsequente Emanzipation aller Menschen anstrebte. Das nannte er Sozialismus / Kommunismus.
Man muss seine frühen Texte lesen, um die Entwicklung zu verstehen – und um das Verständnis für uns heute und unsere eigene Situation zu erhöhen! Was zuerst auffällt, ist ein ausgeprägter Intellektualismus. Marx will die Gesellschaft und die Politik seiner Zeit verändern, indem er Hegel und die Junghegelianer kritisiert. „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“ (MEW 1, 378). Die „Kritik“, die Dekonstruktion der hegemonialen Philosophie seiner Zeit, ist das Zentrum seiner Aktivität. Doch sehr schnell, spätestens 1843, realisiert er: „Die Waffe der Kritik kann die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“ (MEW 1, 385). Aber noch sind wir Jahre weg von 1848 und erst recht von 1871 oder 1917. So schrieb er an der „Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie“ vorerst weiter. Aber bereits ein Jahr später nannte er „die Vermengung der nur gegen die Spekulation gerichteten Kritik mit der Kritik der verschiedenen Materien selbst durchaus unangemessen“ (a. a. O., 605). Er wandte sich daraufhin von dieser Art der rein philosophischen, intellektuellen Kritik ab und der „Kritik der politischen Ökonomie“ zu.
Die Biographie von Marx versorgt uns mit Hinweisen noch und noch auf Politik und Strategie. Sie zeigt uns aber auch, was die Stärken der Persönlichkeit für eine Rolle spielen; und ihre Schwächen. Wir werden uns jetzt gewiss nicht an den Spielchen beteiligen, aus charakterlichen Defiziten theoretische Fehler abzuleiten. Vor einem halben Jahrhundert hat dies der Grazer Professor Ernst Toppitsch con amore praktiziert, damals ein bekannter liberal-konservativer Philosoph der Popper’schen Richtung. Damit glaubte er, Marx und den Marxismus madig machen zu können. Popper wurde damals zum Leibphilosophen des Bruno Kreisky und der europäischen Sozialdemokratie. – Wir schreiben aber auch nicht eine Hagiographie von Marx. Uns interessiert an seiner persönlichen Geschichte das, was auch heute von politischer Bedeutung ist. Dazu gehört z. B. seine Neigung zu einem gewissen Akademismus:
Die Kritik Hegels ist vollgestopft mit Hegel’schen Stilübungen, bis zum Überdruss. Das gab sich schnell. Länger hielt ein anderer Charakterzug an. Carl Schurz, ein 1848er, der nach seiner Flucht vor den preußischen Erschießungs-Kommandos in den USA große politische Karriere machte, schildert, mit welcher unerträglichen Arroganz Marx damals noch auftrat. Später, in London, wirkte er bei den Streitereien unter den Mitgliedern der Ersten Internationale durchaus ausgleichend („Papa Marx“), nicht zuletzt gegen den Oberschicht-Hochmut, den Friedrich Engels nicht ungern zur Schau trug. Schließlich konnte sein akademischer Ehrgeiz auch in späteren Jahren noch manchmal politisch hinderlich hervortreten: Als er 1867 den Ersten Band des Kapitals veröffentlichte, wollte er wichtige Stellungnahmen gegen die britische Irland-Politik nicht abgeben: Das könne der Aufnahme seines Werks schaden (vgl. MEGA I, 21 – Apparatband).
Verlassen wir nun die Biographie Marx’. Die ist nicht unser Thema. Als Marx 1883 starb, war zwar die Sozialdemokratie im Deutschen Reich noch in der Illegalität, aber bereits eine entscheidende politische Kraft. Aber sie war dies in einem Kompromiss mit staatsfrommen Lasalleanern geworden. So stand sie schon bereit für den Sprung ins System und in die Integration. Marx hatte dies theoretische grundlegend – und ein bisschen beckmesserisch – kritisiert („Dixi et salvavi animam meam“ – MEW 19, 32. „Kritik des Gothaer Programms“, MEW 19, 11 – 32). Engels hatte damit weniger Probleme. Er wird bald die spätere Symbolfigur des sozialdemokratischen Revisionismus, Eduard Bernstein, als persönlichen Sekretär beschäftigen. Dieser Unterschied zwischen den beiden Personen und ihrer Ausrichtung ist kennzeichnend. Er gibt uns auch Stoff zum Nachdenken über heutige Politik.
Ein knappes Jahrzehnt später entstand im peripheren Russland jene Gruppe „Befreiung der Arbeit“, aus der die Bolschewiki hervor gingen und damit die revolutionäre Kraft des 20. Jahrhunderts, die sich auf Marx berief.
Warum erinnern wir an Marx? Wir sind keine Scholastiker. Wir brauchen also keine Propheten und heilige Bücher. Auch der Akademismus mit seinen rituellen Erinnerungen ist uns ein ständiger Punkt der Kritik. Wir müssen unsere Bezugnahme nach zwei Jahrhunderten revolu-tionärer und konterrevolutionärer Entwicklung rechtfertigen. Doch die gesamte historisch wirkmächtig gewordene Arbeiter- und sozialistische Bewegung fand in Marx ihren Theoretiker. Damit aber beginnen auch unsere politischen Probleme.
Marx wurde nicht nur Symbol revolutionärer Emanzipation. Allein aus diesem Grund müssen wir uns heute immer wieder auf ihn beziehen. Aber die Kraft seiner Intellektualität war von Beginn weg übermächtig. Kaum gab es also die Theorie, war es nur mehr mit Schwierigkeiten möglich, sie weiter zu entwickeln. Genau das aber müssen wir in einem Neuansatz immer wieder versuchen. Die Barbarei des Neoliberalismus und seiner Imperien stellt eine politische und eine intellektuelle Aufgabe.
Die Symbolik seines Namens kann uns freilich auch hinterrücks treffen. Die VR China schenkt der Stadt Trier eine 4 Meter hohe Marx-Statue. Diese „Volksrepublik“ stellt heute die schmutzigste Realisierung eines Kapitalismus dar, gegen welchen das Laissez faire-System des 19. Jahrhunderts noch menschenfreundlich war. Von Vietnam wollen wir nicht weiter sprechen. Um auf die Marx-Statue zurückzukommen: Die Stadt Trier nimmt sie mit Dank und wird sie einsetzen, um den Fremdenverkehr noch profitabler aufzuziehen.
Und trotzdem: Mit dem Rückgriff auf Marx stellt sich uns erstrangig eine intellektuelle Aufgabe.
Intellektuelle
Intellektuelle als Gruppe und Schicht gehören nicht sosehr ins sozio-ökonomische bzw. technische System – wie Gramsci im Kerker seine Überlegungen zu den organischen Intellektuellen anhebt. Sie sind Bestandteil des totalen sozialen und vor allem des politischen Systems. Es sind die dominanten Klassen, welche aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung heraus ihre organischen Intellektuellen kreieren. Das diese Gesamtgruppe sich wieder differenziert, sollte klar sein. Doch die organischen Intellektuellen des Bürgertums, heute der Finanz-Oligarchie und ihrer politischen Klasse, sind nicht etwa die Ingenieure, die Buchhalter oder die EDV-Menschen. Es ist riskant, sich so auf eine berufliche Festlegung überhaupt einzulassen. Doch wenn schon, dann sprechen wir hier von den universitären Berufen, den Journalisten (unter welchen die Studienabbrecher so häufig sind) oder den Lehrern.
Die Idee, dass „jede soziale Gruppe“ (Intel., 13) sich ihre eigenen Intellektuellen schafft, geht von vorneherein in die Irre. Denn es gibt eine Arbeitsteilung, und die hat politische Folgen. Mit der Organisation der menschlichen Fähigkeit der Reflexion als eigene arbeitsteilige Kategorie entwickeln die Intellektuellen als Schicht ihre eigenen Interessen. Das scheint mir fundamental. Denn es entscheidet das konkrete Auftreten und die konkrete Funktion von Intellektuellen. Sie sind grundsätzlich system-immanent und system-orientiert.
Die zweite Seite besteht jedoch darin, dass die Konstituierung als eigene Schicht eine gewisse Autonomie erlaubt. Es wird daher im Rahmen der Intellektuellenschicht stets Abweichler und Dissidenten geben. Aber sie werden auch stets eine Minderheit darstellen. Diese folgen ihren eigenen Einsichten und Werten und werden u. U. in der Konsequenz zu Opponenten des herrschenden Systems. Sie können sich mit einer sozialen / politischen Kraft alliieren, welche in der Lage ist, das System auf der politischen und der ökonomischen Ebene herauszufordern.
So wurden vereinzelte Personen aus den Weltgeistlichen in den „Bauernkriegen“, den Klassenkämpfen im 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts, zu den organischen Intellektuellen der rebellierenden Massen, vor allem der Bauern. Paradigmatisch war Thomas Müntzer. Der Versuch dieser Massen aber, sich das technische (militärische) Können durch teils zwanghafte Verpflichtung einiger Ritter (Götz von Berlichingen) anzueignen, scheiterte katastrophal. Gehen wir da fehl, wenn wir eine Parallele zu den Bemühungen der Bolschewiki um die Experten und die Beamten nach der Revolution sehen? – Wir werden gleich noch auf die Charakteristiken der plebejischen Kräfte zurück kommen, welche der noch entscheidendere Faktor der bäuerlichen Niederlage waren.
Engels hat bereits auf die Quellen des („wissenschaftlichen“) Sozialismus hingewiesen: die Politische Ökonomie, die Hegel’sche Philosophie und den utopischen Sozialismus. Lenin drückte dies noch wesentlich klarer aus: Der Sozialismus wurde in die Arbeiter-Bewegung von Außen hinein getragen. Aber beide sagten nicht, was dies in Klassen-Ausdrücken bedeutete: Die sozialistische Bewegung war eine Koalition von Intellektuellen und plebeischen Massen. Das „Proletariat“ als politische Größe bestand aus dieser Koalition. Es waren nicht die Arbeiter, die sich die Intellektuellen als Partner gewählt hatten. Es waren die Intellektuellen, welche auf der Suche nach Volks-Massen waren. Für sie wollten sie die Offiziere darstellen bzw. stellten sie schließlich dar.
Das heißt keineswegs leugnen, dass diese Koalition zur wesentlichen Emanzipations-Bewegung der Moderne wurde. Es heißt aber sehr wohl, in aller Nüchternheit darauf hinzuweisen, dass diese unterschiedlichen Komponenten der sozialistischen Bewegung unterschiedliche Interessen entwickelten.
Intellektuelle haben nicht dieselben Interessen wie Arbeiter oder Verwaltungs-Angestellte. Sie haben auch einen anderen Planungs-Horizont im politischen Denken. Sie sind keine Gewerkschafter. Dieser erweiterte Planungs-Horizont hat durchaus seine Berechtigung. Die „Emanzipation der Menschheit“ mag eine intellektuelle Anmaßung darstellen. Aber Sozialismus ist eine Strategie für die Zukunft. Das soll nun keineswegs eine in jede Einzelheit ausgetüftelte Planung für die Struktur eines anderen Zeitalters sein. Das wäre die klassische Utopie, vor denen sich Marx stets gehütet hat. Damit ist ein intellektueller Entwurf nicht nur gerechtfertigt, sondern absolut notwendig. Und doch besteht dabei die immanente und unmittelbare Gefahr, sich von den Massen abzukoppeln. Die Intellektuellen entziehen sich stets der Kontrolle durch die Bevölkerung. Und sie haben gleichzeitig Recht und Unrecht damit. Daraus – und nur daraus – lässt sich die Entwicklung sowohl der Sozialdemokratie als auch der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert erklären.
Es gibt da eine Terminologie, die uns sehr geläufig, die jedoch fragwürdig genug ist: Vor allem Engels spricht vom Wissenschaftlichen Sozialismus. Dieser Ausdruck wurde im „Realsozialismus“ zu einer dogmatischen Bezeichnung. Das passte auch gut: Die Aktivität, die wir heute arbeitsteilig als Wissenschaft bezeichnen, ist eine bürokratische Spezialisierung. Was teilen eigentlich Physik, Jurisprudenz, Theologie und Ökonomie? Doch wohl nicht die Epistemologie, die Methode der Erkenntnisfindung, um dieses Wort kurzfristig zu benützen. Doch es sind akademische Fächer, an vergleichbaren Institutionen angesiedelt und mit einem vergleichbaren Arbeits-Stil. Wissenschaft ist das, was als „Wissenschaft“ institutionalisiert und bezahlt wird. Aber bereits bei Engels und Marx hatte dieses Wort eine Würde, die unmittelbar an den traditionalen Fetisch-Begriff Wahrheit anschloss. Der Marxismus nach ihnen übernahm dies. Für die KP-Tradition eignete es sich besonders gut. Denn der Anspruch auf die ganze Wahrheit ist nirgends besser enthalten als hier. Wenn man im Besitz der Wahrheit ist, kann man doch wohl anschaffen!
Die „Revolte der Eliten“ mit ihrem „Verrat an der Demokratie“ (Christopher Lasch) hat inzwischen zu einer Gegenrevolte der Unterschichten und der Massen geführt. Aber es blieb eine Revolte, d. h. ein ziemlich unartikuliertes Aufbegehren nicht nur ohne Strategie, sondern wurde zur kontraproduktiven Instrumentalisierung des Protests durch diverse politische Unternehmer. Ohne Ziel, nur mit Wut allein, geht dies mit Sicherheit nach hinten los. Nicht umsonst sind die „Wutbürger“, der „Wut-Wirt“, die „Wut-Omi“ so beliebte Typen vom schmutzigsten Boulevard bis zum staatsmonopolistischen ORF.
Gegenhegemonie?
Engels war derjenige, viel mehr als Marx, welcher den Kampf um bzw. gegen die seinerzeitige intellektuelle Hegemonie mit großer Energie aufgenommen hat. Er war es, welcher den „Anti-Dühring“ schrieb, die „Dialektik der Natur“, den „Anteil der Arbeit in der Menschwerdung des Affen“; usw. Man hat ihm später daraus den Vorwurf gemacht, er habe ein geschlossenes Denk-System erstellen wollen. Doch war dies aus meiner Sicht eine weitsichtige und unbedingt notwendige Komponente des politischen Kampfs. Es ging um die Hegemonie. Es war einer der wesentlichen Schritte der Sozialdemokratie in ihrer vollständigen Integration ins System, dieses Kampffeld völlig vernachlässigt und geräumt zu haben.
Freilich haben sich die Stoßrichtungen heute verändert. Engels und Lenin haben sich noch in erster Linie gegen die Religion und den „Idealismus“ gewandt. Heute ist selbst die Esoterik keine wirkliche Gegnerin. Dafür stehen wir einem alles beherrschenden elitistischen Ökonomismus gegenüber. Der hat sich alliiert mit einem durchdringenden Biologismus, der neuen Form des Rassismus in der Gegenwart. Als alter Rassismus tritt er nur mehr bei zurück gebliebenen Gruppen auf, bei Burschenschaftern und ähnlichen Kalibern. Dafür verkleidet er sich als Kulturalismus, wenn er regional orientiert. Aber sehr viel wesentlicher ist die neue Form als Elitismus, welche nicht nur in vielen akademischen Kreisen viszeral auftritt, sondern auch von der mainstream-Politik in unterschiedlichsten Formen unterstützt wird. Der Biologismus hat sich also aus der Horizontalen in die Vertikale verlagert. Das ist übrigens keine neue Erscheinung – wie ja so vieles in der heutigen Politik und Gesellschaft ins 19. Jahrhundert und früher zurückkehrt. Der alte, später auch nationalistisch gefärbte Rassismus ist schließlich aus diesem biologischen Klassismus entstanden. Gobineau wollte mit seinem Rassismus belegen, dass die französischen Aristokraten wirklich etwas ganz Anderes seien.
Und die Folgerungen?
Marx stellte durch Leben und Werk eine Reihe von Problemen, welche heute ebenso aktuell sind wie zu seiner Zeit.
(1) Plebejische Unterschichten allein sind nur zur Revolte, zur Rebellion fähig. Sie bedürfen einer intellektuellen Unterstützung, der Unterstützung durch Personen und Gruppen, die aus ihrer Herkunft, vor allem aber aus ihrer Sozialisation, selbst nicht zur unterdrückten und ausgebeuteten Klasse gehören. Das ist eine politische, keine sozio-ökonomische Frage. Es sind nicht die Ingenieure, welche das Bürgertum ideologisch halten. Es sind nicht die Meister, welche das Proletariat organisiert haben. Es waren Intellektuelle, allerdings nicht „die Intellektuellen“.
(2) Nicht alle plebejischen Schichten haben die Potenz zu einem revolutionären Subjekt. Ein besonderes Problem waren historisch die Bauern. Es ist kein Zufall, dass es im Imperium Romanum eine Reihe von Sklaven-Aufständen gab, welche teils die herrschende Ordnung gefährdeten. Aber es gab keinen wirklich bedeutsamen Aufstand von nicht (rechtlich) versklavten Bauern, obwohl diese während aller Jahrhunderte des Bestands dieses Reichs die Sklaven im Mittelmeer-Gebiet – im Reichsgebiet – zahlenmäßig vermutlich deutlich über-troffen haben. Die Bauernaufstände am Ende des Mittelalters bzw. am Beginn der frühen Neuzeit brachten als Resultat das politische Verschwinden der Bauern aus der europäischen Geschichte. Die einzige Region, in welcher Bauern als Gefolgschaft revolutionärer Bewe-gungen eine wesentliche Rolle spielten, waren die ostasiatischen Revolutionen. Und doch betonte Mao ständig die Notwendigkeit, die Bauern zu nationalisieren und zu proletarisieren, damit diese endlich zu Subjekten der Geschichte würden.
Heute stellt sich die Frage nach dem „revolutionären Subjekt“ auf besonders eindringliche Weise. Man wird sie unterschiedlich beantworten müssen, wenn man den Blickwinkel national oder aber mondial wählt. Denn die Frage der Klassenschichtung ist mittlerweile ohne den Blick auf das Weltsystem nicht mehr sinnvoll zu beantworten. Damit aber ändert sich die Problematik insbesondere für die Menschen des Zentrums fundamental. Eine revolutionäre Klasse in der entwickelten Welt scheint nicht auszumachen zu sein. Denn mittlerweile muss man die Unterschichten der Ersten Welt insgesamt als „Arbeiteraristokratie“ einordnen: Sie halten ihren bescheidenen Lebens-Standard nicht zuletzt auf Grund der (Über-) Ausbeutung der schlecht entwickelten Welt.
Damit verschwindet im hoch entwickelten Kern eine revolutionäres Subjekt aus der Gesellschaft. Übrig bleibt aber sehr wohl eine für Demokratie und Selbstbestimmung zu mobilisierende große Masse.
(3) Einer der wesentlichsten Schritte im politischen Kampf der Postmoderne ist ein antihegemoniales Projekt. Wir müssen eine Gegen-Intellektualität entwickeln. Das ist nicht dasselbe wie ein Anti-Intellektualismus. Zugeben müssen wir, dass eine Dosis Anti-Intellektualismus verständlich, berechtigt und notwendig ist. Sicher schreien die Neoliberalen und ihre Sprecher sofort von Populismus und Antiintellektualismus, von Anti-Politik etc., wenn man sie kritisiert. Das sollte uns eher eine Bestätigung sein. Allerdings dürfen wir nicht übersehen:
Die Rechtspopulisten sind antiintellektualistisch von Grund auf. Das gehört zu ihrer Programmatik. Denn sie möchten vor allem ein Nachdenken über die Grundlagen dieser Gesellschaft und über mögliche Alternativen verhindern. Für die alte Ordnung ist ein Bündnis von Unterschichten und einem Teil der Intellektuellen gefährlich. Mit dieser Erkenntnis und dieser Überlegung stehen sie aber keineswegs allein. Das Ziel teilen sie ganz und gar mit den neoliberalen Eliten. Aber diese ziehen ihre Strategie anders auf. Die Rechtspopulisten wollen die Unterschichten isolieren und gegen mögliche Einsichten und politischen Überlegungen immunisieren. Die Eliten hingegen setzen oben an, bei den Oberen Mittelschichten und den Intellektuellen; sie sind offen klassistisch. Sie appellieren an das Klassenbewusstsein der Intellektuellen und an ihre Arroganz, und mit viel Erfolg, wie wir sehen.
Wiederholen wir also: Ein Bündnis zwischen plebejischen Klassen und einer oppositionellen Gruppe von Intellektuellen ist unerlässlich. Nur ein solches Bündnis kann wirklich eine demokratische Perspektive entwickeln. Die Intellektuellen-Gruppe, die sich auf ein solches Unterfangen einlässt, wird eine Minderheit bleiben, ob man dies bedauert oder vielleicht auch nicht.
Doch wenn diese Überlegungen richtig sind, folgert daraus auch die Notwendigkeit, eine solche antihegemoniale Gruppe organisatorisch in irgendeiner Weise aufzubauen. Denn in den hegemonialen Institutionen der Gesellschaft wird sie sich nicht entwickeln. Der sogenannte Marsch durch die Institutionen hat sich in den letzten Jahrzehnten politisch als Irrweg erwiesen. Man braucht nur solche Figuren wie Franz Josef Fischer, Daniel Cohn-Bendit, oder in bescheidenstem Maße auch die Ex-Journalisten Raimund Löw oder Franz Kössler anzusehen. Daneben gibt es viele, die auf diese Strategie setzten. Sie haben in ihrer eigenen Position als Professor oder höherer Beamter ihren bescheidenen Beitrag zum Transformismus des Bestehenden geliefert. Ihre Leistung, aus der Sicht der Eliten allerdings eine beachtliche Errungenschaft, war neben der persönlichen Karriere ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur System-Stabilisierung und zum Machterhalt der Eliten.
Marx hat zu seiner Zeit einen überragenden Beitrag geliefert. Es ist nicht unsere Absicht hier, einen Handbuch-Artikel zur Ideen-Geschichte zu schreiben. Aber dieser intellektuelle Beitrag zeigt nicht nur die Bedeutung, sondern auch die Grenzen der intellektuellen Arbeit auf. Die politische Arbeit der Parteigründung und des Aufbaus der Bewegung hat er zwar versucht. Aber die wesentlichen Leistungen in dieser Hinsicht haben andere geleistet und mussten auch andere leisten. Es war kein Zufall, dass Marx und Engels die Erste Internationale aus einem ziemlich unwichtigen taktischen Grund aufgelöst haben. Die Zweite Internationale war ein Netz von nationalen Parteien. Die Dritte Internationale aber, welche einen Internationalismus auf dogmatischer Grundlage versuchte, wurde sofort zum Macht-Instrument der Nomenklatura. Und daran leidet die übrig gebliebene Linke bis heute.
Einige Literaturverweise
Engels, Friedrich ([1880]), Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. In: MEW 19, 181 – 228.
Gramsci, Antonio (1971), Quaderni del carcere. Introduzione di L. Gruppi. Roma: Riuniti (6 vol. – “Volksausgabe”); bzw. Gramsci, Antonio (1975), Quaderni del carcere. Edizione critica dell’Istituto Gramsci. A cura di V. Gerratana. Torino: Einaudi.
Lasch, Christopher (1995), The Revolt of the Elites and the Betrayal of Democracy. New York: W. W. Norton.
Lenin, W. I. (1975 [1902]), Was tun? In: Werke V, 355 – 551.
MEW: Marx-Engels-Werke
MEGA: Marx-Engels-Gesamtausgabe, noch nicht vollständig