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Man zögert, sich an J. Habermas abzuarbeiten. Das erinnert zu sehr an die scholastisch-akademischen Übungen, womit sich hoffnungsfrohe junge Leute in Dissertationen und Habilitationen ihre Meriten verdienen müssen. Aber im deutschen Sprachraum spielt Jürgen Habermas die Rolle eines Leit-Intellektuellen für die Liberalkonservativen, von denen ein Teil sich Linksliberale nennt. Er wurde parteienübergreifend, von der FAZ bis zur „Zeit“, zum wichtigsten Ideologen der Globalisierung und zum Programmatiker des supranationalen, wie er schreibt: des postnationalen Staats (Habermas 1998). Man kommt also um eine Auseinandersetzung nicht herum, auch wenn es fast hoffnungslos ist, gegen diese Ideologie anzuschreiben: Denn seine gläubigen Leser wollen von ihm versichert bekommen: Die EU ist „die erste Gestalt einer postnationalen Demokratie“ (1998, 135).
Inhaltlich könnten wir Scharpf oder Zürn zitieren (Scharpf ist jedoch inzwischen wesentlich kritischer als auch schon). Doch Charaktere wie Habermas haben im Kreis der ehemaligen Studentenbewegung ein ganz anderes Gewicht, ein wirkliches Prestige. Auch ist die sich den Leitartikeln annähernde Stilistik von „Weltbürgerkrieg“ und „Weltinnenpolitik“ aktiven Professoren nicht im selben Ausmaß gestattet wie der Ikone des langen Marsches in die Institutionen und ihre Privilegien.
Seine an U. Beck angelehnte Analyse ist dürftig; der Jargon rief seinerzeit unter den Adepten der Frankfurter Schule Begeisterung hervor, klingt aber mittlerweile eher lächerlich („normativ ermäßigt“, „Gebrauchswert der Bürgerfreiheiten“, „deliberierende Körperschaften“, …). Es ist ein neuer Jargon der Eigentlichkeit – wie die Frankfurter die Philosophie des den Nazis ergebenen Professors Heidegger qualifiziert haben. Doch Habermas’ Ansätze sind in deutschen hegemonialen Zirkeln einflussreich. Sie sind diffus, aber sie haben ihre politische Wirkung. Das gehört zu dieser Art von Ideologie und trägt zum Erfolg in seinem intellektuellen Publikum bei. Die Hauptaussage lautet: „Die regulatorische Kraft der Politik [muss] den Mächten, die sich dem Zugriff der Nationalstaaten entziehen, nachwachsen“ (79). Politik muss den „endgültigen Globalisierungsschub“ nachvollziehen, am besten „vorauseilend“ (83) durch den „Aufbau supranationaler Institutionen“ (84). Und er vergisst auch nicht seine Peers: „Sozialwissenschaftliche Anstrengungen“ spielen eine erhebliche Rolle, um „eine kosmopolitische Zwangssolidarisierung“ (88) zu erreichen, durch eine „vorgängig reformierte Wertorientierung der Bevölkerung“ (168). Denn „die regierenden Eliten dürfen nicht dafür bestraft werden, dass sie nicht länger in nationaler Unabhängigkeit agieren“ (167 f.). Also: Wir müssen die Bevölkerung „vorgängig“ indoktrinieren, wenn wir nicht Wahlergebnisse à la Brexit oder Italien 2018 riskieren wollen.
Der von ihm mehr empfohlene als diagnostizierte Verfassungs-Patriotismus als nationales Prinzip ist, mit gutem Willen interpretiert, das, was ich politisches Projekt nenne. Aber es ist die staatsfromme und konformistische Version davon, während im politischen Projekt noch der Konflikt im Vordergrund steht. Was er nicht erkennen kann, ist die Dialektik zwischen dem auf das konkrete gute Leben gerichteten Alltag und der Transzendenz der Gesellschaft im Staat. Bei Habermas dient der Verfassungspatriotismus als politischer Kniff, der ihm den Umstieg von der Nation auf das Imperium leicht macht. Denn eine Verfassung hat auch dieses. Und die These vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ braucht er, um ein „koordiniertes Vorgehen auf supranationaler Ebene“ gegen (!) die „neoliberale Verkürzung“ der Gesellschaft zu evozieren.
Habermas belässt es nicht beim Kongruenzproblem. Im Stil des Ortega y Gasset schreibt er: „Globale Märkte sowie Massenkonsum, Massenkommunikation und Massentourismus sorgen für die weltweite Diffusion einer (überwiegend von den USA geprägten) Massenkultur“ (114). Eine „kommodifizierte Einheitskultur … scheint auch im Westen selbst die nationalen Unterschiede zu nivellieren“ (115). Da haben wir also den Salat, wenn man die Nation mit der Kultur-Differenz begründet! Auch damit ist Habermas repräsentativ für die aggressivsten Kritiker der Nation: Diese Globalisten übersehen dabei, dass sie sich theoretisch damit auf die Ebene der von ihnen bekämpften Ethnonationalisten stellen. Die Ursachen und Folgen können wir sofort erkennen. In der kulturkritischen Aufzählung dieser „Anthropologie des Massenkonsums“ gibt es keine Klassen. Aber was wollen wir von einem Menschen, der Ende der 1960er allen Ernstes die Meinung vertritt: Es gibt keine Warenproduktion mehr (Habermas 1968)!? Hören wir Habermas selbst! Der „tiefe Konflikt zwischen Glaube und Wissen“ kennzeichne die europäische Entwicklung; „durch Eifersucht zwischen den Nationen“ entstehen Kriege (1998, 156). An die Stelle einer Einsicht in die kulturelle Form sozialer, auch ökonomischer Beziehungen und deren absichtsvolle, instrumentelle Ideologisierung tritt eine Kulturalisierung der gesellschaftlichen Strukturen. Die soziale Differenz, die ungleichen Lebenschance und ihre Konsequenzen, werden zur Kultur-Differenz. Der Kampf der Kulturen ist der nächste logische Schritt. Wir finden wir ihn auch positiv bewertet im „Konflikt der Kulturen“ (191).
Jeder seriöse Kultur-Soziologe weiß, dass die Kultur-Unterschiede zwischen den Klassen um vieles wichtiger sind als kulturelle Unterschiede etwa zwischen national unterschiedlich zugehörigen Akademikern oder sonstigen oberen Mittelschichten. Und nicht unwichtig ist: Die einzigen nationalen Unterschiede, die möglicher Weise noch Gewicht haben, bestehen zwischen den Unterschichten in verschiedenen Ländern.
Die Jeremiade von der „Massenkultur“ erschlägt eine durchaus wichtige Feststellung: Diese „Massenkultur“ ist der volkssouveräne Ausdruck, welchen die Globalisierung wider ihre Absicht auch befördert hat. Die bürgerliche Nation des Jahrhunderts von 1850 – 1950 ist zur Volksnation, zur Massennation geworden. In seiner frühen Schrift, dem „Kulturwandel“ (1962), hatte Habermas noch eine Ahnung von dieser Tatsache, wenn er „die Öffentlichkeit“ in Wirklichkeit auf das Bürgertum beschränkte. In der umfangreichen Zitatensammlung von 1981 – in den 1500 Seiten der beiden Bände finden wir hunderte (!) Seiten an Zitaten – ging diese Einsicht bereits verloren. Nun ist nichts mehr davon übrig geblieben. Der angeblich progressive letzte Abkömmling der „kritischen Theorie“ wendet sich gegen den „rückwärtsgewandten Blick von Modernisierungsverlierern“ und preist das „befreiende Potenzial der erzwungenen Öffnung“ (1998, 130) als eine „liberal erweiterte Moderne“. Auch das gehört zum Standard-Programm der Propagandisten des Imperiums. Und selbstverständlich darf das „soziale Europa“ nicht fehlen.
Der eigentliche Trick dieser theoretisch-ideologischen Bemühungen ist einfach und doch wieder schwer durchschaubar. Man kann vielen Aussagen dieser Texte auf weiten Strecken folgen. Doch es ist der Stil, der den falschen Ton hineinbringt: Die Spitzensteuern wurden nicht gesenkt – sie „sind gesunken“ (106); der Nationalstaat „verliert zunehmend“ seine Steuerungs- und Besteuerungsfähigkeit, nicht seine Regierungen geben sie auf, im Sixpack z. B. … Aus bewusster und zielgerichteter politischer Aktion wird ein spontaner, naturgesetzlicher Vorgang. Sprache und Wortwahl machen analytische Aussagen zur Ideologie des Globalismus und Supranationalismus.
Habermas hat gewiss Recht: Die supranationale „Integration“ wird sich „nicht von selbst ergeben“. Auch die Nation und der Nationalstaat ergaben sich nicht von selbst. Sie wurden zielgerichtet in den Schulen eingepaukt, so wie heute in den Schulen ebenso zielgerichtet die EU als sie Krönung der europäischen Geschichte eingepaukt wird. Für Abweichler gibt es da keinen Pardon. Auf diese unfeinen, weil äußerst repressiven Prozesse wollen sich die Ideologen der europäischen Republik nicht einlassen. Der „egalitäre Universalismus des europäischen Moderne“ war bis vor Kurzem – in Österreich etwa bis vor einem Viertel-Jahrhundert – ein Privileg der höheren Bildung. Mittlerweile ist er in den Kindergärten und Grundschulen angelangt. Dort nimmt er die handgreifliche Form des Kopftuch-Verbots für sechsjährige Mädchen und der Strafandrohung für ihre Mütter an.
In dieser Auseinandersetzung gibt es einen Punkt, wo es für den distanzierten oppositionellen Beobachter schwierig wird, eine Debatte weiterzuführen. Der lässt sich am Fall Habermas klar benennen. Er gilt grundsätzlich für den Reformismus überhaupt und für den Integrationismus in seinem doppelten Sinn: als Integration in das bestehende System, und als Integration der bestehenden nationalen Systeme in die neoliberale globale Welt. Es geht um die harmonistische Grundhaltung zum realen Staat.
Habermas hat bereits im „Strukturwandel“ seine ganze Hoffnung auf die vernünftige Auseinandersetzung der politischen Akteure in der bürgerlichen Öffentlichkeit gesetzt. Wir erinnern und wiederholen: Das war 1962. Das fand in einer BRD statt, wo soeben jede radikale Opposition formell verboten worden war und damit eine Grundsatz-Debatte verhindert werden sollte. Dieser Kontext ist wichtig. Habermas hat diesen Ansatz aus einer repressiven Zeit als deliberative Demokratie verallgemeinert, als er die Entschuldigung eines permissiveren Meinungs-Klimas zu haben glaubte. Aber auch hier fügen wir eine störende Erinnerung ein: In den 1980ern hatte die Auseinandersetzung um die Aktionen der RAF, der Baader-Meinhof-Gruppe, dieses permissive Klima bereits erledigt.
Wer das Muster für die „bewusstlose“ Stellung von Intellektuellen – um eine Reverenz vor dem neuen Jargon der Eigentlichkeit zu machen – kennen lernen will, soll die „Konzeptionen der Moderne“ (1998, 195 ff.) lesen. Dort findet man nicht den Schatten einer Erkenntnis der eigenen Klassen-Position, der eigenen Identität und des eigenen Interesses. Wenn man je eine Ideologie im Mannheim’schen Sinn diagnostizieren kann, dann hier. Seine „kommunikative Vernunft“ ist der platonistische, nämlich auf Herrschaft gerichtete Anspruch des Intellektuellen Habermas: Er will für die ganze Welt sprechen, weil diese Vernunft, diese „Produktivkraft Kommunikation“ (229) „immer schon am Werk“ war (225).
Politisch ist es das Vertrauen auf den bestehenden Staat, welches die Grundlage nicht nur bei Habermas, sondern bei den heute gezähmten Teilnehmern an der Studentenbewegung bildet. Dieses Staatsvertrauen wird auf die EU übertragen: Diese bildet ohnehin den Fluchtpunkt für alle, die vom nationalen System frustriert sind. Da treffen sie sich mit den ehemaligen Maoisten, die auf neue Weise „dem Volke dienen“ wollen. Dieses naive, wahrscheinlich aber eher bewusste Staatsvertrauen bildet den radikalen Gegensatz zur Lenin’schen Haltung: Man kann den bestehenden Staat nicht in den Dienst nehmen – man muss ihn zerschlagen! Zwischen diesen beiden Polen ist eine Debatte schwierig bis unmöglich.
Habermas, Jürgen (1962), Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied: Luchterhand.
Habermas, Jürgen (1968), Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie’. Frankfurt / M.: Suhrkamp
Habermas, Jürgen (1981), Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (1998), Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt / M.: Suhrkamp.
(Die Bilder sind dieser Veröffentlichung beigefügt und nicht im Buch enthalten)