Das neoliberale Regime, das die Welt seit dem Zusammenbruch der UdSSR beherrscht hat, durchlebt eine tiefe Krise. Um ihre Herrschaft zu erhalten, müssen die Eliten substanzielle Änderungen vornehmen.
Die Löhne zu senken, den Anteil der einfachen Menschen am Volkseinkommen zu reduzieren und Formen der politischen und kulturellen Partizipation zurück zu drängen, ist die Quintessenz der Globalisierung und seiner der Volkssouveränität auch formal entzogenen Institutionen. Der aus der relativen Verarmung zumindest des unteren Drittels resultierenden strukturellen Nachfragelücke wurde mittels Kreditwachstum und der damit einhergehenden Finanzialisierung entgegengewirkt. Doch den bestimmenden anglosächsischen Eliten dämmert, dass ein Finanzkeynesianismus („quantative easing“) nicht mehr ausreicht. Nur mehr öffentliche Nachfrage kann das System retten. Und der Druck von unten wächst, auch in wichtigen Zentrumsländern.
Covid erwies sich für die Eliten als willkommener Anlass für eine autoritäre Verhärtung, um die unerlässlichen Regimeänderungen einzuleiten und dabei gleichzeitig Ansprüche von unten abzuwehren. Zunächst jedoch ergriff sie im Angesicht der Epidemie selbst die Panik. Mit einem Alarmismus, die ein quasi außergesellschaftliche Bedrohung heraufbeschwor, verhängten sie den Ausnahmezustand. Dieser nahm insbesondere dort besonders diktatorische Formen an, wo Jahrzehnte des Neoliberalismus und des Widerstands dagegen die politischen Systeme so abgenutzt hatten, dass sie ihre Stabilität verloren– zu aller erst in Italien und Frankreich. Die soziopolitische Opposition wurde so zumindest für eine Zeit lang von der Straße verbannt und grundlegende demokratische Rechte eingeschränkt. So sollte abgewendet werden, dass die teilweise Lockerung der Austerität zum Anlass für weitere Forderungen von unten würde. Die Forderungen verbinden sich nun im Gegenzug tendenziell mit jenen gegen die Corona-Maßnahmen, die als Symbol der Eliten-Herrschaft gelten.
Doch die EU hat ein grundlegendes Problem, mehr als alle anderen Zentrumsregionen: Sie wurde eben genau als neoliberaler und antidemokratischer Pakt der Eliten aufgebaut und diente so als Panzer des Rollbacks. Eine Anpassung hin zu mehr öffentlicher Nachfrage scheint fast unmöglich, denn das Euro-Regime sollte mittels Verfassungsänderungen und Autopiloten unantastbar gemacht werden. Zudem haben die bestimmenden deutschen Eliten die Tragweite des Problems noch nicht erfasst. Eingelullt durch ihre Rolle als „Exportweltmeister“ und bestärkt von ihren Satelliten, sind sie fest entschlossen zumindest den südlichen EU-Staaten neuerlich das Austeritätsregime aufzuzwingen und damit deren Agonie fortzuschreiben. Italien und Frankreich sind mit einem explosiven sozialen Konflikt schwanger, der nicht anders kann als die Form des Kampfes für die nationale Souveränität anzunehmen, die augenscheinlich notwendig ist, um die von der EU-Kommission verordnete neoliberale Austerität abzuschütteln. Das umso mehr, als sie vielerorts und insbesondere in der Führungsmacht USA gelockert zu werden scheint. Das griechische Volk ist an dieser Aufgabe gescheitert, dem britischen gelang es dabei nicht, das Heft in die Hand zu bekommen. Wie wichtig die Frage ist, zeigt auch die zunehmende Distanzierung der De-facto-Mitglieder Schweiz und Norwegen, wo das Volk zu Recht um seine errungenen sozialen und demokratischen Errungenschaften fürchtet.
Im Westen nimmt die autoritäre Wende nicht klassische rechte Züge an, sondern macht sich traditionell linke Identitätsmuster wie Antifa, Green New Deal, LGBT, Technikgläubigkeit und Szientismus, Säkularismus, Internationalismus etc. dienstbar – ihrem ursprünglichen Inhalt entleert. Das ist das konsolidierte ideologische Standbein der liberalen Globalisierungseliten, die so die Mittelschichten zu binden vermögen. Der Rechtspopulismus dient als das Spielbein, um die Unterschichten nicht ganz zu verlieren.
Gleichzeitig ist die unumschränkte Herrschaft der USA und des Westens nach 1989/91, gefasst als unipolare Weltordnung, am Untergehen. Das spektakulärste Ereignis der gesamten Periode ist der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des kapitalistischen China zur Weltmacht. Die KP-geführten Eliten erweisen sich als unkontrollierbar und (deswegen) so erfolgreich, dass sie nun als Bedrohung der US-Vorherrschaft angesehen werden. Um den aufstrebenden Rivalen niederzuhalten, sehen sich die USA gezwungen ihre eigenen Freihandelsregeln zu brechen. Damit beschädigen und schwächen sie tendenziell ihr eigenes globales System. Paradoxerweise hat Peking den Westen nicht nur durch seine autoritäre Covid-Antwort inspiriert, sondern scheint auch Bidens intendiertes Programm öffentlicher Investitionen als Antwort auf China konzipiert zu sein.
Die Niederlage der USA und des Westens in Afghanistan ist ein weiteres Beispiel für die Tendenz zu einer mehrpoligen Weltordnung, in der nicht nur andere kapitalistische Zentrum aufstreben, sondern der Widerstand der Völker gegen den Imperialismus erfolgreich geführt werden kann – was wiederum Freiräume für neue Bewegungen der sozialen und demokratischen Emanzipation eröffnet.
Unser Programm des Widerstands
Die Angstkampagne angesichts Covid vermochte das politische Vakuum, das bei den unteren Schichten und zunehmend auch im Mittelstand angesichts von Jahrzehnten der neoliberalen Exklusion entstanden ist, mit einer Art autoritärem Populismus überbrücken. Aber die Kampagne nützt sich ab. Die technizistische Antwort, das Impfen, wiederum stellt sich als weniger wirksam als versprochen heraus. Und einige nordeuropäische Staaten, in denen die Eliten fest im Sattel sitzen und daher den autoritären Schwenk nicht brauchen, haben bereits Entwarnung gegeben und die Pandemie für beendet erklärt. Vielerorts ist eine demokratische Oppositionsbewegung entstanden, die sich gegen den Ausnahmezustand zur Wehr setzt und sich – wenn auch nicht überall – mit sozialen Forderungen verbindet. Wie können in dieser Situation die Interessen der einfachen Mehrheit in einem Programm des Widerstands und der Emanzipation organisiert und der Bruch mit den Eliten konzipiert werden?
Die sozioökonomische Hauptforderung liegt in der Luft und auf der Hand: massive öffentliche Investitionen in sozial und ökologisch sinnvolle Sektoren und nicht in die Rettung der Autoindustrie (und seien es E-Fahrzeuge) oder den Ausbau der digitalen Herrschaftsapparate. Ein solches Programm soll dazu dienen, gesellschaftlich sinnvolle Beschäftigung aller mit mehr sozialer Gerechtigkeit herzustellen, statt eines grün verkleideten, halbherzigen und Investitionen hemmenden Finanzkeynesianismus, der die bereits himmelschreiende Ungleichheit nur noch weiter erhöht. Es soll sinnvolles (Produktivitäts-)Wachstum erzielen, das nicht nur der Mehrheit, sondern auch der Umwelt zugute kommt.
Gleichzeitig geht es darum, den durch die Covid-Maßnahmen beschleunigten autoritären Umbau zu bekämpfen, der als Maßnahme begriffen werden kann, eine von den Eliten unabhängige politisch-soziale Kraft zu zerschlagen oder ihrer Entstehung vorzubeugen. Dabei darf man sich von der überwiegend kultur-liberalen Positionierung der Eliten und deren Unterstützung durch den linksliberalen Mittelstand („Zivilgesellschaft“) nicht täuschen lassen. Aus dem Widerstand gegen den Ausnahmezustand müssen die demokratischen und sozialen Momente entwickelt und damit die Errungenschaften der Vergangenheit verteidigt werden.
Doch es bedarf auch einer umfassenden gesellschaftlichen Alternative gegen die Herrschaft der sich erneuernden liberal-globalistischen Eliten, nämlich die alte Idee der Volkssouveränität, wie sie schon in der französischen Revolution aufgetaucht ist. Diese erfordert den Bruch mit den herrschenden Eliten und ihrem wirtschaftsliberalen EU-Zwinger, sowie den Willen zur Übernahme nicht nur des Staates, sondern der emanzipatorischen Neugestaltung der jeweiligen Nationen. So können Türen fürs Neue aufgestoßen werden…
Antiimperialistische Koordination, 26.10.2021