Höre, Israel
Als wir verfolgt wurden
war ich einer von euch
Wie kann ich das bleiben
wenn ihr Verfolger werdet?
Eure Sehnsucht war
wie die anderen Völker zu werden
die euch mordeten
Nun seid ihr geworden wie sie
Ihr habt überlebt
die zu euch grausam waren
Lebt ihre Grausamkeit
in euch jetzt weiter?
Den Geschlagenen habt ihr befohlen:
„Zieht eure Schuhe aus“
Wie den Sündenbock habt ihr sie
in die Wüste getrieben
in die große Moschee des Todes
deren Sandalen Sand sind
doch sie nahmen die Sünde nicht an
die ihr ihnen auferlegen wolltet
Der Eindruck der nackten Füße
im Wüstensand
überdauert die Spur
eurer Bomben und Panzer
(Erich Fried, 1974)
Erich Fried floh, nachdem sein Vater 1938 von der GESTAPO ermordet worden war, nach England. In seiner politischen Lyrik kämpfte er zeitlebens gegen Unrecht und Unterdrückung und für Freiheit und Selbstbestimmung. In seinen Israel/Palästina Gedichten (1974) nimmt er eindeutig Stellung gegen die koloniale Unterdrückung und Vertreibung des palästinensischen Volkes. Dafür wurde er damals schon als „selbsthassender Jude“ diffamiert und vielfach gehasst.
Aber Erich Fried hat auch viele andere Gedichte geschrieben – wie zum Beispiel gegen den Vietnamkrieg, gegen die unzulängliche NS-Aufarbeitung oder für die Liebe in seinen Liebesgedichten. Er galt bald als einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache im 20. Jahrhundert und auch in Österreich wurde seinem Werk Anerkennung zuteil. 1989 wurde in Wien die Internationale Erich Fried Gesellschaft für Literatur und Sprache gegründet, die nunmehr jährlich den hochdotierten Erich Fried Preis verleiht.
Heuer, am 6. Mai 2021, jährte sich Erich Frieds Geburtstag zum hundertsten Mal. Auch in einem Beitrag des ORF (wien.orf.at/stories3102490) wurde Erich Fried gewürdigt, als Humanist, als prägende Stimme in der Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg, den Studentenbewegungen, Nachrüstung, NS-Aufarbeitung und Terrorismus. Was mit Terrorismus gemeint war, blieb offen und ist gerade heuer im Zusammenfallen der Würdigung Erich Frieds und der Eskalation im Vernichtungskrieg Israels gegen das palästinensische Volk von besonderer Bedeutung. Da kann man erwarten, dass der von den österreichischen Medien und Politikern ununterbrochen eingepeitschte Begriff der Terror-Raketen auf Israel damit assoziiert wird und nicht der Erich Frieds, der mit diesem Begriff Israels Vernichtungsfeldzug gegenüber den Palästinensern und Palästinenserinnen verurteilte. Heute gelten die, die ihr Selbstbestimmungsrecht verteidigen, als Terroristen – gerade die, für die Erich Fried, eben weil er ein Humanist war, leidenschaftlich Partei ergriffen hat.
Die Mainstream-Medien und das offizielle Österreich missbrauchen Erich Fried, indem sie einen wichtigen Teil seines engagierten Lebens und Werkes geziehlt ausblenden. Oder sie reden und schreiben als oberflächliche Ignoranten. Wie immer es auch sei – sie ehren jemanden, den man als bedeutenden Lyriker österreichischer Herkunft ehren muss, den sie aber nach ihrer Definition des Antisemitismus als Antisemiten oder „selbsthassenden Juden“ diffamieren müssten.
Das ist eine Verlogenheit, die schwer auszuhalten ist.
„Wer will, daß die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, daß sie bleibt“ (Erich Fried)