Noch im Sommer 1989, wenige Monate vor dem Zusammenbruch der osteuropäischen Entwicklungsdiktaturen, hatte Österreichs Außenminister Alois Mock, radikal-konservatives Aushängeschild der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), einen EG-Aufnahmeantrag nach Brüssel gesandt. Damals formulierter Zusatz: Teilnahme am westeuropäischen Integrationsprojekt nur mit Neutralitätsvorbehalt. Diese Vorsicht, die für absehbare Zukunft verhindern sollte, daß die kleine Alpen- und Donaurepublik in kriegerische Auseinandersetzungen der sich zunehmend imperialistisch gerierenden Europäischen Gemeinschaft verstrickt werden könnte, hörte sich noch ganz nach sozialdemokratischer Außenpolitik an. Bruno Kreisky und Erwin Lanc hatten diese in den 70er Jahren entwickelt. Sie war im Kern strikt westlich orientiert, jedoch auf Ausgleich zwischen den großen geopolitischen Räumen bedacht. Österreich unter Kreisky schlug politisches Kapital aus der exponierten Lage des Landes am Rande des westeuropäischen Zentralraumes. Mittlerfunktionen zwischen Bonn, Brüssel und der militärischen Schutzmacht USA auf der einen Seite und dem sowjetischen Block, aber auch der arabischen Welt, auf der anderen Seite prägten das außenpolitische Selbstverständnis der Epoche Bruno Kreisky. Alois Mocks konditioniertes Schreiben um EG-Aufnahme war ein letzter Ausläufer dieser Politik.
Der totale Schwenk erfolgte zwei Jahre später, im Sommer 1991. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und der Warschauer Pakt gehörten bereits der Vergangenheit an, die Sowjetunion befand sich im Stadium der Auflösung. Österreichs Außenpolitik nahm den Wegfall der europäischen Bipolarität zum Anlaß, die Tradition des geopolitischen Interessensausgleichs abzustreifen. Ab nun hieß die Devise “Eskalation statt Vermittlung”. Auf Neutralität wurde kein Wert mehr gelegt. Als Bauherr dieser neuen aggressiven Außenpolitik des Kleinstaates Österreich kann Andreas Khol bezeichnet werden, ausführende Organe fanden sich in der Person des Außenministers, Alois Mock, und seines höchsten Beamten, des Generalsekretärs im Außenministerium, Thomas Klestil. Als Aktionsfeld mußte der krisengeschüttelte Nachbar Jugoslawien herhalten. Deutschlands konservativ-liberaler Regierung mit ihrem Außenminister Hans-Dietrich Genscher kam die rabiate Parteinahme offizieller österreichischer Stellen für die nationalistischen Sezessionisten am Balkan gelegen. Damit konnten in Bonn die Fäden gezogen werden, während in Wien konkrete Desintegrationsschritte ausprobiert wurden.
Meine Zeugenschaft in diesem Tribunal basiert auf begleitender journalistischer Beobachtung der österreichischen Politik sowie regelmäßigen Gesprächen mit den außenpolitisch Verantwortlichen aus SPÖ, ÖVP und den Grünen.
Ein Schlüsselerlebnis bei der Einschätzung der österreichischen Rolle im Ringen um die jugoslawische Staatlichkeit widerfuhr mir im Juni 1991, genauer: am 21. Juni 1991 im Belgrader Palast der Föderation. Dorthin hatte US-Außenminister James Baker die Präsidenten der sechs jugoslawischen Teilrepubliken gebeten. Gemeinsam mit seinem dem jugoslawischen Kollegen Budimir Loncar bemühte sich Baker in einem letzten Kraftakt, die in Ljubljana und Zagreb bereits angekündigten Sezessionen der nördlichen Republiken Slowenien und Kroatien abzuwehren. “Wenn sich Slowenien in einigen Tagen für unabhängig erklärt”, so der Mann aus der Administration George Bushs, “werden wir diese Entwicklung nicht anerkennen. Wir wollen nicht, daß sich die Geschichte Jugoslawiens wiederholt”. Sie wiederholte sich – freilich anders als in den frühen 40er Jahren, jedoch mit ähnlichen politischen Parametern – doch. Österreichs Beitrag hiezu war beträchtlich.
Schon während des Rückfluges nach Wien stach die Diskrepanz zur Belgrader Wirklichkeit in Auge. Vorerst medial. Die eben noch von der jugoslawischen und amerikanischen Regierung als gefährlich eingestufte nationale Sezessionswut einzelner Teilrepubliken feierte Wiens Presse unisono als “Sieg der Freiheit”. Dem “demokratischen Westslawien” wurde propagandistisch das “rote Serboslawien” gegenübergestellt. Stimmen, die vor einer militärischen Eskalation im Falle der Anerkennung einzelner Teilrepubliken ohne einen gesamtjugoslawischen Konsens warnten – wie beispielsweise jene von Staatssekretär Peter Jankowitsch – wurden ausgeblendet oder gar verhöhnt. Das gab zu denken. Die Medieneuphorie zur kurz darauf am, 25. Juni 1991, erfolgten Unabhängigkeitserklärung Kroatiens und Sloweniens ging Hand in Hand mit der politischen Verantwortung österreichischer Offizieller, die die Zerschlagung Jugoslawiens in seine nationalen Bestandteile betrieben – rücksichtslos und in der vermeintlichen Überzeugung, gerade die Anerkennung von Sezessionsbestrebungen könne einen Bürgerkrieg verhindern. Es war damals schon klar, daß das Gegenteil der Fall sein würde. Um so mehr verwundert es, daß heute, wo die verheerenden Auswirkungen der unüberlegten Anerkennungspolitik unbestreitbar geworden sind, für die Verantwortlichen weder politische noch juristische Konsequenzen gezogen werden.
Bevor ich eine kurze Chronologie dieser Verantwortung entrollen werde, noch eine Klarstellung: Die ganzen Jahre der existentiellen Krise Jugoslawiens hindurch ging ein tiefer Riß durch die österreichische Regierungskoalition. Die ÖVP hatte schon zuvor die Außenpolitik an sich gerissen, ihre außenpolitischen Köpfe haben sich an den Bürgerkriegen im Nachbarland mitschuldig gemacht. Die Sozialdemokraten auf der anderen Seite müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, außer fallweise mahnender Worte kein politisches Handeln für nötig befunden zu haben. Insofern ist auch Bundeskanzler Franz Vranitzky anzuklagen, dem formal bestanden habenden Neutralitätsgebot nicht entsprochen und damit mutmaßlich die Verfassung des Landes gebrochen zu haben. Zugute halten muß man der österreichischen Regierung im Frühjahr 1999 – acht Jahre später – allerdings, wie sie sich trotz Drucks der NATO zumindest formal geweigert hat, den Tod und Zerstörung bringenden Kampfbombern der nordatlantischen Allianz die Überflugsrechte über den österreichischen Luftraum zu gewähren. Damit war Österreich neben der Schweiz das einzige Land Europas, das sich nicht direkt am 78-Tage-Krieg gegen Belgrad beteiligt hat.
Die Schuld der österreichischen Außenpolitik liegt weiter zurück als der NATO-Krieg. Sie wurzelt in der Anerkennungspolitik des Jahres 1991. Zu den Fakten: Die Fakten, die den Verdacht der Verletzung der völkerrechtlich anerkannten Neutralität Österreichs durch Begünstigung bzw. Unterstützung einer Konfliktpartei im innerjugoslawischen Streit erhärten, sind die folgenden:
1.) Österreichs Politik in der KSZE (heute: OSZE)
Am selben Tag, als James Baker in Belgrad die von den Regierungen in Ljubljana und Zagreb angekündigte, aber noch nicht ausgesprochene Unabhängigkeitserklärung zurückwies, tagte in Berlin die KSZE. Österreichs Außenminister Alois Mock erschien damals mit dem slowenischen Politiker – und späteren Außenminister – Dimitrij Rupel in der österreichischen Delegation am Konferenztisch. Das so “getarnte” slowenische Mitglied nahm damit noch vor der von Ljubljana verkündeten neuen Staatlichkeit an einer internationalen Konferenz teil, die gerade dabei war, Belgrad innerhalb der KSZE zu isolieren und in der Folge Jugoslawien vom KSZE-Prozeß auszuschließen. Rupels Einschleusung in die österreichische Delegation konnte in erster Linie nur der Brüskierung – und wohl auch der Provokation – Belgrads dienen.
2.) Drei österreichische Landeshauptleute feierten die slowenische Unabhängigkeitserklärung
Drei Tage nach der KSZE-Sitzung begingen Slowenien und Kroatien feierlich ihre Unabhängigkeit. USA und EG hatten erklärt, diese nicht anerkennen zu wollen. Noch kein Staat der Welt konnte sich zu einer demonstrativen politischen Solidarität mit den Sezessionisten durchringen. In dem Moment nützten der Sozialdemokrat Helmut Zilk (Wien) und die Christlichkonservativen Josef Krainer (Steiermark) und Christoph Zernatto (Kärnten) ihre Funktion als Landeshauptleute, um ein Signal gegen Belgrad zu setzen. Alle drei begaben sich – gemeinsam mit dem außenpolitischen Sprecher der ÖVP, Andreas Khol, – nach Ljubljana, um die erste nationale Abspaltung aus dem ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien zu bejubeln. Weder im österreichischen Außenministerium noch im Bundeskanzleramt regte sich über diese Einmischung in damals jedenfalls noch innere Angelegenheiten Jugoslawiens Protest. Schon zuvor hatten Kanzler Franz Vranitzky und Außenminister Alois Mock eine Reihe destabilisierender politischer Äußerungen und Taten prominenter österreichischer Politiker geduldet, die meiner Einschätzung nach neutralitätsgefährdend gewesen waren. Wie z.B.:
3.) Slowenien sollte Österreichs zehntes Bundesland werden
Im Frühjahr 1991, als das nationale Aufbegehren in den ehemaligen südlichen Kronländern der k.u.k.Monarchie erst langsam mehrheitsfähig gemacht wurde, diskutierte der österreichische Völkerrechtler und Mitglied des Nationalrates sowie Menschenrechtsexperte der UNO, Felix Ermacora, öffentlich einen Anschluß Sloweniens an Österreich. Slowenien, so meinte Ermacora, könnte – wohl weil er es für einen eigenen Staat zu klein hielt – das zehnte österreichische Bundesland werden. Diese ungeheuerliche Provokation Belgrads und auch Ljubjanas – auch dort wollte niemand etwas von dieser Bevormundung wissen – bewirkte bei der Regierung am Ballhausplatz keine hörbaren Proteste.
4.) Slowenischer “Botschafter” wurde in Wien inthronisiert
Anläßlich der Gründungsfeier einer österreich-slowenischen Gesellschaft am 2. Juli 1991 begrüßte Parlamentspräsident Heinrich Neisser in Anwesenheit von Wissenschaftsminister Erhard Busek (beide ÖVP) den gerade erst aus der Parlamentsfraktion der österreichischen Grünen ausgetretenen Karel Smolle als “Botschafter Sloweniens”. Er tat dies zu einem Zeitpunkt, als noch kein Staat der Welt die Selbständigkeit Ljubljanas anerkannt hatte. Diese Vorgangsweise bedeutete nicht nur einen diplomatischen Affront gegenüber Belgrad, sie war auch nicht in Einklang mit der offiziellen Politik Wiens zu bringen. Die Verletzung der völkerrechtlich anerkannten Neutralität Österreichs scheint mir in diesem Fall flagrant.
5.) Anerkennung slowenischer Reisepässe ohne rechtliche Grundlage
Weiterer Verdacht bezüglich der Verletzung des österreichischen Neutralitätsgebotes sowie internationaler Verträge im zwischenstaatlichen Umgang fiel auf das für Einreisebestimmungen zuständige Ministerium. Bereits Ende Juni 1991, vor jeder Anerkennung Sloweniens durch irgendeinen Staat der Welt, wurden slowenische “Reisepässe” von österreichischen Behörden als internationale Dokumente behandelt und anerkannt. Der Völkerrechtler Manfred Rotter bezeichnete diese Vorgangsweise am 29. Juni 1991 in den “Salzburger Nachrichten” als “eindeutig völkerrechtswidrig”.
6.) Direkte Einmischung in Kriegshandlungen vermutet
Es gibt Hinweise darauf, daß sich österreichische Staatsbürger direkt in die Kriegshandlungen zwischen der Jugoslawischen Volksarmee und der slowenischen Territorialverteidigung eingemischt haben. Ein “Tanjug”-Bericht vom 25. Juni 1991 spricht von einem abgefangenen Waffentransport eines österreichischen Spediteurs, der tags davor – also einen Tag vor der Erklärung der Unabhängigkeit – am Grenzübergang Spielfeld entdeckt worden sei. Kritik kam auch vom stellvertretenden Kommandanten des 5. jugoslawischen Militärbezirkes, General Andrija Raseta. Am 2. Juli 1991 meinte er, Österreich würde auf Seite Sloweniens in den Sezessionskrieg eingreifen. Die Einnahme von Zollstationen durch die slowenische Territorialverteidigung, so der jugoslawische General, sei durch österreichische Hilfe erfolgt. Als Indiz für diese nicht verifizierte Behauptung mag die Internierung von drei Soldaten der jugoslawischen Volksarmee im Militärgefängnis in Spittal an der Drau gelten. Oberst Markus Schüttelkopf vom österreichischen Bundesheer bestätigte am 2. Juli 1991 die Internierung, bestritt aber jeden Zusammenhang mit den Vorwürfen von General Raseta. Wie drei Soldaten derJugoslawischen Volksarmee in ein österreichisches Militärgefängnis gekommen waren, ist bis heute nicht geklärt. Ich rege dazu an, das Tribunal möge Oberst Schüttelkopf als Zeugen laden.
7.) ÖVP hielt Parteitag in Slowenien/Untersteiermark ab
Mitte August 1991 hielt die Regierungspartei ÖVP ihre traditionellen Steiermark-Wien-Tage just in Gorna Radgona ab, in jenem Teil der historischen Untersteiermark also, der zu Slowenien gehört. Die slowenischen Separationspolitiker mußten diesen Affront, der wohl dem Geist des Ermacora-Anschlußgedankens entsprungen war, ohne Widerspruch zur Kenntnis nehmen; Belgrad protestierte. Das österreichische Außenministerium stellte sich unwissend.
8.) Sezession oder Krieg
Letztlich unterstützten alle österreichischen Parlamentsparteien die Politik einer raschen Anerkennung der sezessionistischen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien, später auch von Bosnien-Herzegowina. Insbesondere Grüne, FPÖ und ÖVP gerierten sich als Schutzherren der kroatischen und slowenischen Nationalstaatlichkeit. Die zwei Kroatinnen in der grünen Parlamentsfraktion, Grandits und Stoisits, spielten dabei eine Vorreiterrolle. Und ihr Ex-Kollege Smolle von der slowenischen Minderheit in Österreich fungierte als wichtiges Bindeglied zwischen Laibach und Wien. Kompromißloses grünes Vorpreschen in Sachen slowenischer und kroatischer Unabhängigkeit nützte Außenminister Alois Mock auf internationaler Bühne. Er sandte seinen damaligen Sonderbeauftragten, den späteren Bundespräsidenten Thomas Klestil, nach Washington, um James Baker von der Notwendigkeit der Auflösung Jugoslawiens zu überzeugen. Rasche staatliche Anerkennung der Teilrepubliken, so der allgemeine Tenor, bedeute Konfliktvermeidung; eine etwaige politische Krise könnte damit im Keim erstickt werden. Das Stichwort „Anerkennung“ stand synonym für Friedenserhaltung. Einzig die SPÖ ließ noch im September 1991 Skepsis durchblicken: “Der Akt der Anerkennung muß gegenüber allen gesetzt werden”, meinte beispielsweise Staatssekretär Jankowitsch; was ihm prompt die Bezeichnung „Serbenfreund“ von Seiten der ÖVP eintrug. Schließlich schwenkten auch die Sozialdemokraten, wie in vielen anderen Fragen, auf ÖVP-Kurs um.
9.) “Bombardiert Belgrad!”
“Ein Minimum an Gewalt ist unausweichlich”, kommentierte Alois Mock sein an die USA gerichtetes Memorandum, in dem er US-Präsident George Bush Ende 1992 aufforderte, militärische Maßnahmen gegen die Serben zu setzen. Zusammen mit seinem polnischen und slowenischen Amtskollegen pilgerte der kranke Mann vom Ballhausplatz nach Washington. Das dort deponierte Memorandum der “Zentraleuropäischen Initiative” bettelte um eine Intervention für die bosnische Regierung, mindestens jedoch eine Aufhebung des Waffenembargos für die muslimische Armee.
Der Repräsentant eines neutralen Landes, in dem ironischerweise zur gleichen Zeit den letzten personellen Relikten der Kreiskyschen aktiven Außenpolitik wegen angeblichen Neutralitätsbruches gegenüber dem Irak der Prozeß gemacht wurde, begab sich ohne Scham zur Militärmacht Nr. 1 und bat mangels eigener Kapazitäten um Wiederholung der Geschichte. Einer Geschichte wohlgemerkt, in der Österreich weder neutral noch Republik gewesen war, sondern monarchisches Reich beziehungsweise Ostmark. Der sozialdemokratische Wiener Bürgermeister Helmut Zilk setzte nach: Auch österreichische Freiwilligenverbände sollten nach Bosnien gegen die Serben ziehen, meinte er Mitte Juni 1992 in einer Fernseh-“Pressestunde” des ORF. Ob Zilk dabei an Ex-Bundespräsident Kurt Waldheim denken mußte, der 50 Jahre zuvor in deutscher Wehrmachtsuniform vor Ort “seine Pflicht erfüllte”?
Die Forderung eines neutralen Staates nach militärischem Eingriff in einer benachbarten Region scheint mir jedenfalls kriegshetzerisch und verfassungswidrig zu sein.
10.) Österreichs Mitverantwortung für das Embargo gegen Jugoslawien
Am 30. Mai 1992 beschloß der UNO-Sicherheitsrat mit der Resolution 757 weitreichende Sanktionen gegen Jugoslawien. Als Anlaß diente ein Massaker in der bosnischen Stadt Sarajewo drei Tage zuvor, bei dem 16 Menschen, die zum Brotkauf Schlange gestanden hatten, auf schreckliche Weise vor den Linsen bosnischer Fernsehkameras zu Tode gekommen waren. Die Täterschaft ist bis zum heutigen Tage ungeklärt. Ein UN-Bericht, der Zweifel an der von bosnischen und westlichen Medien in Umlauf gesetzten Version einer von Serben abgefeuerten Mörsergranate enthielt, erreichte UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali nicht. Der damalige österreichische UN-Botschafter Hohenfellner – Österreich war zu jener Zeit im Sicherheitsrat vertreten – wurde von mehreren Stellen für die bewußte Zurückhaltung dieser UN-eigenen Informationsquelle verantwortlich gemacht. Ein Embargobeschluß gegen Jugoslawien wäre ohne vermeintlich eindeutige Täterschaft der serbischen Seite nicht mehrheitsfähig gewesen. Jahrelanges Embargo gegen Belgrad beruhte damit auf der ungeklärten Täterschaft eines Terroraktes, zu dessen Aufklärung die österreichische Diplomatie zumindest nicht beigetragen hat. Insofern liegt auch hier der Verdacht einer neutralitätsgefährdenden Handlung vor.
11.) Wolfgang Petritsch beschleunigte die NATO-Intervention
Anfang August 1999 erreichte die Einmischung seitens österreichischer Offizieller einen weiteren Höhepunkt. Der Botschafter Wiens in Belgrad, Wolfgang Petritsch, wurde als Vertreter der Europäischen Union in die Kontaktgruppe zur Lösung des Konflikts um den Kosovo entsandt. Gemeinsam mit dem US-Vertreter Hill hatte er den sogenannten Rambouillet-Prozeß vorbereitet und letztlich zu einem kriegerischen Abschluß gebracht. Die Zeugenaussage von Wilfried Graf bestätigt dies indirekt. Zu den konkreten Vorwürfen:
Wolfgang Petritsch hat als Diplomat eines neutralen Landes – das blieb er trotz seiner Rolle innerhalb der Europäischen Union – unter einem militärischen Drohszenario Verhandlungen geführt. Die acitivation order der NATO vom 12. Oktober 1998, die Belgrad mit Luftschlägen gedroht hat, hätte eigentlich einen verantwortungsbewußten Diplomaten vom Rambouillet-Prozeß abhalten müssen. Damit gerieten nämlich die Verhandlungen ganz automatisch zu einem politischen Druckmittel in einem militärischen Szenario, das – wie sich bald herausstellte – gegen Serbien eingesetzt wurde. Dazu kam, daß Petritsch‘s Unterschrift unter das nur von der albanischen Seite unterzeichnete Papier dem Einmalseins des römischen Rechtsverständnisses widersprach. Verträge sind nämlich nur dann als solche zu bezeichnen, wenn erstens beide Seiten unterschreiben und zweitens kein Druck, keine List, Arglist und kein Zwang auf eine der beiden Seiten ausgeübt wird. Es wurde also Mitte März 1999 in der Avenue Kléber kein Vertrag unterzeichnet. Daß Petritsch sich an der medialen Inszenierung der Unterzeichnung beteiligt hat – der russische Unterhändler gab sich dafür nicht her – stellt ihm nicht nur ein klägliches Zeichen als Diplomat aus, sondern zeigt auch ein sonderbares Rechtsverständnis des österreichischen Botschafters. Im Zivilrecht ist klar geregelt, daß keine Pflichten und Rechtsfolgen eintreten, wenn Dissens zwischen den Parteien besteht, daß sohin kein Vertrag zustandekommt. Petritsch hat dennoch wochenlang wissentlich den Eindruck erweckt, es sei in der Avenue Kléber der sogenannte “Rambouillet-Vertrag” unterzeichnet worden. In Wahrheit handelte es sich dabei um ein politisches Druckmittel gegen Belgrad. Indirekt bestätigte dies auch der ehemalige US-Außenminister, Henry Kissinger, der in der “Welt am Sonntag” vom 28. Februar 1999 schrieb: “Von Jugoslawien, einem souveränen Staat, verlangt man die Übergabe der Kontrolle und Souveränität über eine Provinz mit etlichen nationalen Heiligtümern an ausländisches Militär. Analog dazu könnte man die Amerikaner auffordern, fremde Truppen in Alamo einmarschieren zu lassen, um die Stadt an Mexico zu übergeben, weil das ethnische Gleichgewicht sich verschoben hat.” Auch George Kennedy sah im Rambouillet-Prozeß ein politisches Druckmittel: “Wir haben die Latte absichtlich zu hoch gelegt, als daß die Serben hätten zustimmen können.” Für dieses Szenario trägt Petritsch einen gehörigen Teil der Verantwortung.
12.) Die Kolonisierung Bosniens
Und Petritsch trägt weiter große Verantwortung für das, was zur Zeit in Bosnien-Herzegowina passiert. Als “Hoher Repräsentant der internationalen Staatengemeinschaft” hat er beispielsweise am 29. November 1999 22 Kommunalpolitiker, darunter den Bürgermeister der größten mehrheitlich serbisch besiedelten Stadt, Djordje Umicevic, in einem politischen Gewaltakt ihrer Ämter enthoben. Die Attitüde der “internationalen Staatengemeinschaft” in Bosnien erinnert fatal an die kolonialistische Verwaltung des Landstriches unter der österreichisch-ungarischen Monarchie gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Für das republikanische, neutrale Österreich stellt sie eine Schande dar.
Soweit meine Zeugenaussage, die sich – wie gesagt – auf begleitende journalistische Beobachtung stützt und nun von ihnen, wertes Tribunal, beurteilt werden muß.
Hannes Hofbauer
Wien, am 4. Dezember 1999
Zur Person:
Hannes Hofbauer, geboren 1955 in Wien, ist Historiker. Er arbeitet als Journalist und Verleger in Wien. Zuletzt ist von ihm Ende 1999 das Buch “Balkankrieg. Die Zerstörung Jugoslawiens” im Verlag Promedia erschienen.