Inhalt
Maidan und Anti-Maidan – ein von außen befeuerter Bürgerkrieg
Putin attackiert Lenin – und nimmt dem antiimperialistischen Widerstand das politische Werkzeug
Russlands offengelegte Schwäche entlang des Kriegsverlaufs
Waffenstillstand? In der Hand Washingtons!
American Empire versus multipolare Weltordnung
Programmatische Ideen für eine russische antiimperialistische Opposition
Mit dem offensiven militärischen Eingreifen in der Ukraine hat der Kreml nolens volens dem Westen ein politisches Geschenk gemacht. Die Verantwortung für den Konflikt konnte in den Augen der Weltöffentlichkeit umgekehrt und Russland zum Aggressor gestempelt werden. Erst im historischen Kontext kann die auf den Kopf gestellte Realität aufgeklärt werden.
Lassen wir uns von dem Propaganda-Getöse des Westens nicht täuschen. Der gegenwärtigen Eskalation ist eine systematische westliche Aggression vorausgegangen, nachdem Washington nach der Restauration des Kapitalismus zum Schluss kam, dass sich Russland dem US-Weltsystem nicht verlässlich unterordnen würde.
Klar, die Auflösung der UdSSR und des Warschauer Paktes war eine Form der Kapitulation, allerdings politisch akzeptabler gemacht mit dem westlichen Versprechen, die Nato nicht nach Osten zu erweitern. Hätte der Westen nicht zu diesem politischen Betrug gegriffen, wäre der Widerstand gegen die Machtergreifung einer neuen Kapitalistenklasse noch stärker ausgefallen oder sogar unkontrollierbar geworden. Man erinnere sich, dass Jelzin 1993 das Parlament beschießen ließ und es auflöste, also formal-demokratische Verhältnisse unterbinden musste, um ein prowestliches Regime zu etablieren. Militärische Gewalt war auch in Europa notwendig, um die Nato auszudehnen: nämlich die Zerschlagung Jugoslawiens – genau jenes Landes, das sich als einziges aus eigener Kraft (neben natürlich der UdSSR) vom deutschen Nationalsozialismus befreit und dabei verschiedene Nationalitäten in sensationeller Weise vereinigt und integriert hatte. Damit war der Weg nach Osteuropa freigebombt. Zuerst kam die Nato – um die US-Vorherrschaft fest abzusichern, dann das vermeintliche Friedensprojekt EU.
Russland unter Putin hatte zu diesem Zeitpunkt den Versuch der Zusammenarbeit mit Europa und selbst den USA noch nicht aufgegeben, insbesondere unterstützte der Kreml den „war on terror“, auch um einen Freibrief für die Unterwerfung der Tschetschenen zu erhalten. Doch die Beziehungen verschlechterten sich schrittweise, auch weil die Nato mit dem Raketenschild in den neuen osteuropäischen Nato-Ländern das atomare strategische Gleichgewicht de facto gekippt hatte. Das ist umso wichtiger als die US-Nuklearstrategie immer mehr den Einsatz von kleineren Atomwaffen proklamiert, nämlich schon vor dem nuklearen Armageddon, also einen Atomkrieg führbar machen soll. Diese Absicht wird nicht nur von Russland berechtigterweise als Bedrohung angesehen.
2008 wollten die USA den Beitritt der Ukraine und Georgien zur Nato nicht mehr ausschließen, was von Moskau verständlicherweise als weiterer Akt ihres Vordringens nach Osten gegen Russland interpretiert wurde. Der US-nahe georgische Präsident Saakaschwili, der später sogar zum Gouverneur von Odessa ernannt wurde, glaubte das sich autonom erklärt habende Südossetien mit militärischer Gewalt wieder die Kontrolle von Tiflis bringen zu können. Der Eingreifen Russlands gegen Georgien schob dem einen vorläufigen Riegel vor.
2014 ergriff mit Hilfe des Westens in Kiew der rechte ukrainische Nationalismus die Macht und rückte damit die Ukraine de facto in die Einflusssphäre der Nato. Dagegen erhob sich im Osten und Süden ein Volksaufstand, der in Teilen von Lugansk und Donetsk zur Etablierung einer parastaatlichen Gegenmacht führte, anderenorts aber mit Hilfe rechter Milizen niedergeschlagen wurde – siehe das Massaker von Odessa am 2.Mai 2014. Russland annektierte die weitgehend russisch bewohnte Halbinsel und gewährte den neu entstandenen Volksrepubliken im Osten Unterstützung.
In Rahmen der Minsker Friedensverhandlungen wurde eine Formel für Autonomie für den Donbass gefunden, die die territoriale Integrität der Ukraine im Osten gewahrt hätte. Dies kam lediglich zustande, weil damit das militärische Vorrücken der Volksrepubliken mit russischer Unterstützung gestoppt werden konnte – denn Moskau wollte die Ukraine nicht teilen, einmal abgesehen von der Krim. Doch weder das Kiewer Regime noch der Westen waren bereit den Friedensvertrag umzusetzen. Stattdessen rüsteten sie die ukrainischen Streitkräfte systematisch auf, um sie für einen neuerlichen Waffengang vorzubereiten.
2019 kündigten die USA den Vertrag über Nukleare Mittelstreckenraketen (INF), was die atomare Bedrohung Russland noch weiter verstärkte. Regelmäßig führte die Nato große Manöver in der Nähe der russischen Grenzen durch.
Im Dezember 2021 forderte Russland schließlich ultimativ die USA dazu auf, ihnen Sicherheitsgarantien einzuräumen, die den Nichtbeitritt der Ukraine zur Nato sowie den Rückzug von Nato-Truppen aus osteuropäischen Mitgliedstaaten beinhalten sollten – was Washington wie bisher schon ablehnte und der Kreml schließlich mit dem Einmarsch in der Ukraine beantwortete.
Politisch wäre es wesentlich klüger gewesen, auf den vom ukrainischen Nationalismus unentwegt propagierten Angriff auf den Donbass zu warten, anstatt selbst anzugreifen. Anfangs wären da wohl gewisse militärische Nachteile in Kauf zu nehmen gewesen, doch der politische Vorteil hätte die rein militärische Dimension bald überwogen – auch militärisch.
Die Quintessenz der Geschichte: Der US-geführte Westen kann ein selbständiges Russland nicht dulden (genauso wenig wie jede andere selbständige Macht), denn es würde die abnehmende Kraft des US-Empires weiter untergraben, die in Nahost und Afghanistan schon ramponiert wurde. Daher die immer aggressivere Haltung der USA gegenüber Russland und China, die man auch mit militärischem Druck in die Zange zu nehmen versucht. Dagegen reagierte Moskau in verheerender Weise auf der Basis einer sowohl politischen wie militärischen Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse.
Wir haben den geopolitischen Aspekt kursorisch dargestellt. Aber darüber darf man den inneren Konflikt in der Ukraine, der sich zu einem Bürgerkrieg entwickelte, nicht vergessen. Die Reduktion auf Geopolitik macht den Konflikt unverständlich und verstellt auch die Lösungswege.
In vielerlei Hinsicht gibt es Ähnlichkeiten zur militärischen Zerschlagung Jugoslawiens durch den Westen vor einem Vierteljahrhundert, basierend auf der Mobilisierung und Nutzung der inneren Widersprüche, insbesondere der nationalen.
Auch die Sowjetunion wurde entlang der Republiksgrenzen zerteilt, so wie Jugoslawien. Doch in der Ukraine gab es zunächst keinen nennenswerten Widerstand dagegen. Darum gab es in der aus der alten Staatsbürokratie hervorgegangenen neuen kapitalistischen Elite keine besondere Veranlassung den alten Nationalismus zu instrumentalisieren. Im Exil überlebt, war der alte Nazi-afine Nationalismus (nach Bandera) genauso wie in Kroatien wieder zurückgekehrt, blieb jedoch eine Zeit lang eine Randerscheinung. Bald sollte sich ein dichotomisches System herausbilden, mit den „orangenen“ antirussischen Oligarchen auf der einen Seite und jenen Oligarchen, die sowohl mit Russland als auch dem Westen kooperieren wollten. Doch noch war von Ausschluss, Trennung und Bürgerkrieg keine Rede.
Es war das äußere Eingreifen gegen das „multiethnische“ Prinzip, das zur Eskalation in den Bürgerkrieg führte.
In Jugoslawien war das die Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen in teilweise völlig durchmischten Gebieten, emblematisch repräsentiert durch das bosnische Unabhängigkeitsreferendum 1992, das den eigentlichen EU-Startschuss zur nationalen Auftrennung („Säuberung“ genannt, wenn von Gegnern des Westens betrieben) und zum gegenseitigen Abschlachten gab.
In der Ukraine gipfelte der äußere Faktor im Versuch der EU Kiew ein antirussisches Freihandelsabkommen aufzuzwingen. Die Weigerung des Präsidenten Janukowitsch, der weiterhin äquidistant zu Ost und West bleiben wollte (de facto neutral), führte schließlich zur gewaltsamen Machtübernahme durch den Banderismus (rechter ukrainisch-nationalistischer Nationalismus) unter Ausnutzung einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den sozialen Verwerfungen des neoliberalen oligarchischen Systems. Dieser Umsturz wäre ohne massive westliche Unterstützung nicht denkbar gewesen, wodurch der Begriff Putsch auch angebracht scheint. Denn der Banderismus stellte zwar insbesondere im Westen des Landes eine durchaus aktive und verankerte Kraft dar, hatte aber auch dort keine Mehrheiten hinter sich versammelt – und je weiter östlich und südlich, umso weniger.
Der multikulturelle und demokratische Gesellschaftsvertrag war damit gebrochen. Alles Russische wurde fortan massiv verfolgt und unterdrückt. Es ist wichtig, hier nicht von ethnisch oder national zu sprechen. Denn für sehr viele war es kein Problem gewesen, russisch zu sprechen und mit Russland zu kooperieren, und gleichzeitig sich als Ukrainer zu identifizieren. Der rechte ukrainische Nationalismus unterband dies von nun an mit Gewalt und schloss einen wichtigen Teil der Bevölkerung einfach aus.
Dagegen erhob sich im Osten und Süden ein demokratischer Volksaufstand, der Anti-Maidan. Im Donbass, dem am meisten der alten proletarischen Kultur verhafteten Gebiete der alten Sowjetunion, gingen die Verwaltungs- und Staatsapparate mit dem Aufstand mit und bildeten eine Gegenmacht, die sich in Form der Volksrepubliken verfestigte. Im Süden und Osten, und auch am Rande des Donbass, ging der ukrainische Staat mit voller Härte gegen die Bewegung vor. Die Stoßtruppen des präventiven Bürgerkriegs bildeten die rechtsradikalen Kräfte und Milizen wie Swoboda, Rechter Sektor, Azov, Ajdar usw. Am 2. Mai 2015 verbrannten sie im Massaker von Odessa mehr als Hundert Anti-Maidan-Aktivistinnen und -Aktivisten, um ein Exempel zu statuieren. Die rechten Milizen holten in der Folge zum Beispiel die Donbass-Städte Mariupol und auch Slowjansk mit Gewalt von den Aufständischen zurück und erstickten die Bewegung in Kharkow schon im Keim.
Vielfach wird eingewendet, dass die Neonazis oder der Banderismus in der Ukraine keine Mehrheit hatte. Das stimmt mit Sicherheit. Doch im Staatsapparat selbst spielten sie eine bestimmende Rolle. Nicht umsonst wurden die rechten Milizen in die polizeilichen oder militärischen Kräfte eingegliedert und regularisiert. Sie hatten die präzise Funktion die Opposition eines signifikanten prorussischen Teils der Bevölkerung mit Gewalt zu unterdrücken. Ohne diesen Straßenterror faschistischen Typs hätte sich das Maidan-Regime nicht halten können. Und das ging wiederum alles nur wegen der westlichen Unterstützung. Wie heuchlerisch der westliche Antifaschismus doch ist. Während er alles Propalästinensische als antisemitisch verfolgt, hält er hochgradig antisemitische Neonazis in der Ukraine gegen Russland die Stange. Dasselbe Muster wie damals in Kroatien.
Im Übrigen gelang der extremen Rechten bei Wahlen nie signifikante Erfolge, was deren politische Schwäche zeigt und auf westliche Unterstützung bei der Usurpation staatlichen Funktionen hindeutet.
Der ukrainische Präsident Selenski wurde mit überwältigender Mehrheit gewählt, auch weil er eine Aufweichung der antirussischen Verve signalisierte. So hielt er im Wahlkampf Reden in der verfemten russischen Sprache. Bald nach seiner Wahl machte er auch noch den Versuch das Minsker Abkommen wiederzubeleben, scheinbar auch mit der persönlichen Unterstützung von Donald Trump (was nicht unbedingt gleichbedeutend mit dem US-Regime sein muss). Doch sofort gab es öffentlichen Druck des Banderismus gegen die „Kapitulation“. Die Sache verschwand von der Tagesordnung. Diese Episode zeigt einerseits wie sehr der Banderismus den ukrainischen Staat kontrolliert, andererseits wie diktatorisch der Staat konstituiert ist. Denn eine öffentliche Mobilisierung für Minsk wäre mit Gewalt unterbunden worden. In den Jahren nach 2014 wurden zahlreiche prominente Vertreter eines Ausgleichs mit Russland ermordet, oft ohne Strafverfolgung der Täter, was das Feld des politisch Möglichen entsprechend einschränkte. Anders gesagt: das Maidan-Regime war weder demokratisch zu reformieren noch abzulösen, es hätte einer demokratischen Revolution bedurft.
Vor dem russischen Einmarsch befand sich Selenskis Stern bereits im Sinken. Auch deswegen wurde der Vorsitzende der wichtigsten Oppositionspartei und für die Kooperation mit Russland stehend, Wiktor Medwedtschuk, präventiv unter Hausarrest gestellt. Der bereits zuvor stark eingeschränkte politische Bewegungsspielraum wurde damit praktisch auf null reduziert – und das noch vor der russischen Invasion. Das kann umgekehrt auch als ein Zeichen des Hegemonieverlusts des Kiewer Regimes gedeutet werden, das selbst die zahme Opposition der östlichen Oligarchen fürchtete. Denn diese Oligarchen haben keinen signifikanten Widerstand gegen den Maidan geleistet und haben sich weggeduckt als die Volksbewegung mit Gewalt unterdrückt wurde. Rinat Achmetow, der wichtigste Oligarch des Donbass, hat mit aus den Arbeitern seiner Fabriken gebildete Milizen geholfen, die Anti-Maidan-Aufständischen aus Mariopul zu vertreiben.
Vermutlich spielte die offensichtliche politische Schwäche Selenskis eine Rolle beim russischen Timing des Angriffs. Die Idee war wohl gewesen mit einem Blitzkrieg und der Projektion der totalen militärischen Überlegenheit einen Militärputsch zu provozieren, der Selenski und seine banderistische Entourage verjagen und kooperationsbereite Militärs an die Macht bringen sollte. Dazu hatte Putin jedenfalls unmittelbar nach Operationsbeginn aufgerufen. Washington war jedenfalls beeindruckt, sah den schnellen Zusammenbruch seines Verbündeten kommen und bot Selenski die Evakuierung an. Das politische Programm des Kremls war klar: „Entnazifizierung“, also Entfernung des Banderismus, sowie „Demilitarisierung“, also Garantien zur Verhinderung eines Nato-Beitritts –Punkte, die vermutlich eine Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt zumindest akzeptieren hätte können.
Doch entgegen allen Erwartungen leistete die ukrainische Armee erfolgreichen Widerstand, während sich die russische Militärmaschine grandios blamierte. Ihre Elitetruppen wurden dabei aufgerieben und demoralisiert.
Dennoch kam es im ersten Schock zu Verhandlungen in Istanbul bei denen die Ukraine sogar einen neutralen Status angeboten haben soll. Indes hatte Washington Blut geleckt und blockierte.
Bisher ist der Krieg von einer außerordentlichen politischen und militärischen Mobilisierung der ukrainischen Bevölkerung geprägt, geführt vom Banderismus. Dieser konnte nun tiefe Wurzeln schlagen und alle anderen politischen Kräfte ausschalten. Natürlich waren die massiven westlichen Waffenlieferungen, sowie die Unterstützung bei Logistik, Aufklärung, Kommando und Planung von entscheidender Bedeutung. Der Vergleich mit anderen US-Stellvertreterkriegen ist jedoch bestechend: Weder in Afghanistan noch in Irak, wo die USA im Gegensatz zur Ukraine massiv mit eigenen Truppen eingriff, konnte das Pentagon mit seiner gigantischen Überlegenheit eine verlässliche Hilfstruppe an ihrer Seite schaffen. In der Ukraine führen sie indes einen Volkskrieg unter ihrer imperialistischen Führung. Von Entnazifizierung kann nicht die Rede sein, sondern vielmehr von einer Faschisierung der ukrainischen Gesellschaft – genauso wenig wie von Entnatoisierung.
Seit 2014 hatte Russland eine Seite in einem sich zu einem Stellungskrieg umwandelnden Bürgerkrieg unterstützt, wobei die Bevölkerung des Donbass das Eingreifen Russlands zum Selbstschutz vor den ständigen Bombardements der Nationalisten aktiv forderte. Russland blieb zögerlich, was viele kritisierten.
Doch der russische Angriff hat den Krieg auf die Ebene Nation gegen Nation gehoben, was die Verhältnisse völlig veränderte. Selbst westlichen Medienberichten zufolge gab es im Donbass viele, die sich trotz der enormen Zerstörungen ihrer Heimat die Ankunft der russischen Truppen wünschten, weil sie die Herrschaft der Nationalisten und den ständigen (Bürger)krieg damit zu beenden können glaubten. Doch für eine große Mehrheit (außerhalb des Donbass) hat sich der Blinkwinkel grundlegend verändert. Zuvor hatten sie die Kooperation mit Russland als selbstverständlich notwendig erachtet, während sie die Herrschaft der Nationalisten als vorübergehend hinnahmen. Doch nun fühlten sie sich selbst angegriffen. Nicht nur physisch, was schlimm genug wäre. Sondern auch politisch durch die großrussische Argumentation des Kremls, der der Ukraine die Eigenständigkeit als Nation abspricht. Ein größeres Geschenkt könnte man dem Banderismus nicht machen, dessen Narrativ über Russland als ewiger Feind damit bestätigt wird.
Statt die Behauptung, einen Krieg gegen Nato und Nazis und nicht gegen das ukrainische Volk zu führen, politisch zu untermauern und dem „Brudervolk“ die Hand zu reichen, hilft der Kreml dem ukrainischen Nationalismus den Krieg als Vernichtungskrieg gegen das ukrainische Volk darzustellen – nach dem Strickmuster ihrer Legende vom Holodomor.
In seinen historischen Erklärungen hatte Putin weit ausgeholt und nicht umsonst den Revolutionär Lenin als den innerrussischen Ursprung des Übels des ukrainischen Nationalismus ausgemacht. Denn dieser hatte den Nationalitäten des Zarenreichs die Selbstbestimmung gewährt und damit auch die Ukraine als Nation anerkannt.
Tatsächlich war dies ein wichtiger Hebel den Zarismus zu stürzen und die von diesem im Namen des Großen Russland unterdrückten Völker freiwillig an das sozialrevolutionäre Russland zu binden. Die damit verbundene politische Operation bestand darin, die vor allem mit dem deutschen Imperialismus verbundenen nationalistischen Führungen zu isolieren und die breite Masse der Völker mit sozialen Versprechungen mit dem revolutionären Zentrum zu versöhnen. Die nationale Plattform wurde den proimperialistischen Eliten der kleineren Nationen also aus der Hand genommen. Das funktionierte auch in der Ukraine, dessen Bauern in der Folge mehr an der Landreform der Bolschewiki, als an leeren nationalen Parolen interessiert waren, die sich als Tarnung für die deutschen Expansionsgelüste erwiesen.
Putin stellt sich in die autoritäre und chauvinistische Tradition des Zarismus. (Wobei sein Regime heute auf viel breiterer Basis ruht als der rachitische Zarismus.) Dabei unterschlägt oder übersieht er, dass die Zaren-Monarchie in der Endphase sich nur durch die Rückendeckung Englands und Frankreichs halten konnte, die den Kreml gegen Deutschland als Partner brauchten. In der eigenen Bevölkerung und insbesondere den kleineren Nationalitäten im Reich hatte der Zarismus längst die Hegemonie verloren gehabt, wie man das wenige Jahre später eindrucksvoll an der Revolution sehen konnte. Das heutige Russland sieht sich im Gegensatz dazu mit dem vereinigten Imperialismus konfrontiert und täte gut daran allein schon als Selbstverteidigung eine neoleninistische Strategie zu fahren. Denn um die Nato zu konfrontieren, braucht es die Unterstützung der Völker der ehemaligen Sowjetunion sowie die Sympathie oder zumindest die Neutralität jener Osteuropas.
Die Politik des Kremls hat diese sowohl in die politischen Arme von rechtsradikalen Nationalisten, als auch in die der Nato und des Imperialismus getrieben. Anstatt den Banderismus zu isolieren, hat man ihn groß gemacht. Putin hat einen imperialistischen Volkskrieg gegen Russland angefacht. Welch politische Katastrophe!
Russland startete den Angriff als einzige Militärmacht, die den USA Paroli bieten zu können schien. Doch im Verlauf des Kriegs zeigten sich enorme Schwächen, die die USA und den Westen in Versuchung führen, den Krieg zu nutzen, um Russland eine historische Niederlage beizubringen und das US-Empire strategisch gegen den Widerstand abzusichern.
Zeichnen wir die Schritte grob nach:
· Die baldige Aufgabe Kiews und des Nordens sowie später der Rückzug aus Charkow bis Mai.
· Scheitern des Vorstoßes auf Odessa bei Nikolayev.
· Der lange und harte Widerstand des Nazi-Regiments Azov gegen die Einnahme Mariupols bis Mitte Mai trotz aussichtloser Lage, der viel Truppen band.
· Der nur langsame Vormarsch im Donbass, der im Juli zur Eroberung von Severodonetsk und Lisitschansk führte, dann aber auch durch den Einsatz höherwertiger westlicher Artillerie in Stocken geriet und im Sommer zu einer Pattsituation führte.
· Die richtiggehende Flucht aus Isjum und Liman im September, die die nördliche Zange zur Einnahme der Donbass unter Umgehung der stark befestigten Hauptfront abgeben hätte sollen. Damit funktioniert die Umfassung der Donbass-Front nicht mehr.
· Der organisierte Abzug aus Kherson und allen Gebieten westlich des Dnepr im November, womit Odessa nun manifest nicht mehr als Ziel in Frage kommt.
· Systematische Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine im Spätherbst, die auch einen starken zivilen Aspekt haben und die antirussische Stimmung sicher weiter befeuern.
· Die gegenwärtige Schlacht im „Fleischwolf“ Bachmut, wo unter hohen Verlusten um jeden Meter an der stark befestigten Hauptfront gekämpft wird.
Russland rechnete offensichtlich nicht mit einem solchen Krieg und war auf diesen nicht vorbereitet, vor allem nicht was die Zahl der erforderlichen Truppen anbelangt, die sich als viel zu wenig herausstellten. Scheinbar hatte der Kreml eher die Erfolge in Georgien und Syrien im Kopf, wo sich Russland als überlegen erwies.
Hauptgrund für die militärischen Schwierigkeiten ist ein politischer, nämlich das bürgerlich-aristokratische, geostrategische Denken wie aus dem 19. Jahrhundert, das die inneren Verhältnisse und vor allem den Faktor der breiten Massen vernachlässigt. Die haushohe formale militärische Überlegenheit Russlands reichte den Kreml-Planern. Selenski wurde zudem als nach innen hin schwach angesehen. Dass der äußere Angriff die politischen Verhältnisse auf den Kopf stellen würde, konnten sich Putin und seine Umgebung nicht vorstellen. Das zeigt sich auch daran, dass die Kreml-Propaganda nicht ablässt weiter Öl ins ukrainisch-patriotische Feuer zu gießen, anstatt das „Brudervolk“ so anzusprechen, dass es auch von diesem aufgenommen werden kann.
Auf der anderen Seite erweist sich die russische Gesellschaft als keineswegs kriegsbegeistert.
Neben dieser zentralen Ursache gibt es viele andere. Man kann diese den diversen Quellen von allen Seiten entnehmen, wobei natürlich eine politische Interpretation unvermeidlich bleibt:
· Das Kommando funktioniert für einen Krieg dieses Ausmaßes nicht gut. Die Koordination der verschiedenen Fronten und Waffengattungen ist mangelhaft. Scheinbar gab es keine entsprechenden Planungen.
· Die Versorgung der Truppen auf allen Ebenen erweist sich auch angesichts der Länge der Front und der Reichweite der ukrainischen Artillerie als sehr schwierig und mangelhaft.
· Die militärtechnische Unterlegenheit der russischen Systeme insbesondere dort, wo übergeordnet erfasst und gesteuert werden muss. Gerade in einem Artilleriekrieg wiegt die Überlegenheit der westlichen Artillerie bei Zielgenauigkeit und Reichweite schwer.
· Der militärisch-industrielle Komplex ist an der Grenze der Leistungsfähigkeit, vor allem was höherwertiges Kriegsgerät betrifft. Es wird sich zeigen, ob die Versorgung mit der notwendigen Elektronik über China möglich sein wird. Es frägt sich auch, wer schneller die Produktionskapazitäten hochzufahren in der Lage und willens ist, denn auch die Reserven des Westens sind endlich und nicht auf einen solchen Abnutzungskrieg vorbereitet – zumal die Ukraine in der Masse noch sowjetisches Gerät benutzt, für die die Munition ausgeht.
· Russland konnte das amerikanische Muster bei Invasionen, nämlich zuerst die vollständige Luftüberlegenheit herzustellen, nicht reproduzieren und muss daher den Einsatz der Luftwaffe stark begrenzen. Der Nachschub von westlichen Luftabwehrsystemen wird vermutlich dieses Ziel überhaupt unterbinden.
· Die russischen Elitesoldaten und die Masse der Kampftruppen scheinen angeschlagen und moralisch geschwächt. Daher auch die wichtige Rolle der Wagner-Söldner sowie der Tschetschenen – und nicht zu vergessen der Truppen der Volksrepubliken, deren Motivation laut Berichten größer zu sein scheint.
· Die Mobilisierung neuer Soldaten kam spät, langsam und ohne Enthusiasmus. Die Wirkung auf den Kriegsverlauf muss sich erst weisen. Eine gewisse Stabilisierung der Front kann aber schon festgestellt werden.
Bereits seit dem Sommer kann man die Lage im Großen und Ganzen als Patt ansehen. Zwar gab es erhebliche Rückzüge seitens Russlands. Beide Seiten versuchen an gewissen Frontabschnitten weiterhin offensive Operationen, die mit hohen Verlusten verbunden sind. Auch bei der Ukraine gibt es eine Erschöpfung sowohl der Truppe als auch was das Material betrifft. Das heißt nicht, dass es keine Bewegungen an der Front mehr geben wird. Es handelt sich nun dennoch um einen Abnutzungskrieg, bei dem auf absehbare Zeit keine der beiden Seite eine qualitative Überlegenheit wird herstellen können.
Für Russland wäre ein Waffenstillstand auf der gegenwärtigen Linie die beste Lösung. Die Kriegsbefürworter werden damit nicht einverstanden sein, denn sie proklamieren die Möglichkeit des Sieges. Aber der Kreml muss zwischen den verschiedenen Kräften in der Gesellschaft einen Kompromiss darstellen. Zwar konnten die ursprünglichen Kriegsziele nicht erreicht werden, doch ein Teil des Donbass wurde eingenommen und die Landbrücke zur Krim hergestellt. Das ist zumindest keine vollständige Niederlage. Offensiv propagiert wird das vom Kreml nicht, weil die andere Seite nicht bereit ist und viele in Russland das als Kapitulation deuten würden.
Der Banderismus seinerseits kennt nur die Offensive, unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Lediglich die USA können den ukrainischen Kriegstreibern Einhalt gebieten – so sie das selbst wollen. Die Neocons und die Biden-Regierung befinden sich gegenwärtig selbst fest auf Kriegskurs und wollen die ukrainische Offensive fortsetzen. Der Plan besteht darin, die Landbrücke zur Krim zu durchstoßen. Doch käme das einer qualitativen Eskalation gleich. Vor allem wäre dazu auch die Lieferung von westlicher Artillerie entscheidend, die eine noch höhere Reichweite aufweist.
Von Anfang meldeten sich vereinzelt Stimmen in den US-Apparaten, die vor einer weiteren Eskalation warnten. Sie traten dafür ein, die Krim und den Donbass Russland zu überlassen und dafür die restliche Ukraine fest in den US-Machtbereich zu überführen. Klingende Namen: Ex-Außenminister Henry Kissinger oder der Politologe John Mearsheimer. Doch das sind Ausreißer, wenn man von einem Teil des Trumpismus absieht. Als ein paar Parlamentarier der Demokraten für Verhandlungen eintraten, zwang man sie zum Rückzug. Nun schließt der Vorsitzende des US-Generalstab Mark Milley die Möglichkeit einer politischen Lösung nicht aus – sehr vorsichtig, aber doch von einer gewichtigen Position aus, denn er hält eine vollständige Niederlage Russlands für unwahrscheinlich.
Es ist wahrscheinlich, dass Washington eine weitere Offensive der Ukraine unterstützen wird, auch um Russlands Kraft abzutesten und die geostrategischen Kosten für eine historische Niederlage Russlands zu ermitteln. Der Krieg wird also andauern.
Doch sollte Russland tatsächlich in die Defensive kommen und Richtung voller Niederlage schrammen, könnte sich in der russischen Gesellschaft einiges ändern. Fühlt sich nämlich die Mehrheit akut vom Westen und der Nato bedroht, kann der russische Patriotismus ähnlich anspringen, wie es der ukrainische getan hat. Russland könnte im Modus der manifesten Selbstverteidigung (das war bisher für die Mehrheit nicht der Fall) enorme Ressourcen auf allen Ebenen mobilisieren.
Wir haben vor rein geopolitischer Spekulation gewarnt. Aber natürlich spielt der Konflikt um die amerikanische Weltordnung eine wesentliche Rolle.
Das US-Empire und die mit ihm verbundene Globalisierung ist in einer entscheidenden Krise. Den „War on Terror“ konnte Washington nicht gewinnen. Er führte zu Teilrückzügen: siehe Irak, Syrien oder Afghanistan.
Die Neocons, die mit einer aggressiven Strategie des Präventivkriegs die globale amerikanische Vorherrschaft verteidigten wollten und unter Bush junior in höchste Ämter aufstiegen, mussten etwas zurückstecken. Unter Obama wurde die kriegerische Rhetorik moderiert und das militaristische Abenteurertum gedämpft. Washington wollte in Syrien einen zweiten Irak vermeiden und griff nicht direkt militärisch ein. Doch die Unterschiede zu Bush waren eher an der Oberfläche und in der Darstellung. In der Substanz blieb alles auf die Aufrechterhaltung des Empires ausgerichtet, die Feinde Russland, China und Iran waren bereits auserkoren. Die Kampagnen gegen die kleinen „Schurkenstaaten“ liefen sowieso weiter.
Lediglich Präsident Trump stellte zwei Eckpfeiler der US-Weltpolitik beider Parteien in Frage, nämlich die Ausgrenzung Russlands und Nordkoreas. Doch der Staatsapparat ließ keine Änderung zu. Die Agenda der Neocons erwies sich fest in das US-Regime eingeschrieben, jedoch ohne deren ostentative Provokationen und Übertreibungen, die nur Komplikationen bringen. Unter Präsident Biden setzt sich das bruchlos fort.
Wie beschrieben besteht die Grundidee in einem Präventivkrieg gegen potentielle Gegner. Der abnehmenden Hegemonie und Kontrolle soll durch Gewalt und Repression begegnet werden. Aufkommender Widerstand muss im Keim erstickt werden, um Kettenreaktionen hintanzuhalten.
Jahrzehnte des Neoliberalismus und die damit einhergehenden Angriffe auf die unteren Klassen haben die politischen Systeme in vielen Zentrumsstaaten selbst unterspült und Oppositionstendenzen hervortreten lassen. Diesen wurde wiederum mit der Verschärfung der autoritären Züge begegnet, erprobt auch während der Covid-Kampagne.
Die Weltwirtschaftskrise 2008 wurde mittels staatlicher Kreditaufblähung und der Politik des billigen Geldes tamponiert. Doch sie hat die Spannungen insbesondere in der Europäischen Union und im Euroraum stark erhöht. Im Covid-Ausnahmezustand haben die Staaten die Austerität gelockert und über Abfederungsmaßnahmen die Nachfrage stabilisiert. Die Krise wurde seit vier Jahrzehnten erstmals wieder angebotsseitig induziert, nämlich durch die durch den Ausnahmezustand unterbrochenen Lieferketten aus China und durch den Energiepreisschock also Folge der Sanktionen gegen Russland. Sollten vor allem die deutschen Eliten zur Austerität zurückzukehren und noch weitere Zinserhöhungen gegen die Inflation (die im Übrigen gegen eine von außen kommende Teuerung unwirksam sind) durchzusetzen versuchen, dann wird die Krise der EU wieder offen ausbrechen. In Verbindung mit dem selbstbestädigenden Wirtschaftskrieg gegen Russland erhöht das die Zentrifugalkräfte enorm, mit dem Potential die EU zu sprengen.
Ein ganz wichtiges Moment zur Überwindung der Wirtschaftskrise war der nicht enden wollende Nachfrageimpuls aus China. Doch der damit einhergehende scheinbar unaufhaltsame Aufstieg Chinas ist für die Vereinigten Staaten inakzeptabel, weil er ihre Suprematie in Frage stellt. Sie betrachten China mittlerweile als den gefährlichsten Rivalen und haben wirtschaftspolitische Strafmaßnahmen gegen das Reich der Mitte verhängt – zuletzt das Chipembargo, um Chinas Vordringen in den Bereich der Hochtechnologie zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen, die das US-Empire bisher allein kontrolliert.
China stieg indes nicht gegen die Globalisierung auf, sondern mit ihr, in den Poren des globalen US-Kapitalismus. Niemand hatte das vorhersehen können, denn das 20. Jahrhundert hatte das Gegenteil gelehrt: kapitalistische Entwicklung war nur mit dem Wohlwollen der imperialistischen Zentren möglich. Wer eigenständig zu sein versuchte oder sich gar abkoppelte, der wurde vom US-Zentrum aus der von ihm kontrollierten Weltwirtschaft ausgeschlossen.
Mit dem Ende der Sowjetunion änderte sich das, wobei das im historischen Moment keineswegs so klar war. Die Wiederherstellung des Kapitalismus führte fast überall auch zu einer politischen Unterwerfung der neuen Eliten. Bei Russland versuchte es der Westen mit Jelzin, doch es zeichnete sich ab, dass dies nicht gelingen würde. Das ist der Kern des Putinismus: Kapitalismus, aber mit einer gewissen Selbständigkeit, gestützt auf das militärische Erbe der UdSSR. Nachdem das für das US-Empire nicht annehmbar ist, kam es zu der schrittweisen Eskalation, die im gegenwärtigen Krieg gipfelt. Anders in China: Peking kehrte ebenfalls zum Kapitalismus zurück, aber unter Wahrung seiner Unabhängigkeit, namentlich unter alleiniger Führung der KP. Die USA ließen gewähren, weil die sich sehr stark fühlten. Zudem ermöglichte die Globalisierung einen ganzen neoliberalen Entwicklungszyklus, basierend auf der systematischen Absenkung der Löhne im Westen und der Auslagerung in Billiglohnländer, an deren Spitze China stand. Doch die KP lenkte und steuerte den Kapitalismus staatlich und nutzte ihn planmäßig zur Entwicklung. Es gelang ihr sich nicht an alle Regeln des Freihandels zu halten (die Unterentwicklung absichern), auch dank der enormen Größe des Binnenmarktes und der Bedeutung der globalen chinesischen Nachfrage angesichts der durch den Neoliberalismus verursachten Nachfragelücke im Westen. Erst nach einem Vierteljahrhundert wurden sie sich bewusst, dass ihnen ein kapitalistischer Rivale erwachsen war, der durch seine Unabhängigkeit und wirtschaftliche Potenz die Grundfesten des US-Empire erschüttert. Ein neuer Feind war geboren. Die Propagandamaschine ist bereits seit langem angeworfen, die Sanktionsspirale dreht sich und der Wirtschaftskrieg hat bereits begonnen. Die USA wollen China mit allen Mitteln eindämmen, selbstverständlich auch militärisch. Alles drängt Richtung einer militärischen Aggression gegen China. Doch die Größe und Bedeutung des Unterfangens ist so offensichtlich, dass Form und Anlass unklar sind. Unmittelbar sind die USA dazu nicht in der Lage. Sie müssen erst die Bedingungen dafür schaffen. Russland möglichst zu verkleinern, ist eine davon.
Wir erleben gegenwärtig das Ende der Globalisierung und der monopolaren Weltordnung. Die politisch-militärische Niederringung von Russland und China ist Washington wichtiger als das globale Freihandelsregime. Denn die diversen Sanktionsregime und Handelskriege schaffen tendenziell alternative konkurrierende Wirtschaftsräume – und Spielräume dazwischen. Der gegenwärtige Krieg hat gezeigt, dass der Westen zu schwach ist, um das Embargo global durchzusetzen, auch gegenüber Verbündeten wie Indien, den Golfstaaten oder dem Nato-Frontstaat Türkei.
Die Auswirkungen sind vielfältig und müssen anderen Texten vorbehalten bleiben. Hier nur ganz knapp einige Momente:
Am meisten Schaden wird das deutsche neoliberale Modell nehmen, das auf der Grundlage der Globalisierung sich am intensivsten mit China und Russland wirtschaftlich verflochten hat: Billige Energie aus Russland. Der der eigenen arbeitenden Bevölkerung vorenthaltene Konsum ersetzt durch die chinesische Nachfrage. Der deutsche Block wird beim wahrscheinlichen Ausgang des Ukraine-Kriegs in Form eines Patts der größte Verlierer sein. Bei einer vollständigen Unterwerfung Russlands (von der auch Hitler geträumt hatte), würden die Dinge natürlich anders aussehen. Doch das ist unwahrscheinlich.
Das Ende der Globalisierung stellt natürlich auch das neoliberale Regime nach innen in Frage. Der systematische Lohndruck durch Auslagerung wird nicht mehr in der Weise funktionieren, wie man auch am Beispiel des Brexits sehen kann. Das bedeutet natürlich nicht die Rückkehr zum Klassenkompromiss der 1970er Jahre, im Gegenteil, die Tendenz geht Richtung Autoritarismus zur Durchsetzung der Interessen der kapitalistischen Eliten. Auch die globalistische Ideologie wird durch die US-nationalistische Wirtschaftspolitik beschädigt werden. Denn wenn der Herold der Globalisierung sich selbst systematisch an seine eigenen Regeln nicht hält, werden es die, die genug Kraft dazu haben, reziprok auch nicht tun, und die, die die Kraft nicht haben und sich daran halten müssen, sich gedemütigt und betrogen fühlen. Politischer Widerstand auf der Basis nationaler Souveränität gegen das US-Empire wird im Zentrum der nächsten Periode stehen.
Der entscheidende Punkt für emanzipatorische Kräfte: eine multipolare Ordnung ist für sich genommen weder demokratischer noch sozialer, denn die Regime, die Widerstand leisten, basieren ebenfalls auf der kapitalistischen Ordnung in diktatorischer politischer Form. Doch das multipolare Moment schafft Spielräume und Potentiale vor allem auch für Volks- und Klassenbewegungen mit emanzipatorischer und spezifischer neo-sozialistischer Tendenz. Der Putinismus zeigt ja gerade, wie wenig er in der Lage ist, diese historische Auflehnung gegen das US-Empire, das jede Entwicklung blockiert, zu führen. Beim islamischen Regime des Iran sieht man das genauso. China hat es noch nicht demonstriert, aber aus der historischen Analyse kann man es ableiten.
Gerne wird über den russischen Imperialismus gesprochen. Eine linke Verkleidung des US-Imperialismus zieht daraus die logischen Konsequenzen und fordert die Dekolonisierung Russlands (eine grandios-monströse Verdrehung) in Unterstützung der westlich-ukrainischen Kriegsanstrengungen.
All das sind schlimme Verharmlosungen des US-Empires, das die Welt seit 1989/91 alleine zu beherrschen versucht und dazu mit Krieg, Zerstörung und Elend überzieht. So fehlgeleitet, unterdrückerisch, ungerecht, unfähig etc. der Widerstand dagegen auch sein mag, ihn mit dem globalen Imperialismus der USA kategorial gleichzusetzen, entschuldigt jenen jedenfalls. Der Begriff verstellt die Sicht auf die übergeordnete Notwendigkeit den US-Imperialismus zu bekämpfen, um den Weg für emanzipatorischen Fortschritt zu ebnen.
Schauen wir uns an, was den Putinismus im historischen Kontext ausmacht: Wie beschrieben umarmten die russischen Eliten den Kapitalismus und transformierten sich in eine kapitalistische Klasse, die sich dem Westen zu unterwerfen bereit war. Der Widerstand in den Apparaten dagegen war viel zu schwach, vor allem weil von unten, von der Arbeiterschaft, wenig kam. Er konnte mit autoritären Maßnahmen unter Kontrolle gebracht werden. (Siehe die vom Westen unterstützte gewaltsame Ausschaltung des Parlaments 1993). Doch die Kombination von rapidem sozialem Niedergang durch die neoliberale Schocktherapie und nationaler Unterwerfung war einfach zu viel. Die große Masse bis in den Mittelstand hinein wünschte sich die nationale Stabilisierung Russlands, sowie einen gewissen sozialen Ausgleich. Putin ordnete die Oligarchen dem Staat unter und machte die Rohstoffeinnahmen diesem dienstbar – eine klassische antikoloniale Aufgabe unter Zurückdrängung westlicher Konzerne. Damit war Russland auch als Nation wiederhergestellt. Dem imperialen Westen wurde in seiner Expansion Grenzen gesetzt, gleichzeitig aber die Zusammenarbeit beschworen, genauso wie am liberalen Kapitalismus festgehalten wurde.
Doch der Westen war und ist nicht bereit diesen Status quo zu respektieren. Der kurze Waffengang in Georgien 2008 war ein Schuss vor den Bug der Nato, den sie so nicht erwartet hätte – aber im gewissen Sinne wurde er von Washington als Kriegserklärung gewertet. 2014 wurde dann die Ukraine auf der Grundlage innerer Konflikte in den westlichen Machtbereich eingegliedert.
Nicht Putin allein, sondern das System Putin musste reagieren, um dem beschriebenen impliziten Gesellschaftsvertrag zu entsprechen. Sie holten die russische Krim zurück, die ja einer freundlichen Ukraine anvertraut worden war. Den Volksaufstand im Donbass unterstützte der Kreml vorsichtig. Beides erfolgte mit überwiegender Billigung der Bevölkerung. Als sich nach ukrainischen Provokationen der Gegenschlag als erfolgreich erwies (Schlacht von Debaltsevo 2015), stoppte Moskau den Vormarsch der Volksrepubliken zugunsten des Minsker Friedens. Aufgrund der ukrainischen Schwäche akzeptierte der Westen das, nur um sich militärisch besser vorzubereiten, so wie es in den letzten acht Jahren geschah. Gleichzeitig hörte die Ukraine nicht auf den Donbass zu beschießen, was mit der entsprechenden Gegenwehr der Volksrepubliken mehr als 10.000 Opfer forderte.
Die Invasion der Ukraine war das beste politisch-militärische Geschenk, das Putin dem Westen hatte machen können. Damit gelang es die westliche strukturelle Aggression mittels Instrumentalisierung des ukrainischen Nationalismus in einen vermeintlichen Verteidigungskrieg der Ukraine umzudeuten. („Solidarität mit der Ukraine“)
Das ganze Wesen des Putinismus besteht im Handeln von oben, durchaus auf der Basis eines Kräfteparallelogramms, aber dennoch bonapartistisch herausgehoben. Wir haben die enorme politisch-militärische Fehlkalkulation, die hinter der Invasion gestanden haben mag, dargestellt. Ergebnis ist die feste Verankerung des Banderismus und der Nato in weiten Teilen der ukrainischen Gesellschaft, viel mehr als vor dem Eingreifen. Die russische Gesellschaft hat dem Putinismus zwar nicht die Gefolgschaft aufgekündigt. Sie bleibt passiv und lässt gewähren. Aber es ist nicht ihr Krieg. Im besten Fall für den Kreml kann der Donbass, die Krim und die Landbrücke gehalten werden, grosso modo entlang des heutigen Frontverlaufs, mit enormen Zerstörungen in den betroffenen Gebieten und einer Erschöpfung der russischen Gesellschaft.
Es sei denn, Washington überschätzt sich und sein ukrainisches Kanonenfutter, geht zu weit und mobilisiert so den russischen Patriotismus.
Eine über das rein Militärische hinausgehende Idee, wie der ukrainische Nationalismus bekämpft und die Nato eingedämmt werden könnte, hat der Putinismus nicht zu bieten, kann er aus seiner Geschichte und Rolle heraus gar nicht. Da greift er simpel auf den großrussischen Chauvinismus zurück, der den Banderismus ja befeuert.
Von erfolgversprechendem Antiimperialismus kann nicht die Rede sein, schon gar nicht gestützt auf das Volk. Die Formel Putins war auch eine ganz andere: Russland zu stabilisieren und Stärke zu zeigen, um vom Westen akzeptiert und in den globalen Kapitalismus integriert zu werden. Doch das spielt es im US-Empire eben nicht. Da gibt es nur Unterordnung.
Der Krieg kann gar nicht anders als die russische Gesellschaft aufzuwühlen. Es gibt einen Kriegsflügel, eine Koalition aus patriotischer Rechten und KP, die sich eine volle Mobilisierung der Gesellschaft wünscht, um dem Krieg zu gewinnen. Um das zu ermöglichen, will sie stärkere staatliche Lenkung sowie Autoritarismus auf der Basis eines großrussischen Patriotismus. Aus der Ferne schaut es nicht danach aus, als ob diese Kräfte das Ruder übernehmen könnten, denn sie stoßen auf dieselben Grenzen wie der Putinismus. Sie sind nichts anderes als eine Form eines etatistisch radikalisierten Putinismus. Sie können nicht verstehen, dass das rohstoffkapitalistische Russland qualitativ schwächer ist als die UdSSR, die sich der globalen Unterstützung der subalternen Klassen und vieler peripherer Staaten erfreute und vom Kredit der Niederringung Nazi-Deutschlands zehrte, der 1989 verbraucht war. Einige rechte Kräfte in Russland versuchen am vermeintlichen nationalen Glanz und Größe der Monarchie anzuknüpfen. Aber die war wie beschrieben vom westlichen Imperialismus gestützt, der heute der Gegner ist, und war nicht fähig auf eigenen Beinen zu stehen.
Auf der anderen Seite stehen die wirtschaftsliberalen und prowestlichen Kräfte, mit einem kleinen Teil der Linken im ungewollten Schlepptau, die sich gegen den Krieg stellen. Sie sind noch weniger mehrheitsfähig, und könnten nur auf Basis einer antiputinistischen Revolte mittels westlicher Unterstützung im Zusammenhang mit einer (Beinahe-)Kapitulation Russlands an die Macht kommen.
So werden sich Veränderungen wohl durch Verschiebungen innerhalb des Putinismus Ausdruck verleihen müssen. Auch ein möglicher Kompromiss mit dem Westen wird über Putin selbst gehen.
Eine nach außen hin hörbare leninistisch-antiimperialistische Linke, mit einem demokratischen und sozialen Anspruch, gibt es in Russland nicht. Dazu wirkt die globale Niederlage der Russischen Revolution noch zu sehr nach. Zu hoffen ist jedenfalls, dass die gegenwärtige Konfrontation zumindest den Boden für einen Neubeginn bereitet. Die programmatische Antwort darauf könnte sich im Kern um folgende Achsen bewegen:
· Die Stoßrichtung hin zu einer multipolaren Welt muss anerkannt und unterstützt werden, genauso wie die Selbstverteidigung gegen die strukturelle Aggression des US-geführten Westens. Der Antiimperialismus muss vom Volk getragen werden.
· Grundsätzliche Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen als demokratisches Grundelement. Für eine neutrale, demokratische und föderale Ukraine, die allen Teilen der Bevölkerung gleiche Rechte zusichert. Nein zur Nato und für die enge Kooperation zwischen der Ukraine und Russland. Nein zum Banderismus und allen Formen des ausschließenden Nationalismus.
· Ein Waffenstillstand mit der vorläufigen Teilung des Landes ist das kleinere Übel und kann viele Menschenleben rettet. Denn es bestehen keine absehbaren Aussichten den Banderismus von außen zu besiegen, der die feste Unterstützung des Westens genießt. In der Folge muss an die Ukraine als Nation die Hand ausgestreckt und eine Kooperation angeboten werden, um den Banderismus zu schwächen und mittels einer demokratisch-antiimperialistischen Revolution von innen abzulösen, was aber aus heutiger Sicht als fantastische Spekulation erscheinen muss.
· Nach innen hin: Entmachtung der Oligarchen hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Selbstständige Entwicklung in Kooperation mit China hin zur demokratischen Kontrolle der Wirtschaft im Sinne der arbeitenden Menschen. Demokratisierung unter Begrenzung der westlichen Einmischung.
Wien, Dezember 2022