In der deutschen Zeitschrift „Welt“ erschien am 10.5. ein Kommentar („Radikale Araber wünschen sich „judenfreie“ Stadtviertel“ von Alan Posener), der die Spitze eines Eisbergs darstellt. „Eisberg“ deshalb, weil in den deutschen und österreichischen Landen angesichts des aktuell von der israelischen Regierung ausgeübten Vernichtungsfeldzugs gegen die Palästinenser eine weitgehende Gleichschaltung der Medien stattfand, die entweder direkt Partei für Israel ergreifen oder zumindest die derzeitigen israelischen Verbrechen an den Palästinensern gleichgewichtet mit den Raketenabschüssen nennen und sie damit relativieren. Zusätzlich übernehmen die Medien in Berichten über friedliche Demonstrationen gegen Israels Vernichtungsschläge die Sprachregelung der Regierung, die diese Kundgebungen als antisemitisch diffamiert und ihnen Illegalität unterstellt.
„Spitze“ deshalb, weil der Verfasser des „Welt“-Artikels eine Opfer-Täter-Umkehr betreibt, die einen neuen medialen Tiefpunkt darstellt. Er gibt vor, einen historischen Überblick zu bieten, ohne die Balfour-Deklaration mit einem Wort zu erwähnen. Ebensowenig die massive Zerstörung der Lebensgrundlagen der Palästinenser, wie Häuservernichtung, Wasserentzug oder die Einkesselung durch Mauern und Stacheldrahtzäune, euphemistisch „Schutzwall“ genannt. Opfer sind ausschließlich jüdische Israelis und ausschließlich auf ihrer Seite steht jegliches Recht.
Wer sich die Medienlandschaft internationaler betrachtet, dem/der fällt auf, dass diese Mediengleichschaltung lediglich im deutschsprachigen Raum gegeben ist.
Als Beispiel sei der angelsächsische Raum genannt. Wer in Großbritannien den „Guardian“ liest, erlebt ein völlig anderes Bild. Anläßlich der Feiern zu dessen 200jährigem Bestehen listet die Chefredaktion z.Bsp. aus heutiger Sicht unverzeihliche Fehler während dieser 200jährigen Geschichte auf. („What we got wrong. The Guardian’s worst errors of judgment over 200 years.“)
Darin ist zu lesen: „The Guardian of 1917 supported, celebrated and could even be said to have helped facilitate the Balfour declaration. … Scott [An,.: damaliger Chefredakteur] was a supporter of Zionism and this blinded him to Palestinian rights. … Whatever else can be said, Israel today is not the country the Guardian foresaw or would have wanted.“
Als große Tageszeitung zu schreiben, dass man ein Israel in seiner heutigen Form nie gewollt hätte, also heute nicht will, wäre im deutschsprachigen Raum undenkbar. Der Artikel ist kein Einzelfall. Mehrere Gastkommentare von PalästinenserInnen (Mariam Barghouti u.A.)(https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/may/16/palestinians-protesting-live-regime-oppression, https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/may/17/palestinians-sheikh-jarrah-jerusalem-city-identity) wurden ebenso veröffentlicht wie nicht-palästinensische Gastkommentare, die Israel massiv kritisieren. Berichte sind in der Wahl der Ereignisse zu einem großen Teil Israel-kritisch. Da werden die Folgen der Bombardierungen in Gaza geschildert („No safe place„, „Israeli airstrike on Gaza claims eight young cousins“).
Da wird berichtet, dass der progressive Teil der Demokraten, angeführt von Alexandria Occasio Cortez, unduldsamer mit der bisherigen Weigerung Bidens wird, mit Netanjahu zu brechen und damit wird im Bericht indirekt Biden kritisiert „Joe Biden feels political ground shift as Israel-Gaza conflict rages on.“).
Da wird ein Aufruf von Emilie Tant veröffentlicht: „We must all mobilise to stop Israel’s crimes“.
Am bedeutsamsten sind aber die Leitartikel und Kommentare der Chefredaktion selbst, die der Israel-kritischen Linie treu bleiben. So Jonathan Freedland („The cycle of bloodshed will repeat, so long as the status quo remains comfortable for everyone except ordinary Palestinians„) am vergangenen Freitag und das Editorial der Chefredaktion vom Dienstag „The Guardian view on Jerusalem and Gaza: old struggles bring fresh violence“ in dem die Schuld in unglaublich klaren Worten Israel zugewiesen wird (Schlußabsatz): „The administration in Washington must be … clear with the Israeli authorities, not only over their military response, but over the actions that predictably led to this latest outburst of violence.“. Mit der selben Klarheit wird Israel als Apartheids-Staat benannt.
Doch ist der Guardian ein Einzelfall? Mitnichten, Zeitungen wie der „Observer“ unterscheiden sich in den Berichten und Kommentaren zu Israel kaum vom „Guardian“ und selbst ein Blick in die Boulevard-Presse zeigt deutliche Unterschiede zum Pendant im deutschsprachigen Raum. Dort findet man den ersten Artikel zum Konflikt zwar erst auf Seite 7, weil die 6 Seiten davor Klatsch und Tratsch gewidmet sind. Im Bericht werden zwar die Raketenabschüsse aus dem Gaza-Streifen erwähnt, aber davor Israels Angriffe breit geschildert.
Nicht anders sieht die Berichterstattung in australischen Tageszeitungen aus. Diese andere Haltung drückt abseits der Medien in arrivierten Personen des öffentlichen Lebens ebenso aus. Seien es z.Bsp. PolitkerInnen wie Mairead Corrigan, die im Juni 2010 an Bord des Solidaritätsschiffes „MV Rachel Corrie“ versuchte, die gegen Gaza verhängte Blockade zu durchbrechen. Oder an der hochangesehenen Grand-Dame des Theaters und Films Vanessa Redgrave, die immer klar für Palästina Stellung bezieht.
Es sei nicht verschwiegen, dass die Antisemitismus-Keule im United-Kingdom ebenso von Politikern geschwungen wird; sei es zuletzt von der Johnson-Regierung oder sei es vom Labour-Vorsitzenden Keir Starmer, der sie im Oktober 2020 benutzte, um Jeremy Corbyn komplett abzumontieren. Aber derartige Instrumentalisierungen sind nicht gesellschaftlich breit getragen.
Warum dieses eklatant andere Bild im angelsächsischen Raum im Vergleich zum deutschsprachigen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit liegt die Antwort in der unterschiedlichen Historie beider Kulturräume. Als Folge der Verbrechen des Nationalsozialismus an der jüdischen Bevölkerung herrscht in Deutschland und Österreich eine fatale Bereitschaft, jegliche Verbrechen Israels nicht nur hinzunehmen, sondern sogar zu rechtfertigen. Scheint in Deutschland ein falsch verstandenes schlechtes Gewissen Antrieb zu sein, zeigt das Bild in Österreich zusätzlich auf einen Schulterschluß zwischen Kurz und Netanjahu im Einverständnis reaktionär-rechter Politik.
Zum Einen spricht das schlechte Gewissen Großbritanniens für die Palästinenser – Stichwort „Balfour Declaration“ und die britische Geschichte als Kolonialmacht. Zum Anderen ist der angelsächsische Raum von einer langen Tradition der Meinungsfreiheit geprägt.
In jedem Fall zeigen die Medien im angelsächsischen Raum, dass Kritik an Israel möglich ist und sein muß und sie liefern hiesigen AktivistInnen weitere Argumente, sich nicht der Kritik an Israels Politik wegen kriminalisieren und diffamieren lassen zu müssen.