Die Ölkrise 1973 / 74 machte sich in Rom im Dezember unangenehm bemerkbar. Es fiel Schnee, es war kalt. Aber selbst die meist unzureichenden Heizmöglichkeiten nützten nichts, wenn man in einem Untermietzimmerchen saß und schlicht kein Öl bekam. Das war nicht überall so: Bei einem Besuch im Collegium Germanicum konnte ich feststellen, wie überheizt die komfortablen Zimmer für die künftige kirchliche Elite dort waren: Man musste die Fenster öffnen, um es auszuhalten.
Es wurden Krisen-Maßnahmen getroffen. Der Sonntag musste autofrei bleiben. Eine der Zeitungen schrieb damals: Die Sonntagsliebe fällt aus. Eine ziemlich drastische Folge! Doch die gesamte Bevölkerung unterwarf sich ziemlich willig den von der Regierung verordneten Beschränkungen. Es war das kurzfristigste und härteste Disziplinierungs-Programm, dem die italienische Bevölkerung seit dem Zusammenbruch des Faschismus unterzogen wurde. Und es wirkte. Denn es setzte an einem Punkt an, welcher für ziemlich alle in der Bevölkerung klar war. Man musste sich zusammenreißen, denn diesmal war es ernst.
Einige Monate später erfuhr man auch aus italienischen Zeitungen: Damals kreuzten vor der italienischen Küste eine Reihe von Öltankern, die man, aus unerfindlichen Gründen, nicht anlanden ließ.
Das freilich heißt nicht, dass es die Ölkrise und ihre fundamentalen Folgen für die Weltwirtschaft nicht gab. Damals setzte ein Wendepunkt der Weltpolitik ein.
Die Covid-Krise setzt an einem Punkt an, an welchen alle Menschen irgendwie empfindlich sind. Die Sterblichkeit bei dieser Viruserkrankung ist erhöht, auch wenn die verfügbaren Zahlen und Daten vielfach absurd wirken: Sie sei, nach irgendwelchen Zeitungen, in der BRD 0,2 % und Italien dagegen 5,8 % (Standard, 10. März 2020). Alle wissen, dass dies absurd ist.
Und insgesamt scheint die Sterblichkeit zwar um etliches höher zu sein, als bei anderen Formen von viralen Atemwegserkrankungen, die uns bisher in den letzten Jahren getroffen haben. Aber andererseits scheint sie auch wieder nicht so dramatisch zu sein, wie die öffentliche Hysterie glauben lässt. Selbst die systematischen Beschwichtigungs-Versuche der diversen Regierungen wirken eher in die Gegenrichtung und vermitteln den Eindruck: Die Pest ist im Anrollen. Als Bildungsbürger erinnert man sich an die Einleitung zum Decamerone des Boccaccio.
Es ist im Grund ziemlich einfach. Die Eliten und ihre Regierungen können ihre Ziele nur durchsetzen, wenn Krisen die Menschen biegsam und nachgiebig machen. Das heißt nicht, dass die Krisen selbst von diesen Kreisen gemacht werden. Das versuchen sie zwar immer wieder einmal. Doch wenn es nicht einen vitalen, einen existenziellen Punkt gibt, an welchen sie eine Krise aufhängen können, funktioniert dies nicht. Wir konnten dies in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder beobachten. Gibt es diesen Punkt aber, dann können sie durchaus verstärkend tätig werden und tun dies auch.
Ein Großteil der Menschen bei uns steht der EU mittlerweile kritisch bis sehr kritisch gegenüber. Doch dann kommt eine Krise. Ob dies Einwanderer aus der Dritten Welt sind oder aber eine gesundheitliche Bedrohung, steht nicht wirklich zur Debatte. Und was passiert? Dieselben Leute, welche ziemlich grantig auf die ständigen Einmischungen der Brüsseler und sonstigen Bürokratie in die heimische Politik und Wirtschaft reagieren, rufen plötzlich: Die EU muss was unternehmen!
Die Linke hat stets auf „die“ Krise gewartet, um ihr politisches Projekt in die Bevölkerung bringen zu können. Das ist taktisch und strategisch verständlich. Wenn die Alltags-Routine so recht und schlecht funktioniert, dann gibt es für die meisten Menschen keinen Grund, sich nach einer Alternative umzusehen.
Aber in einer Situation so unbeschränkter Hegemonie der herrschenden Kräfte, wie wir sie heute beobachten müssen, dienen Krisen dieses Ausmaßes, Krisen mittlerer Reichweite, stets dazu, den Zugriff der Eliten und ihres Staats auf die Bevölkerung und ihr Verhalten zu stützen. Und eine revolutionäre Krise ist weit und breit nicht abzusehen.
Wir könnten – und sollten – dies theoretisch durchaus ausbauen, über die Dialektik der Geschichte sprechen; über die Notwendigkeit der politischen Reaktion auf solche Prozesse – und über die Notwendigkeit, die realen politischen Reaktionen zu kontrollieren. Mitten in einem solchen Ablauf ist aber das Interesse an solchen abstrakt-theoretischen Überlegungen beschränkt.
Heißt dies, dass wir uns einfach fügen und alles abnicken sollen? Das wäre das Missverständnis schlechthin. Was allerdings wenig Sinn macht, ist ein Frontalangriff auf die Krisen-Strategien als solche. Richtig: Jede dieser Krisen wird genutzt, um die Disziplinierung zu verschärfen. Jede dieser Krisen dient dazu, die Staatsmacht und die Staatsgewalt einzusetzen und die Bevölkerung an solche – man kann es kaum anders nennen – Ausnahme-Zustände und -Situationen zu gewöhnen, durchaus in einem Sinn, wie sie Carl Schmitt meinte. Doch solange wir nicht die Möglichkeit haben, wirklich zu intervenieren, bleibt uns nur: Sich nicht an der Hysterie zu beteiligen
AFR, 12.3.2020