Wir wollen keinesfalls bezweifeln, dass energische Maßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung des Virus notwendig sind. Die sind nicht zuletzt deswegen unerlässlich, weil Jahrzehnte des neoliberalen Regimes die öffentlichen Gesundheitssystem im Westen und insbesondere in der EU schwer ramponiert hat.
Möglicherweise hätte die Epidemie auch ein Gesundheitssystem auf dem Höhepunkt des Sozialstaats in Schwierigkeiten gebracht. Dennoch, wir erlauben uns Fragen zu stellen hinsichtlich der Darstellung der Gefahr, sowie der Verhältnismäßigkeit und Zielgerichtetheit der Maßnahmen. Und wir wollen insbesondere auf eine enorme politische Gefahr hinweisen: Diese scheinbare Naturkatastrophe bricht über eine Gesellschaft herein, die schon zuvor von einer heftigen Krise erschüttert worden war. Jahrzehntelang haben die neoliberalen Eliten den politischen und sozialen Kompromiss kaputtgeschlagen. Ihre Herrschaft hat immer stärker die Form der Oligarchie angenommen, wo sie nicht nur immer mehr Reichtum zusammenraffen, sondern auch die politischen, kulturellen und medialen Apparate vollständig kontrollieren. Die Demokratie wurde auf das Äußerste ausgehöhlt, immer unter Bedacht darauf das formale Gerippe stehenzulassen.
Für die Herrschenden ist die nun verhängte Ausnahmezustand natürlich ein wirtschaftliches Problem, aber in gewisser Weise auch eine große politische Chance. Abgehalfterte Neoliberale wie Macron können in der Retterpose wieder Zustimmung gewinnen. Fast alle Regierungen in Westeuropa dürfen sich gegenwärtig über einen Höhenflug bei den Sympathiewerten freuen. Es ist unvermeidlich, dass die Eliten die Situation der Angst maximal zu nutzen versuchen werden. Nicht umsonst stellt die Rettung aus einer Notsituation die klassische Bühne für Diktatoren dar, umso leichter, wenn sich die Bedrohung als außergesellschaftliche, politisch neutrale Gefahr darstellt. Aber wir sind noch ganz am Anfang und der Ausgang des Theaters ist noch keine ausgemachte Sache.
Rundblick in Europa – Volksopposition Dämpfer versetzt
Insbesondere die südeuropäischen Länder und auch Frankreich durchlebten eine jahrelang sozioökonomische und politische Krise. Das EU-Austeritätsregime, durchgesetzt von den eigenen Eliten mit dem deutschen Zuchtmeister im Rücken, hat die Hegemonie verloren und ist immer schwerer durchzusetzen. Auch wenn es keine konsistente Alternative gibt, werden zahlreiche tastende Versuche in den unterschiedlichsten Formen unternommen.
Das Koalitionskabinett Conte aus Fünfsternen und PD galt schon als dem Ende nahe. Doch nun steht der Premier als strahlender Macher da und scheint sogar einen Hebel gegen die EU-Austerität zu haben, an der bisher alle seine Vorgänger, insbesondere seine eigene Regierung mit der Lega, gescheitert waren. Die Kritiker sind zuhause weggesperrt. Und nicht nur wer sich an die Ausgangssperren nicht hält, sondern selbst diejenigen, die sie sie politisch kritisieren, sollen verfolgt werden.
Ähnlich steht es in Frankreich, wo sich soziale Opposition durch die institutionelle Verschließung nur auf der Straße äußern kann. Macron spricht von Krieg gegen das Virus und legt das öffentliche Leben lahm. Jetzt gibt es noch mehr Legitimation den latenten Bürgerkrieg in den Armenvierteln anzuheizen. Dem öffentlichen Dienst wird ein fast militärischen Arbeitsregime verordnet. Zwar hat der Präsident seine eigene heftig bekämpfte Pensionsreform nach hinten verschoben, doch die Opposition der Gelbwesten und auch die Streikbewegung ist von der Straße gefegt.
An der osteuropäischen EU-Peripherie gibt es zwar keine artikulierte soziale Opposition, doch die Rechtspopulisten spielen natürlich auch mit dem Sozialen. Ihr Aufstieg ist letztlich Ausdruck des Scheiterns des nackten oder links geschminkten Wirtschaftsliberalismus. Die autoritäre Verhärtung zeigt indirekt, dass es in diesen Gesellschaften scharfe Spannungen auch sozialen Natur gibt. Orban nutzt nun die einmalige Chance das Parlament, das er sowieso mit einer Zweidrittelmehrheit dominiert, auszuschalten und per Dekret zu regieren.
China als Vorbild – dabei haben andere asiatische Länder erfolgreich sanfter reagiert
China gilt als großes Vorbild, da es mit den härtesten Maßnahmen für das Erste das Virus zurückgedrängt hat – wobei man sich die Frage stellen muss, was passiert, wenn die Beschränkungen aufgehoben werden. (Und wenn nichts passieren sollten, ergeben sich Zweifel an der Darstellung der Bedrohung.) Bemerkenswert ist, dass die Vorbildwirkung auch für rechte Kräfte gilt und dass der Verweis auf das staatskapitalistische China die Durchsetzung autoritärer Maßnahmen vielerorts sogar erleichtert, denn die prowestlichen Eliten haben das Vertrauen vieler einfacher Menschen schon völlig verloren.
Dabei geht unter, dass wohlhabendere asiatische Gesellschaften, die auch mit Westeuropa besser vergleichbar sind, wie Japan, Südkorea oder Taiwan, mit viel weniger autoritären und zerrüttenden Maßnahmen ebenfalls das Virus zurückdrängen konnten. Man beschränkte sich darauf die einzelnen Infektionen auf- und ihnen nachzuspüren, sie zu isolieren und sie zu behandeln, ohne den Ausnahmezustand zu verhängen. Natürlich war das auch möglich dank viel stärkerer Gesundheitssysteme. Jedenfalls sind die Intensivstationen dort keineswegs überlastet und es gibt auch nicht die täglich steigenden Todesmeldungen. Nicht zu vergessen, dass der soziale Zusammenhalt in diesen Nationen größer ist und viel weniger überhaupt durch den Rost fallen. Man vertraut dem Staat mehr, weil er nicht die gleiche feindliche Rolle gegen die Mehrheit eingenommen hat wie in Westeuropa.
Boris Johnson hat in einer Art liberalem Populismus zuerst keine Maßnahmen setzen wollen. Da war auch ein Schuss Ärger über die Erfolge der KP China dabei, bei Trump noch mehr als ein Schuss. Doch als Mutterländer des Neoliberalismus mit kaputtem öffentlichem Gesundheitswesen erscheinen sie auf die Bedrohung in keiner Weise gerüstet und mussten dann Kehrtwende machen, auch unter dem Druck der Medien, die ja Teil des Regimes sind. Nur noch Schweden verfolgt eine dezidiert weiche Linie, ohne allgemeine Ausgangssperren. Dort isoliert man vor allem die gefährdete Personengruppe.
Messias Kurz
Auch schon vor Corona stand Kurz gut da, das muss man einräumen. Er hatte sich die Grünen dienstbar gemacht und sein neoliberales Programm auch nach links hin abgesichert. Wenn er sich Sorgen machen musste, dann vor allem um den Gesundheitszustand seines politischen Partners.
Als „Macher“ reagierte er auf die Fernsehbilder aus Italien als einer der ersten in Europa mit dem „Lockdown“. Den koreanischen Weg hatte die Regierung mit Ischgl verpasst und auch nicht in Erwägung gezogen. Auch die Gesundheit des Gesundheitswesens scheint ihnen nur von sekundärer Bedeutung gewesen sein. Der Paukenschlag der Quarantäne war symbolisch stark genug, um als Retter zu erscheinen. Alle politischen Kräfte haben sich hinter die Regierung gestellt.
Einzig der Wiener Gesundheitsstadtrad Peter Hacker hat mit vorsichtiger aber substanzieller Kritik aufhorchen lassen. Er warnte vor Hysterie und Panikmache, wies darauf hin, dass nach heutigen Projektionen die krisenhafte Situation über Monate andauern würde und vor allem, dass man den Totalstopp nur kurz durchhalten kann. In wenigen Wochen müsse das öffentliche Leben zumindest zum Teil wieder aufgenommen werden. Und was symbolisch besonders wichtig: die Parks und Kinderspielplätze müssen in absehbarer Zeit wieder betreten werden dürfen.
Damit hat er angedeutet, was klar gesagt werden muss: dass es eine Hierarchie unter den Maßnahmen gibt und geben muss. Zuerst müssen die Ressourcen vor allem ins Gesundheitswesen fließen, um es für die drohende Flut fit zu machen. Die Ausgangsbeschränkungen sind letztlich Begleitmusik zur Dämpfung der Ausbreitung. Ob sich man sich nun zu zweit oder zu dritt auf die Parkbank setzt, macht nur einen geringen Unterschied. Und eher früher als später müssen die Schulen und wichtigen Betriebe wieder aufsperren, während vor allem das bedrohte Bevölkerungssegment geschützt und isoliert werden muss.
Für die Wiener Polizei ist die Ausgangsperre sowas wie die Lizenz zum „Ausländerklatschen“. Endlich dürfen sie den vermeintlichen Übeltäter stellen und für sein Aussehen und Auftreten strafen und die kleinen Blockwarte dürfen nun frei von der Leber denunzieren. Hacker benennt das nicht, aber er sagt, dass die ärmeren Leute, die in kleinen Wohnungen leben, ihren legitimen Lebensraum auch draußen in den Park haben und zurückgekommen sollen. Das ist nicht nur richtig, sondern bringt die Dramatik von einem US-Katastrophenfilm in die politische Welt der sozialen und kulturellen Ungleichheit zurück.
Es sollte auch bedacht werden, dass mit der Corona-Bedrohung ganz nebenbei grundlegende Rechte ausgehebelt werden. In Windeseile wurde angesichts des herannahenden Destasters das Bundesheer und sogar die Miliz mobilisiert. Wer könnte denn schon was dagegen haben, wenn Grundwehrdiener Lebensmittel in Regale einschlichten? Seit dem Bürgerkrieg 1934 ist es ein wichtiges republikanisches Grundprinzip, die Armee nicht für polizeiliche Zwecke einzusetzen. Doch genau das passiert gegenwärtig. Oder auch was die amtliche Überwachung von Handy-Bewegungsdaten betrifft: die Telekom behauptet schnell, es sei ihre Initiative gewesen und zudem seien alle Übermittlungen anonymisiert worden. Mag stimmen oder auch nicht. Jedenfalls sind das Alles mögliche Präzedenzfälle für die Stärkung der Repressionsorgane in der Hand von Eliten, die das Volk zunehmend fürchten.
Kritik als Fake News oder die Macht der Experten
Es gibt angesichts der fast europaweiten Verhängung des Ausnahmezustands vielfach geäußertes politisches Unbehagen. Manche wollen aber auch das Bedrohungsszenario nicht glauben und bringen dagegen Argumente. Diese werden mittels Experten als Fake News bekämpft, von der Social-Media-Firmen zurückgedrängt oder ganz unterbunden und wie in Italien sogar behördlich verfolgt.
Da mögen auch krude Verschwörungstheorien und Verrücktheiten dabei sein, aber auch die muss man weiterhin sagen dürfen. Aber noch mehr, es gibt auch einschlägige Wissenschaftler, die eine andere Meinung vertreten. Bald wird die Kategorie des „Corona-Leugners“ eingeführt werden, gegen die sich der Kanon richten wird. Damit werden auch jene getroffen, die die Maßnahmen sozial und politisch verträglicher gestalten wollen, weil sie das Ausmaß der Bedrohung nicht so absolut sehen. Unter die Räder kommt letztlich die politisch-soziale Opposition, die sich gegen das neoliberale Diktat der Eliten zur Wehr setzt, die alles versuchen werden, die Kosten der Krise auf das Volk überzuwälzen.
Kein Vertrauen in die neoliberalen Retter, die das öffentliche Gesundheitswesen im Dienst ihres privaten Profits kaputtgemacht haben! Sie wollen letztlich ihr neoliberales Regime retten!