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Ausführungen von Ralph Hartmann vor dem „Wiener Tribunal“

19. Januar 2019

"Die NATO-Aggression hat dem so schon unvollkommenen internationalen Rechtssystem einen noch immer nicht abzusehenden Schaden zugefügt."


Verehrte Anwesende, liebe Freunde!

255 Tage sind seit dem Überfall der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien vergangen.  Seitdem hat sich die Welt verändert, auch wenn manche glauben machen wollen, es gehe alles wieder seinen ordentlichen Gang.  Nein, schon zuvor ging es in der Welt nicht sehr ordentlich zu, nun aber sind wir dem Chaos ein Stück näher geraten.

 

Die NATO-Aggression hat dem so schon unvollkommenen internationalen Rechtssystem einen noch immer nicht abzusehenden Schaden zugefügt. Das in der UNO-Charta niedergelegte Sicherheitssystem wurde ausgehebelt, der UNO droht das Schicksal des Völkerbundes. Zarte Keime des Vertrauens in den zwischenstaatlichen Beziehungen wurden niedergetrammpelt.  Die Neue NATO-Strategie, die das Völkerrecht durch das Faustrecht, das Recht formal Gleichberechtigter durch die offene Willkür der Stärkeren ersetzt, wurde unter der Führung der USA erprobt und beschlossen. Die für den Weltfrieden so entscheidenden Beziehungen zwischen den USA und den NATO-Staaten einerseits und Rußland und China andererseits wurden schwer belastet – von pragmatischen Erwägungen getragene versöhnlich Erklärungen ändern nichts an diesem Tatbestand. Ungeachtet alter und neuer Abrüstungsvereinbarungen dreht sich die Rüstungsspirale wieder schneller. Rußland, aber nicht nur dieses, setzen wieder stärker auf Atomwaffen. Überlegungen zur Bildung neuer strategischer Allianzen haben Auftrieb erhalten. Die Gefahr eines globalen Krieges, zeitweilig aus dem Blickfeld geraten, hat wieder – auch wenn es viele noch nicht wahrhaben wollen – reale Konturen angenommen.

 

Die Gegenwehr gegen diese Entwicklung entspricht – wie schon vor und während der NATO-Aggression – leider nicht dem Ausmaß der Bedrohung. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber hier ist nicht der Platz, sie ausführlich zu analysieren. Doch in letzter Zeit wächst auch Widerstand gegen die selbstherrliche, friedensbedrohende Politik der USA und der NATO. Auch die heutige Veranstaltung ist dafür ein Beweis, deshalb verdienen ihre Initiatoren große Anerkennung und herzlichen Dank.

 

Wie Sie wissen, werden auch in Deutschland Vorbereitungen für ein Tribunal getroffen. In den letzten Monaten hat sich in Berlin ein Internationales Vorbereitungskomitee für ein Europäisches Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien gebildet. Seine Initiatoren haben mich gebeten, Ihnen allen solidarische Grüße und gute Wünsche zu übermitteln. Wir verfolgen das gleiche Anliegen. Am 30. Oktober fand in der bis auf den letzten Platz gefällten Heilig- Kreuz-Kirche der deutschen Hauptstadt das erste öffentliche Hearing zur Vorbereitung dieses Tribunals statt. Unter den über 650 Teilnehmern befanden sich rund 50 ausländische Gäste, unter anderem aus Österreich, Frankreich, Ungarn, Bulgarien, Tschechien, Polen, der Schweiz und den Niederlanden.  Die Vereinigten Staaten waren durch die Initiatoren des USA-Tribunals und Rußland durch Abgeordnete der Duma vertreten. Zu den Gästen der Veranstaltung zählte eine hochrangige Delegation des SUBNOR, des jugoslawischen Bundes der Teilnehmer am Volksbefreiungskrieg. Anwesend waren Vertreter von rund 300 deutschen Friedensnetzwerken und Menschenrechtsorganisationen.

 

Trotz unterschiedlicher weltanschaulicher Überzeugungen waren sich die Teilnehmer einig in der Verurteilung des barbarischen NATO-Terrorkrieges, in der Überzeugung, daß die NATO-Aggression nicht ungesühnt bleiben darf. Einig waren sie sich in der Einschätzung, daß es sinnvoll und notwendig ist, die verschiedenen Tribunale in europäischen Ländern zu vernetzen und im Zusammenwirken mit dem USA-Tribunal ein repräsentatives Europäisches oder Welt-Tribunal durchzufahren, das möglichst viele Friedenskräfte zusammenfaßt und ihre Stärke potenziert.  Den Initiatoren des Berliner Tribunals geht es nicht darum, die Vorbereitungen schnellstmöglich zum Abschluß zu bringen, sondern ihr Ziel ist es, sie über einen längeren Zeitraum mit unterschiedlichsten Veranstaltungen zu führen, die die Friedensnetzwerke inhaltlich stimulieren, zusammenfahren und dauerhaft Kraft spenden. Mit dieser Art der Vorbereitung soll auch der Absicht der Aggressionsverantwortlichen begegnet werden, den Krieg so schnell wie möglich in Vergessenheit geraten zu lassen. Diskutiert wird bereits die Überlegung, nach der Durchführung des Tribunals ein Europäisches Friedensparlament ins Leben zu rufen, damit in Europa endlich nicht nur die NATO, sondern auch der Frieden dauerhaft Kraft und Stimme bekommt. Lassen Sie uns bitte gemeinsam über diese und andere Anregungen und Vorschläge nachdenken.

 

Verehrte Anwesende!

 

Noch hat das Berliner Vorbereitungskomitee die Anklageschrift für das Tribunal nicht ausgearbeitet. Sie dürfte umfangreich werden, so umfangreich wie die Kriegsverbrechen der NATO und der dafür Verantwortlichen. Doch wichtige wohlbegründete Anklagepunkte stehen fest, die meisten von Ihnen, die Sie hier zusammengekommen sind, kennen sie. Ich will deshalb nur einige zusammenfassen:

 

Erstens, wir klagen die NATO an, sich völkerrechtswidrig in einen schweren innerstaatlichen ethnischeni Konflikt eingemischt, ihn ungeheizt und schließlich zum Vorwand für eine brutale militärische Intervention gemacht zu haben.

 

Zweitens, wir klagen die NATO an, unter Bruch grundlegender internationaler Rechtsnormen, der UN-Charta, der Schlußakte von Helsinki, der Deklaration von Paris, der Verfassungen der meisten Mitgliedsländer, des Statuts des Paktes selbst einen schändlichen Angriffskrieg gegen einen souveränen europäischen Staat – die Bundesrepublik Jugoslawien – geführt zu haben.

 

Drittens, wir klagen die NATO an, Tausende von Frauen, Männern und Kindern ermordet und noch mehr für den Rest ihres Lebens zu Krüppeln gemacht zu haben, große Teile der Infrastruktur und der industriellen Basis Jugoslawien zerstört und das Land um viele Jahre in seiner Entwicklung zurückgeworfen zu haben.

 

Viertens, wir klagen die NATO an, mit ihren Angriffen auf zivile Ziele, Chemiebetriebe, Elektrizitäts- und Heizkraftwerke, Krankenhäuser, Schulen und Fernsehstationen, mit Mitteln des Umwelt- und verdeckten Giftgaskrieges und dem Einsatz von international geächteten Waffen elementare Normen des humanitären Völkerrechts auf das Schwerste verletzt zu haben.

 

Fünftens, wir klagen die NATO an, den Angriffskrieg gegen Jugoslawien und seine Völker auch nach Einstellung der Terrorangriffe aus der Luft fortzusetzen und fortlaufend gegen das internationale Recht und gegen elementarste Gebote der Humanität zu verstoßen.

 

Die während der vergangenen 78tägigen Luftangriffe begangenen Verbrechen aufzudecken und zu verurteilen, ist unabdingbar. Nicht weniger notwendig, ja in mehrfacher Hinsicht noch dringlicher ist es, für die sofortige Beendigung des gegenwärtigen, lediglich in anderen Formen fortgesetzten Krieges gegen Jugoslawien einzutreten.

Diese Kriegsfortsetzung zeigt sich darin, daß die Angreiferstaaten bis zum heutigen Tage Jugoslawien jegliche Entschädigung und jeglichen Beitrag zur Wiederherstellung der Infrastruktur und der notwendigen Existenzgrundlagen für die notleidende Bevölkerung verweigern. Aufrechterhalten werden die von Anfang an völkerrechtswidrigen, ein ganzes Volk, würgenden Sanktionen, die nach der Besetzung des Kosovo durch die NATO-dominierten KFOR-Einheiten endgültig gegenstandslos geworden sind. Mehr noch: Obwohl Hunderttausende von Menschen nach der Zerstörung der Fernheizanlagen in den großen Wohnsiedlungen ohne alternative Heizmöglichkeiten der Winterkälte nahezu hilflos ausgeliefert sind, verweigern die USA und die EU selbst die Lieferung von Ersatzteilen. Einmal mehr zeigen die Menschenrechtskrieger, was sie von den Menschenrechten halten.  Skrupellos verstoßen sie auch hier gegen fundamentale Normen des Völkerrechts, darunter gegen Artikel 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, in dem es heißt: „In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.“[1]

 

Fortgesetzt wird der Krieg, der angeblich gegen eine Politik der ethnischen Vertreibung geführt wurde, *mit der Drangsalierung, Ermordung und Vertreibung der nichtalbanischen Bevölkerung, der Serben, Roma, Türken, Montenegriner, aber auch Albaner, aus Kosovo und Metohien; *mit der Mißachtung der in der Resolution 1244 des Weltsicherheitsrates vom 10.  Juni 1999 bekräftigten Respektierung der Souveränität und territorialen Integrität Jugoslawiens und der suksessiven Abtrennung des Kosovo,

 

*mit der Forderung nach dem Sturz der gegenwärtigen Regierung Jugoslawiens als Voraussetzung für eine Lockerung der Sanktionen – einer in Europa nahezu beispiellosen völkerrechtswidrigen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates – womit ein ganzes Volk in Geiselhaft genommen wird; *mit der Schürung neuer Konflikte, so in Montenegro, die das Ziel verfolgt, die jugoslawische Föderation endgültig zu zerschlagen.

 

Wo, so darf man wohl fragen, bleibt angesichts eines solchen Unrechts, eines derartigen monströsen Rechtsbruchs der Aufschrei der progressiven europäischen Intelligenz, der europäischen Linken, der christlichen und nichtchristlichen Humanisten, von den freien Medien ganz zu schweigen?

 

Noch einmal: Die Aggression gegen Jugoslawien war ein Verbrechen, ihre Fortsetzung in anderen Formen ist es nicht minder.  Die Verantwortlichen dafür sitzen heute noch hoch zu Rosse, in Wahrheit gehören sie auf die Anklagebank.

 

Auf dem Hearing in Berlin wurde wiederholt gefordert, auch die Medien, die den Krieg mit maßlosen Lügen befördert und gerechtfertigt haben, vor dem Tribunal anzuklagen. Diese Forderung ist nicht von der Hand zu weisen.  Die Lüge war die Wegbereiterin des Krieges und sie hat ihn begleitet, die Wahrheit aber wurde erschlagen. Doch nicht außer Acht zu lassen ist, daß die verantwortlichen Politiker zumeist auch die Stichwortgeber für viele Medien waren. In Deutschland waren es die selbstemannten „ehrlichen Makler“, Genscher und Kinkel, die die Serben schon zu Beginn dieses Jahrzehnte „in die Knie zwingen“ wollten und die von Anfang an eine geradezu paranoide Politik der einseitigen antiserbischen Parteinahme betrieben. Nahezu pausenlos waren einflußreiche Kräfte bemüht, die Serben zu einem Volk von Schurken, Vergewaltigem und Sadisten zu machen, sie zu verteufeln und mit völkischen Haßkampagnen zu überziehen, die zuweilen die Erinnerung an den antisemitischen Verfolgungswahn vergangener Zeiten aufkommen ließen. Wer versuchte, sich dieser Stimmungsmache zu widersetzen, Gerechtigkeit auch für Serbien zu fordern, begab sich in die Gefahr, fortan als „Serben“- oder gar „Milosevic-Freund“ betrachtet zu werden, was heutzutage fast genau so schlimm ist, als in üblen früheren Zeiten als „Russen“- oder gar „Judenfreund“ gegolten zu haben.

 

Im Vorfeld und während des NATO-Angriffskrieges überstiegen die Lügen, die über Serbien und Jugoslawien verbreitet wurden, das Ausmaß der Manipulation zur Dämonisierung der Serben im jugoslawischen Bürgerkriegsdrama in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts. Die sie verbreiteten, glaubten, so handeln zu müssen, denn jetzt ging es für sie nicht nur darum, eine Partei in einem Bürgerkrieg zu diffamieren; jetzt war es notwendig, den eigenen Aggressionskrieg vor dem eigenen Volk und der Welt zu rechtfertigen.  Und wie schon in Bosnien lautete das Motto: „Was schert mich die Wahrheit, die Hauptsache das Feindbild stimmt!“ Und während in der bosnischen Tragödie die Manipulation noch durch Greuelnachrichten-Aufkäufer, Pressesprecher und einige Journalisten erfolgte, besorgte in Deutschland nun der Militärminister dieses schmutzige Geschäft höchstpersönlich selbst.

 

Im Bemühen, die deutsche Teilnahme am Angriffskrieg zu rechtfertigen, ließen sich die rosa-roten und grünen Minister und Staatssekretäre von niemandem übertreffen. Zuerst versuchten sie, selbst die Tatsache zu leugnen, daß Deutschland überhaupt Krieg führt. Die deutschen Tornado-Piloten waren schon mehrmals, wie es hieß, „glücklicherweise heil und unversehrt“ von ihren Bombenflügen zurückgekehrt, da wies Außenminister Fischer am 26. März im Bundestag „den Vorwurf, daß wir hier von deutschem Boden aus eine Politik des Krieges betreiben“, „mit Nachdruck“ zurück.  Einen Tag später bekannte Militärminister Scharping der „Frankfurter Rundschau“: „Ich habe große Probleme mit dem Wort Krieg in diesem Zusammenhang“, und sein Staatssekretär Walter Stützle wandte sich energisch dagegen von „NATO-Bombardierungen“ zu sprechen, weil „das ein Schlagwort zu sein scheint, das der Situation gar nicht angemessen ist”.[2]

 

Da jedoch das „Schlagwort“ dank der Schlagkraft der NATO-Bomber nicht aus der Welt zu schaffen war, flüchteten sich die bundesdeutschen Kriegsverantwortlichen in immer neue Legenden und betrieben deutsche Geschichtsaufarbeitung, die sie bekanntlich so hartnäckig von den Ostdeutschen fordern, auf eine Art, die sie schon während des bosnischen Bürgerkrieges erprobt hatten.  Scharping erblickte in Jugoslawien, dem Opfer dreier deutscher Aggressionen in diesem Jahrhundert, „die Fratze der eigenen Geschichte“, um so ganz nebenbei gemeinsam mit seinen Freunden die Vemichtungs- und Ausrottungspolitik des deutschen Faschismus endgültig auf einer serbischen Deponie in Kosovo zu entsorgen.  „Konzentrationslager“, „Deportationen“, „Völkermord“, „Genozid“, „Endlösung“ waren die neuen Schlagworte, die in die Welt gesetzt wurden, und die jugoslawischen Truppen mutierten zur „Waffen-SS“.

 

Folgerichtig wurde Milosevic zum „letzten Menschenschlächter in Europa“, zu einem neuen Hitler, weil „gerechte Menschen“ nach 1945 ihre Gegner in „gerechten Kriegen“ mit Vorliebe „Hitler“ genannt hatten; die Briten – Nasser im Suez-Krieg, die Franzosen – Ho Chi Minh im Indochina-Krieg, die US-Amerikaner ­Hussein im Golf-Krieg. Die Personifizierung des Bösen und Schurkischen war stets wirksam gewesen und auch 1999 verfehlte sie ihre Wirkung in Deutschland nicht.  Die Rechtfertigung des Krieges mit der verteufelten Person des jugoslawischen Präsidenten wurde in Deutschland bis ins unglaubliche groteske Extrem gesteigert. So in einer Botschaft, die der deutsche Bundeskanzler Schröder dem chinesischen Ministerpräsidenten überreichen ließ, nachdem NATO-Raketen die Botschaft der Volksrepublik in Belgrad zerstört hatten.  Darin hieß es wortwörtlich: „Der bedauerliche und selbstverständlich nicht beabsichtigte Vorfall ist tragische Folge einer menschenverachtenden Politik der Belgrader Führung …“[3]

In einem ähnlichen Zusammenhang wurde in der deutschen Wochenzeitung „Freitag“ von „einer verheerenden Verwüstung im Denkapparat der politischen Elite“[4] gesprochen. Wer wöllte dem widersprechen? Vieles, was aus dem Munde von Mitgliedern der deutschen Regierung zu hören war, war lachhaft, grotesk, aber leider schaurig-grotesk. Wer vermeinte, den Schaum auf den Lippen des deutschen Militärministers gesehen zu haben, und den Eindruck hatte, dieser empfinde sogar, wie er sich öffentlich äußerte, dem geht es wie Günter Gaus, dem ist zum Fürchten.[5] Und die Furcht wird nicht geringer, wenn man bedenkt, daß Scharping mit dem Krieg nach demoskopischen Umfragen zu einem der beliebtesten deutschen Politiker aufstieg und nun sogar als möglicher Kanzlernachfolger gehandelt wird.

 

‚Menschen, seid wachsam!‘ möchte man rufen, schreien, aber wie so oft schon in der Geschichte legen die Herrschenden erst einmal den Mantel des Schweigens über begangene Verbrechen und die Vorbereitung weiterer. Umso notwendiger ist das Tribunal – dieses heutige und die, die kommen müssen. Sie müssen der Wahrheit zum Lichte helfen und die Lüge erkennbar machen.

 

Zu diesen gehört die Behauptung, die NATO sei in den Krieg „hineingeschlittert“.  Sieben Monate nach dem Übefall auf Jugoslawien wagt kein ernstzunehmender Völkerrechtler zu bestreiten, daß es sich beim Krieg der NATO um eine Aggression handelte. Die Behauptung, der Krieg sei für humanitäre Ziele geführt worden, war von Anfang an unglaubwürdig. Kriegs- und Nachkriegsgeschehen haben sie ad absurdum geführt. Es war ein verabscheuungswürdiger Krieg, der durch nichts, auch nicht durch den schweren, von innen gewachsenen und von außen geschürten ethnischen Konflikt in Kosovo und Metohien, die Spirale von menschenrechtsverletzender Gewalt und Gegengewalt zu rechtfertigen ist.

 

Aber ist die NATO nicht doch – und wer das Schuldmaß der Verantwortlichen ermitteln will, kommt um diese Frage nicht umhin – in den Krieg „hineingeschlittert“, „hineingestolpert“, wie man selbst unter entschiedenen Kriegsgegnern hören kann, oder hat der Pakt den Krieg mit lang gehegtem Vorsatz herbeigeführt?

 

Beides ist völkerrechtswidrig, strafwürdig.  Doch der Unterschied ist alles andere als unerheblich.  So wie das Strafrecht Totschlag aus Jäheit und Zorn und einen aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und mit Vorsatz begangenen Mord auseinanderhält, so gibt es allen Grund, zwischen einem aus scheinbarer

Zwangsläufigkeit der Ereignisse resultierenden, eigentlich ungewollten Krieg und einer aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und mit Vorsatz begangenen Aggression zu unterscheiden.

 

Obwohl die Geheimarchive noch lange Zeit verschlossen sein werden, gibt es auch so schon nicht wenige Indizien dafür, daß die NATO keine friedliche Lösung, sondern den Einsatz ihrer Waffenpotentiale anstrebte.  Die Zeit erlaubt es nicht, auf alle Erklärungen einzugehen, die auf den vorsätzlichen Charakter des Krieges hinweisen. Stellvertretend für sie sei hier nur auf die Feststellung des republikanischen „Policy Committee“ des USA-Senates vom August 1998 hinge- wiesen, die da lautete: „Die Planungen für eine US-geführte NATO-Intervention ins Kosovo sind nun im großen und ganzen abgeschlossen. Das einzig Fehlende scheint ein Anlaß zu sein – geeignet für eine wirkungsvolle Medienberichterstattung – die die Intervention politisch verkäuflich macht … Daß Clinton auf einen ‚Auslöser‘ im Kosovo wartet, ist zunehmend offensichtlich.“[6]

 

Und Michael Klare, Professor am international renomierten Hampshire College in Massachusetts, sprach später eine noch deutlichere Sprache, als er konstatierte: „Präsident Clinton war entschlossen, den Kosovo ­Krieg unter amerikanischer und unter NATO-Führung durchzufahren.  Vor dem 50.  Jahrestag der NATO wollte er Macht demonstrieren und einen militärischen Erfolg vorführen.“[7]

 

Aber es sind nicht nur aufschlußreiche enthüllende Erklärungen, die auf den Aggressionsvorsatz hinweisen, es sind die politischen Handlungen selbst.

 

Die NATO hat den schweren innerstaatlichen Konflikt im Kosovo mit ihrer Eininischung Schritt für Schritt zu dem Punkt geführt, der den Vorwand für den Einsatz ihrer Waffen bot.  Immer unter der Androhung von massiven Militärschlägen auch ohne UNO-Mandat hat sie ihre ultimativen Forderungen höher und höher geschraubt, in der offenkundigen Erwartung, daß Jugoslawien sie ablehnen wird. Doch Belgrad hat um des Friedens willen nachgegeben und immer wieder nicht erwartete Zugeständnisse gemacht – von der Bereitschaft zu direkten Verhandlungen mit den separatistischen Führem der Kosovo-Albaner, ja selbst der UCK, bis zum Einverständnis mit der Stationierung von OSZE-Beobachtern und der Unterzeichnung des Zehn-Punkte-Planes der sogenannten Internationalen Kontaktgruppe. Doch stets, wenn eine friedliche Konfliktlösung nahe war, schob die NATO neue Forderungen nach. Die Welt wurde Zeuge einer politischen Farce und Treibjagd ohnegleichen, in der in Rambouillet und Paris zum letzten ‚Halali‘ geblasen wurde.

 

Alle Welt, vor allem die NATO, Clinton und Madame Albright, Schröder und Fischer wußten, daß die ultimative Forderung nach sofortiger Unterzeichnung eines nicht verhandelten Abkommens, dessen Kern die Okkupation des Kosovo durch die NATO, seine spätere Abtrennung von Serbien und die Einführung eines NATO-Besatzungsregimes für ganz Jugoslawien vorsah, unannehmbar war. Kein Volk, kein souveräner Staat der Erde hätte ein solches Diktat akzeptieren können, und schon gar nicht die Serben, die dem österreichischen und dem deutschen Kaiser, Hitler und Stalin die Stirn geboten hatten.

 

Damit hatte die NATO den von Washington schon lange gesuchten Kriegsvorwand gefunden.  Am 24.  März begann sie unter Beteiligung der deutschen Bundeswehr ihre massiven Luftangriffe auf Jugoslawien.  Seit dem 2. Weltkrieg war kein Krieg so vorsätzlich, mit solcher Zielstrebigkeit und Heimtücke herbeigeführt worden.

 

Bisher bekanntgewordene Erklärungen und der Ablauf der Ereignisse, die selbstverständlich weiterer Untersuchungen bedürfen, drängen den Schluß auf: Die NATO ist in ihren Angriffskrieg nicht „hineingeschlittert“ es war ein vorsätzlich herbeigeführter Krieg.  Die NATO wollte den Krieg.  Ziel des Krieges war es nicht nur, Jugoslawien zu zerschlagen, die Einkreisung Rußlands und die Osterweiterung der NATO voranzutreiben.  Ziel des Krieges war der Krieg selbst, um die neue NATO-Strategie zu erproben und durchzusetzen.

 

Und um noch einmal den Vergleich zum Strafrecht zu ziehen: Es war kein Totschlag, es war mit Vorsatz begangener Mord. Es war eine Aggression, das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

 

Die NATO-Raketen flogen gegen Belgrad, Nis, Kragujevac, aber im Visier der USA- und NATO-Strategen lagen auch femere, östlichere Gebiete, darunter die zentral-asiatische Region und das Kaspische Becken, die laut Zbigniew Brzezinski „über Erdgas- und Erdöl-Vorräte verfügen, die jene Kuweits, des Golfs von Mexiko oder der Nordsee in den Schatten stellen“.[8] Hier, und noch einmal sei der globalstrategische Vordenker zitiert, müsse es „Amerikas primäres Interesse folglich sein, mit dafür zu sorgen, daß keine einzelne Macht (sprich: Rußland, R.H.) die Kontrolle über dieses Gebiet erlangt und daß die Weltgemeinschaft (sprich: die USA, R.H.) ungehinderten finanziellen und wirtschaftlichen Zugang zu ihm hat.“[9]

 

Parallelen zu Jugoslawien sind schwerlich zu übersehen. Auch in der Kaukasus- und Kaspiregion sind scharfe nationale und politische Konflikte, in denen den Menschen schwerstes Leid zugefügt wird, im Gange.  Auch hier versuchen die USA, die NATO – meist noch über Stellvertreter – sich einzumischen, den Konflikt zu schüren, in die Rolle eines obersten Richters zu schlüpfen.  Der Tag nähert sich, an dem sie versuchen werden, sich gemäß der in Jugoslawien erprobten Neuen NATO-Strategie zum militärischen Krisenbewältiger aufzuschwingen, um sich zu dieser Region den angestrebten „ungehinderten Zugang“ zu verschaffen. Das aber würde erneut Krieg bedeuten, der mit dem gegen Jugoslawien gegen vergleichbar, aber in seinen Auswirkungen unvergleichlich wäre. Nicht zufällig hat der frühere NATO-Oberbefehlshaber Clark erklärt, daß der NATO-Krieg gegen Jugoslawien „ein ganz entscheidender Präzedenzfall für das kommende Jahrhundert“[10] war. Was darunter zu verstehen ist, ist in einer Studie der Bundeswehr-Universität in Hamburg nachzulesen. Darin heißt es: „Der Einsatz militärischer Kräfte in Kosovo wiedenun ohne Legitimation durch den UN-Sicherheitsrat (…) wird als Präzedenzfall für mögliche künftige Einsätze im unmittelbaren Vorfeld Rußlands gewertet, etwa im Kaukasus.“[11]

 

Niemand möge sagen, ein solches militärisches NATO-Abenteuer in der Kaukasus- und Kaspi-Region sei unvorstellbar, unmöglich. Wer hätte in Deutschland noch vor wenigen Jahren geglaubt, daß deutsche Kampfflugzeuge wieder Belgrad und Kragujevac angreifen und in Kosovo und Metohien, in der Stadt Prizren, ein deutscher Soldatensender das Lied „Lili Marlen“ ausstrahlt? Damit sich ähnliches nicht wiederholt und das Grauen des Krieges nicht im globalen Maßstab zurückkehrt, auch deshalb darf die NATO-Aggression gegen Jugoslawien nicht ungesühnt bleiben.

 



[1]           Menschenrechte in der Welt, Dokumentation, Hrsg. Auswärtiges Amt, Bonn 1988, S. 60

[2]                                                            zit. nach Joachim Rohloff.  Deutscher Djihad, in: “konkret”, Mai/1999, S. 46

[3]           Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Stichworte zur Sicherheitspolitik, Bonn 1999, Nr. 5, S. 37

[4]           “Freitag”, 4.6.1999

[5]           Günter Gaus: Bericht aus der deutschen Etappe, in “Freitag”, 30.4.1999

[6]           zit. nach John Pilger “Revealed: the amazing Nato plan, tabled at Rambouillet, to occupy Yugoslavija”, “New Statesman”, 17.5.1999, S. 17

[7]           ARD-Sendung “Monitor” Nr. 449 vom 22.4.1999

[8]           Z. Brezinski: Die einzige Weltmacht, Weinhein und Berlin, 1997, S. 182

[9]           Ebd., S. 215

[10]           “Berliner Zeitung”, 12.7.1999

[11]           Neues Deutschland”, 28.4.1999

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