Ich habe von Agambens Stellungnahme vom 17. September 2021, die im Kontext einer außerordentlichen Mobilisierung gegen den in Italien andauernden Corona-Ausnahmezustand steht, eine nicht autorisierte Übersetzung angefertigt, weil ich seine Position für äußerst aussagekräftig halte – und das sage ich als jemand, der seit mani polite 1992 nicht nur die Entwicklung Italiens von außen verfolgt, sondern mit einigen Akteuren politisch eng verbunden bin.
Für einen Normalsterblichen nördlich der Alpen ist die Aussage Agambens nicht selbsterklärend, ja unverständlich erscheinen. Das hängt damit zusammen, dass kaum jemand versteht, dass das Euro-Regime einen qualitativen Unterschied, ja eine Bruchlinie zwischen dem EU-Zentrum, insbesondere der BRD, und Italien produziert hat. Die permanente Stagnation des EU-Neoliberalismus, die mehr als eine ganze Generation in die Hoffnungslosigkeit gestürzt hat, führte über viele und verschlungene Stufen dazu, dass das politische System nicht mehr in der Lage ist, die Herrschaft der Eliten zu erhalten. Diese versuchen verzweifelt etwas Neues zu finden, unternehmen zahlreiche Versuche des Umbaus, die letztendlich alle scheiterten – und zwar an den demokratischen Resten, die aus dem Sieg über den Faschismus stammen. Eine autoritäre Wende lag also schon länger in der Luft, vor allem mittels eines gegen die Verfassung gerichteten De-facto-Präsidentialismus, der noch seiner Legalisierung harrt. (Darum ist die gegenwärtige oppositionelle Bewegung auch verfassungspatriotisch.)
Die Pandemie muss für die Eliten wie ein Gottesgeschenk erscheinen, das es unbedingt zu nutzen gilt. Die sehr bedeutungsschwere Aussage des nicht gewählten und de facto All-Parteien-Premiers Mario Draghi, Inkarnation der globalen Finanzelite, nach dem jene, die nicht geimpft sind, das Wahlrecht verlieren sollen, sagt alles über die politische Nutzung von Corona. Es geht also um viel mehr als die Pandemie.
Der in Italien überlange und überharte Lockdown, der die oppositionelle Bewegung lahmlegte, stieß auf enormen Widerstand und war kaum mehr durchzuhalten. Die Impfkampagne mit Zwangsmaßnahmen, wie in keinem anderen westlichen Land, hat nun die Mehrheitsverhältnisse gewandelt. Die Opposition ist zu einer Minderheit geworden, weil die Mehrheit glaubt mit der Hinnahme des Impfregimes dem Alptraum entfliehen zu können.
Es sei dabei bemerkt, dass gleichzeitig in einigen nordeuropäischen Ländern, deren Eliten fest im Sattel sitzen und Covid nicht in der gleichen Weise politisch zu nutzen versuchen, die Pandemie für beendet erklärt wurde – bei oft geringeren Impfquoten als in Italien.
Bei der verbleibenden massiven Opposition, die sicher im zweistelligen Prozentbereich der Bevölkerung liegt, kommt es zu aus der Vergangenheit bekannten Mustern der Radikalisierung à la italienne. Die herrschende Presse beschwört schon die Brigate Rosse herauf. Der alte Philosoph Agamben resigniert und will sich in die menschliche Wärme der Klandestinität zurückziehen.
Ich glaube im Gegensatz dazu, dass die soziale und politische Opposition gegen die neoliberale Elite in Italien noch nie so nahe an der Mehrheit war wie heute.
Jedenfalls findet gerade heute eine Demonstration dieser Opposition statt, bei der Zehntausende erwartet werden, wenn nicht mehr. Das Motto: Nein zum Grünen Pass! Für die Freiheit, die Arbeit und die Zukunft. Agamben wird dort sprechen.
Wilhelm Langthaler
25. September 2021
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Eine Gemeinschaft in der Gesellschaft
Italien, als politisches Laboratorium des Westens, in dem im Voraus in ihren extremsten Formen die Strategien der herrschenden Kräfte ausgearbeitet werden, ist heute ein Land im menschlichen und politischen Zusammenbruch, in dem eine Gewaltherrschaft ohne Skrupel und zu allem entschlossen sich mit einer Masse in den Fängen eines pseudoreligiösen Terrors verbunden hat, die bereit ist nicht nur das zu opfern, was sich einst von der Verfassung garantierte Freiheiten nannte, sondern selbst jede Wärme in den menschlichen Beziehungen.
Zu glauben, dass der Grüne Pass die Rückkehr zur Normalität bedeuten würde, ist wirklich einfältig. So wie uns schon eine dritte Impfung aufgezwungen wird, so werden weitere Ausnahmesituationen und rote Zonen ausgerufen werden, so lange wie es die Regierung und die Kräfte, dessen Ausdruck sie ist, es als sinnvoll ansehen. Und es werden vor allem jene die Kosten dafür tragen, die sich unvorsichtigerweise untergeordnet haben.
Unter diesen Bedingungen, ohne auf irgendein Instrument des unmittelbaren Widerstands zu verzichten, müssen die Dissidenten darüber nachdenken, so etwas wie eine Gesellschaft in der Gesellschaft zu bilden, eine Gemeinschaft der Freunde und sich Nahestehenden innerhalb der Gesellschaft der Feindseligkeit und der Distanz. Die Formen dieser neuen Klandestinität, die sich möglichst von den Institutionen selbständig machen wird müssen, müssen jeweils angepasst und ausprobiert werden. Nur diese werden ein menschliches Überleben in einer Welt garantieren können, die für eine mehr oder weniger bewusste Selbstzerstörung gestimmt hat.
Giorgio Agamben
17. September 2021