„Wäre der Antisemitismus wirklich nur das Produkt von Schlagworten, die ausschließliche Wirkung der Tätigkeit gewisser Agitatoren, dann hätten wir uns nicht mit ihm zu beschäftigen; und es wäre alsdann auch die Bewegung, wie sie tatsächlich vorhanden ist, undenkbar. Den Antisemitismus mit solchen Urteilen abfertigen zu wollen, steht genau auf derselben Stufe, von der unsere Gegner jahrzehntelang glaubten uns abfertigen zu können.“(August Bebel 1893)[1]
Es hat mich schockiert wie die liberalen Medien während der Coronakrise um von konkreten Themen abzulenken nicht einmal davor zurückgeschreckt sind antisemitsche Fantasien nach zu erzählen und eben ganz gegen Bebel, je absurder die Zusammenhänge die hergestellt werden, desto mehr sind wir moralisch dazu verpflichtet die Thematik ernst zu nehmen.[2] Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Thema in der Moderne verlangt zunächst eine Kontextualisierung.
Das 19. Jahrhundert: Antisemitismus und jüdische Emanzipation
Wenn wir über den parteiförmig organisierten Antisemitismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sprechen, dann sprechen wir von einer fundamentalen Unehrlichkeit. Denn es zieht sich die politische Absicht durch konkrete materielle Interessengegensätze bzw. gesellschaftliche Konflikte nicht auf eine direkte Art auszudrücken sondern in den Rahmen eines immer wirrer werdenden Kulturkämpfes zu verschieben. Die Widersprüchlichkeit des ganzen zeig sich im berühmten Ausspruch von Karl Lueger, wiener Bürgermeister zwischen 1897-1910 und Gründer der christlich-sozialen Partei: „Wer ein Jud ist bestimme ich“. Die Antisemiten hatten keine einheitliche oder klare Vorstellung davon, was einen Juden oder das Judentum ausmacht. Und so oder so entsprach die Vorstellung das alle Juden ein Volk bilden würden, zur Jahrhundertwende überhaupt nicht mehr der sozialen Realität.
Den orthodoxen, meist jddisch sprechenden Jüdinnen und Juden aus dem Osten standen die deutsch-österreichischen und ungarischen Jüdinnen und Juden gegenüber die öfter konvertierten und außerhalb der jüdischen Gemeinschaft heirateten und in jedem Fall aber eine andere Auslegung des Judentums hatten, die Haskala oder auch jüdische Aufklährung. Das jüdische Bürgertum Ungarns gestaltete die vom Kleinadel geführte ungarische Nationalbewegung maßgeblich mit.[3]
Im Westen gerieten die Deutsch-Österreicher jüdischer Abstammung wie Victor Adler, Heinrich Friedjung oder Karl Kraus aber zwischen die Fronten. Für Karl Kautsky und die tschechische Nationalbewegung waren die Juden großbürgerliche, großdeutsche Chauvinisten.[4] Umgekehrt wurden sie insbesondere gegen ende des 19. Jahrhunderts aus der deutschen Nationalbewegung ausgeschlossen, egal wie sehr sie daran mitgewirkt oder sich assimiliert hatten.[5] Gleichzeitig wurde jiddisch in den Statistiken der Habsburgermonarchie ohne Unterscheidung als deutsch erfasst. Als deutsprachige Beamte waren die Juden gerade in Gallizien und der Bukowina sehr wichtig für den Habsburgischen Staatsapparat.[6]
Die seit 1781 andauernde Erfolgsgeschichte der jüdischen Emanzipation überschnitt sich mit der Ära der Liberalisierung. Das Versprechen das der Mensch seine Lage durch individuelle Leistung verbessern kann ging im Kapitalismus der freien Konkurenz für einige Händler und Handwerker zeitweise tatsächlich auf. Aus der selben Rationalität der allgemeinen bürgerlichen Gleichheit heraus aus der der moderne Zentralstaat Karrierechancen öffnete lehnt er allerdings auch die autonome Selbstverwaltung der traditionellen ständischen Gemeinschaften ab, die Ressourcen und Erwerbschancen für sich als Kollektiv beanspruchen. In Form des Stetels oder Gettos existierte traditionell eine sehr klare ständisch-religiöse Segregation. Selbst bis in die erste österreichische Republik war das Heimatrecht, die Zugehörigkeit zu jeweiligen Gemeinde, die notwendige Voraussetzung um von dieser Sozialleistungen zu empfangen. Die jüdische Bevölkerung, die traditionell von der christlich-bäuerlichen Gemeinde und vom Grundbesitz ausgeschlossen wurde konzentrierte sich insbesondere in den rasant wachsenden modernen Großstädten der Jahrhundertwende.
In Wien wie auch in Prag waren um die Jahrhundertwende knappe 10% der Bevölkerung jüdisch. Die armen orthodoxen Ostjuden und das liberale assimilationistische Großbürgertum bildeten allerdings auch in der Stadt keine soziale Einheit.[7] In Budapest war sogar ein Viertel der Bevölkerung jüdisch und in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, also ganz im Osten der ungarischen Reichshälfte, 30%.[8]
Der antimoderne bäuerliche Antisemitismus richtet sich gegen die Großstadt allgemein und insbesondere gegen methaphorische Juden, also Wucherern denen eine unchristliche Preisgestaltung vorgeworfen wird. Die in diesem Zusammenhang zentrale Phrase von Gemein- und Eigennutz hat aber nur dann eine konkrete Bedeutung wenn wir über konkrete ständische Gemeinschaften sprechen die durch profitorientiertes Verhalten übergangen werden.
Profitorientiertes verhalten wurde in der Großstadt tatsächlich propagiert, allerdings von den Bildungseliten des klassischen Liberalismus. Wir haben also auf der einen Seite die Kapitalkonzentration in der modernen Großstadt und auf der anderen verschuldete bäuerliche und kleinbürgerliche Schichten deren Lebensgrundlage zu verschwinden droht. Wenn dann für die nächste Generation überhaupt noch eine Aufstiegsperspektive da ist, dann nicht als Kleinproduzenten sondern im Bildungsbürgertum wo der Konkurrenzdruck aber auch immer größer wird je mehr Leute dort hin strömen. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land bzw. Aristokratie, Bauern und Bürgertum setzt sich allerdings selbst im antisemitischen Lager fort: in der 1. österreichischen Republik bspw. haben wir die konservativen Christlich-sozialen, den völkisch-agraristischen Landbund und die Nationalliberalen der großdeutschen Volkspartei.
Schönerer und der völkische Antisemitismus als Phänomen der Jahrhundertwende
Mit dem Wiener Börsenkrach von 1873 und den folgenden Krisen war der klassische Liberalismus moralisch so bankrott das sich die bürgerlichen im Linzer Programm der deutschnationalen von 1882 selbst davon distanzieren wollten. Der von den liberalen kommende Gutsherr Georg von Schönerer drückt es so aus: „Die socialen Gegensätze wurden durch das Princip der freien Concurenz und durch die Uebermacht des Capitals in einer Weise verschärft, daß das Einschreiten des Staates in dessen eigensten Interesse gewiss und unvermeidlich geworden ist.“ Das bedeutet für Schönerer aber vor allem einen unglaublich chavenistischen großdeutschen Etateismus und Imperialismus.[9]
Dem Judentum unterstellte Schönerer unter anderem in den Advokatenstand und Journalismus schlechte Sitten hinein gebracht zu haben und forderte zur antisemitischen Gewalt auf. Mit Schönerers Erweiterung des Linzer Programms um einen Arierparagraphen zielte auf die systematische Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen leben ab.[10] Nach dem Ende der Monarchie verschärft sich der Antisemitismus massiv in der Konkurrenz um akademische Posten bzw. Studienplätze. Durch die starke Verkleinerung des Territoriums aber auch durch die Friedensverträge bedingt, gab es insbesondere für Beamte und Offiziere viel weniger stellen und Juden wurden aus dem Staatsdienst verdrängt. In Wien und insbesondere Budapest wo in der Zwischenkriegszeit etwa 70% der Journalisten jüdischer Herkunft waren, gab es eine hohe demographische Überschneidung zwischen dem urbanen Bildungsbürgertum, aus dem sich die liberale und später auch sozialistische Avantgarde rekrutierten und der jüdischen Bevölkerung.[11]
Die Verschränkung einer konservativen Position im Kulturkampf mit dem Antisemitismus ist leicht zu erklären. Die katholische Hocharistokratie die sich in ihre exklusiven Jagdschlösser zurückgezogen hat, stellte gegenüber der jüdisch-protestantisch geprägten bürgerlichen Salonkultur (Fanny von Arnstein) immer klar das es eine Grenze des sozialen Aufstiegs gibt: du kannst konvertieren und dir Adelstitel kaufen, aber du wirst für die Aristokratie nie vornehm genug sein. Doch wie sich im deutschnationalen Motto: Weder Liberal noch klerikal zeigt, Inszeniert sich der völkische Antisemitismus als eine neue dritte Position im Kulturkampf. Gleichzeitig stellen sie sich aber mehr oder weniger deutlich in die protestantische Tradition in der Antiklerikalismus und Christentum problemlos vereinbar waren.[12]
Die Unterscheidung zwischen traditionellem, auf die Konfession bezogenen Antijudaismus und völkischem Antisemitismus ist dabei insofern irreführend, als es auch in der Debatte zu den Conversos (Neuchristen) die ab dem 15. Jahrhundert in Spanien geführt wurde, um eine Ausgrenzung aufgrund der Abstammung ging die unter der Bezeichnung „Reinheit des Blutes“ (Limpieza de sangre) geführt wurde. Während der Reformationsära im frühen 16. Jahrhundert wurde beispielsweise dem aus Spanien stammende Schatzmeister Gabriel Salamanca im Tiroler Volksmund eine jüdische Herkunft angedichtet. Den Fürsten und die Aristokratie nach ihrer inneren Logik, der Legitimation durch Abstammung, zu kritisieren war weniger waghalsig als ihre Herrschaft prinzipiell infrage zustellen.[13] Sofern der völkische Antisemitismus also als Eigenart charakterisiert werden kann, stellt er doch nichts anderes als eine Form des ständischen Chauvinismus dar. Durch Arierparagraphen und Nachweise wurde die soziokulturelle grenze zwischen Adel und nicht-adel effektiv nach unten verschoben anstatt sie zu überwinden. Auch mittelständische Familien dürften also stolz auf ihre christlichen Stammbäume sein, wer aber konfessionslos, unbestimmter bzw. fremder oder jüdischer Abstammung war wurde erst recht ausgegrenzt.
Selbst Schönerer appelliert an den „christlichen Charakter des österreichischen Staatswesens“. Der großbäuerliche und mittelständische Antisemitismus wird mit der Nationalitätenfrage verknüpft und stellt den „patriotischen produktiven Ständen“, später dem „schaffende Kapital“, das Transnationale Handels- und Bankkapital gegenüber. Zu deren berühmtesten Vertretern zählten einige jüdische Familien denen der soziale Aufstieg entgegen den ständisch-konservativen Vorstellungen gelungen war. Die Aristokratie und Staatsmänner hingegen werden als unschuldige Opfer von heimtückischen finsteren Mächten dargestellt und prinzipiell geschätzt. Bismarck und den deutschen Kaiser verehrt Schönerers Staatskult.[14]
Gömbös: Faschismus und Antisemitismus im Ungarn der Zwischenkriegszeit
Gyula Gömbös, Faschist und ungarischer Ministerpräsident zwischen 1932-1936 führt diese innere antisemitische Logik weiter aus. Er sagt ganz unmissverständlich das er ein Anhänger des kapitalistischen Systems ist. Geld und Kapital sind für ihn nur „Mittel in den Händen der Nation.”[15] Wenn sich drei respektable Grafen zu einem Kartell vereinigen, meint er das sie „Preise festsetzen werden, die jeder als entsprechend betrachten wird. Wenn aber drei Wucherer sich zu einem Kartell zusammenschließen, so wird das zu Preisen führen, in denen der Wucherergeist sich offenbart.”[16]
Die Aristokratie bildet bei Gömbös als historische Klasse den Kern der Nation. Jene die mit militärischem gehorsam folgen insbesondere und als Teil des Staatsapparats Gewalt aus üben nimmt Gömbös großzügiger weise dazu.[17]
Als das Habsburgische Regime am Ende des 1. Weltkrieges zusammengebrochen ist baute die sozialistische Partei mit der ungarischen Räterepublik in Budapest 1919 eine konkrete Alternative zum bürgerlich-aristokratischen Staatsapparat auf. Anstatt sich ihre militärisch-politische Niederlage eingestehen suchten die Herrschenden stattdessen die Schuld im ungehorsam der Zivilbevölkerung. Ideologisch äußert sich das bei Gömbös dann so: “Meine Auffassung ist die, daß jedermann an seinem Platz seine Pflicht erfüllen und dann vor Gott Rechenschaft ablegen soll.”[18]
Die konkrete politische Frage die sich 1919 stellte: Rätemacht oder Konterrevolution wurde durch den Mythos der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung und die Dolchstoß Legende, wieder zu einer Frage des Kulurkampfes zwischen einem christlichen Idealismus und einem nicht-christlichen Materialismus gemacht wodurch Marxismus, die ArbeiterInnenbewegung, klassischer Liberalismus und das Judentum paradoxerweise zu einem oppositionellen Feindbild verschmolzen.[19]
Da etwa 5% Bevölkerung in Ungarn jüdisch waren wird es niemanden überraschen das sie sowohl auf der Seite der Revolution als auch auf der Seite der Kontenrevolution zu finden war. Jüdische Bankiers und Händler finanzierten die ungarische Konterrevolution nach Bela Bodo maßgeblich mit. In den ungarischen antibolschewistischen paramilitärischen Verbänden ist die Teilnahme des jüdischen Mittelstands dokumentiert. Tatsächlich war die jüdische Bevölkerung in der budaperster Räterepublik aber sehr stark repräsentiert. Von 45 Volkskommissaren waren mindestens 27 jüdischer Abstammung.[20]
Infolge der Zerstörung der Budapester Räterepublik durch die rumänische Armee kam es zwischen 1919-1920 von Seiten der konterrevolutionären Paramilitärs zu einer Welle der antisozialistischen Gewalt bzw. antisemitischen Pogrome, im Zuge derer 3000 Menschen ermordet und 70.000 eingesperrt wurden. führend bei der Ausübung der Grausamkeiten war Pal Pronay, ein antisemitischer Militarist aus einer Familie von eher liberal orientierten Aristokraten. Er wurde in Wien im Umfeld des antibolschewistischen Komitees angeworben zeigte zunächst aber wenig politisches Interesse sondern wollte vor allem ein regelmäßiges Einkommen als Offizier. Die treibende Motivation der Paramilitärs, die sich insgesamt vor allem aus dem ländlichen Mittelstand rekrutiert haben, war die Fortsetzung des sozialen Aufstiegs innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft mit anderen mitteln. Sie haben vermeintliche oder tatsächlichen Juden ermordet, ihnen Geld und mittelständische Statussymbole (bspw. Autos) geraubt oder Leute von der Straße entführt und Lösegeldforderungen gestellt. Die Paramilitärs stießen, wie auch in anderen Teilen Europas zwar punktuell auf juristische Schwierigkeiten, aber im Prinzip hatten sie politisch die volle Unterstützung der Elite und wurden beklatscht solange sie ihre Funktion als Kettenhunde erfüllten. Auch in der prowestlichen Erinnerungskultur wurden die Führer von antikommunistische bzw. antisemitische Paramilitärs wie Pal Pronay und Ivan Hejjas in Ungarn oder Stepan Bandera in Galizien glorifiziert.[21]
Funktion des Antisemitismus und Faschismustheorie
Zusammenfassend lässt sich die zunehmende antisemitische Dynamik des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert also als eine sehr spezielle Erscheinung im späten Übergang von der aristokratisch geprägten Ständegesellschaft zur bürgerlichen Klassengesellschaft. Das herrschaftliche Interesse an einem Antisemitismus, der einzelne jüdische Emporkömmlinge verurteilt, die Aristokratie und das Bürgertum als Kollektiv aber im Umkehrschluss von Korruption bzw. Dekadenz freispricht war beständig. Im antisemitischen Feindbild der Zwischenkriegszeit verband sich schließlich ständischer Chauvinismus mit Antikommunismus und einer Ablehnung gegenüber der urbanen Moderne. Dieses Feindbild stabilisierte die konterrevolutionäre Einheit zwischen Aristokratie, Bürgertum und Großbauern. Das kleinbäuerliche Misstrauen gegenüber der Kapitalkonzentration in der Großstadt sowie dem deutschnationalen bzw. jüdischen Groß- und Bildungsbürgertum stellte hingegen weder ein neues Phänomen dar, noch ergab sich daraus ein wirkliches politisches Bündnis mit dem konterrevolutionären Lager.[22]
Den Ursachen des historischen Antisemitismus stehen die antisemitischen Schlagworte gegenüber, welche die bürgerliche Gesellschaft bis in die Gegenwart verfolgen. Auch Andreas Peham stellt einen qualitativen Unterschied fest zwischen dem Antisemitismus der im Dienst der politischen Herrschaft steht und der aktuellen Situation in Westeuropa, wo antisemitische Mythen kaum mehr unmittelbar herrschaftlichen Interessen dienstbar gemacht werden. Hier sind es nach Peham „psychische Bedürfnisse, die Mythen am Leben erhalten“.[23] Es handelt sich in der Gegenwart also um Fantasien die dem Alltagsleben einen kultischen Sinn stiften, aber keinen konkreten politischen Charakter tragen. Warum also werden antisemitische Schlagworte andauernd zum Politikum? Effektiv verwirren sie selbst in der antiantisemitischen Verneinung alle möglichen Themen und machen sie zu einer frage des Judenhasses.
Karl Kautsky schrieb dazu 1903: „Noch mystischer aber ist die Auffassung des liberalen Philosemiten, der im Judenhass nur das Produkt eines Volkswahnsinns sieht.“ Die bürgerliche Auflassung von Antifaschismus drückt sich heute hauptsächlich als Populismus Panik aus. Als ursächlich für den Antisemitismus erscheint dabei die Dummheit des zubelehrenden Volkes. Liegt der Ablehnung gegenüber dem Fremden kein konkreter Konflikt zugrunde, so reicht es nach Kautsky jeodoch das „Volksleben“ mit neuem Inhalt zu füllen. Stattdessen kann also ein „revolutionäres Denken in den Volksmassen“ entzündet werden.[24]
Für die liberale Angst vor dem Volkszorn, die oft durch das extrem verkürzte Bild verbreitet wird, dass Antisemitismus und der deutsche Nationalsozialismus eine Reaktion der Massen auf die Börsenkrise von 1929 gewesen wären, kann Kautskys Ansatz freilich keine Abhilfe schaffen. Doch die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus verlangt so oder so nach einer Erklärung. Anstatt Erklärungsansatz zum Thema zu machen die sie für überzeugend halten, suchen und verbreiten die liberalen Medien aber jene schockierenden antisemitische Resterscheinungen die sie angeblich nicht haben wollen.
Das völkische Märchen vom Rassenkampf – das den Klassenkampf überdeckt – wird von linksliberaler Seite nur darum ergänzt, dass es sich bei „Rassen“ um ein soziokulturelles Konstrukt handelt, das mit anderen Identitätskategorien kombiniert werden kann. Anstatt zum – als vulgär verworfenen – Klassenkampf als Konzept des unmittelbaren historischen Kontexts der Zwischenkriegszeit zurückzukehren wird dem Rassen- bzw. Kulturkampf durch eine die Epochen transzendierenden kulturgeschichte ein höherer Sinn gestiftet. In den gerade zu peinlichen Streitereien zwischen dem urbanen linksliberalen Bildungsbürgertum und den nationalkonservativen Populisten werden keine unterschiedlichen Weltbilder diskutiert, vielmehr bestätigen beide Seiten einander in dem sie für Kulturen bzw. Zivilisationen Partei ergreifen. Der Widerspruch zwischen den partikularen Vorstellungswelten der Bauernvölker (der Kulturbegriff selbst leitet sich bezeichnenderweise von der Pflege der Landwirtschaft her) und dem universalen Wahrheitsanspruch des urbanen Bildungsbürgertums (Civitas bezeichnet die Stadt oder Bürgerschaft) lässt sich aber nicht von oben herab schlichten, sondern wird dadurch – um jegliche Schuld von der (liberalen) Politik abzuweisen – noch weiter verwirrt.
Die starke Repräsentation der jüdischen Bevölkerung in der sozialistischen Avantgarde ist für das Verständnis der politischen Funktion des Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit und der historischen Werdung des deutschen, österreichischen, ungarischen und ukrainischen Faschismus wichtig. Doch ist der Antisemitismus weder ausreichend noch notwendig damit von Faschismus die Rede sein kann. Das sich vergleichbare Gräueltaten auch vor einem ganz anderen kulturellen Hintergrund ereignen konnte zeigen die antikommunistisch motivierten Massaker an der chinesischen Bevölkerung Indonesiens in der Mitte der 1960er Jahren.[25]
[1] August Bebel, Sozialdemokratie und Antisemitismus. Rede beim Kölner Parteitag 1893. In: Marxists Internet Archive, 18.6.2017, online unter <https://www.marxists.org/deutsch/archiv/bebel/1893/antisemitismus/index.html> (2.3.2023).
[2] Redaktion der Standard, Antisemitismus: so gefährlich sind Verschwörungsmythen. In: Der Standard, 27.1.2021, online unter <https://www.derstandard.at/story/2000123650570/antisemitismus-so-gefaehrlich-sind-verschwoerungs> (6.3.2023).
[3] Zum religiösen und sozioökonomischen Gegensatz innerhalb des ungarischen Judentums: Victor Karady, Religious Divisions, Socio-Economic Stratification and the Modernization of Hungarian Jewry after the Emancipation. In: Michael K. Silber (Hg.), Jews in the Hungarian Economy 1760-1945. Studies Dedicated to Moshe Carmilly-Weinberger on his Eightieth Birthday (Jerusalem 1992) 161-186. Zu Konversion, dem österreichischen Eherecht und der Frage der interkonfessionellen Eheschließung: Masha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 11, Wien/Köln/Graz 1988) 134-137.
[4] “The Jews on the other hand were all decidedly oppositional, anti-Habsburg, anti-aristocratic, social-liberal. They were enthusiastic nationalists, many of them downright chauvinist. But is (sic) was not Jewish nationalism which inspired them. That had not yet been discovered. No it was German nationalism, Pan-German nationalism.” Karl Kautsky, zitiert nach: Robert S. Wistirch, Socialism and the Jews. Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary (Rutherford 1982). „In the first two generations after the final emancipation, Prague’s middle-class and lower middle-class made in Jews made rapid progress in entering German socity. Given the choice between identifying with the German or Czech national groups, the great majority of Jews aligned with the Germans between 1860 and the early 1890. Thereafter the more prosperous Jews in the city retained their German identification while a Czech political allegiance gained among the poor Jews. The more comfortable Jews not only identified with liberal German socity and accepted its civic values, but they also gradually entered in large numbers into the myriad of German political, social and cultural groups in Prague.“ Gary B. Cohen, Jews in German Society. Prague, 1860-1914. In: Central European History 19, H. 1 (1977) 28-54, hier 52.
[5] Steven Beller, Patriotism and National Identity of Habsburg Jewry, 1860-1914. In: Leo Baeck Institute Year Book 41, H. 1 (1996) 215-238, hier 228.
[6] David Rechter, Becoming Habsburg. The Jews of Habsburg Bukovina, 1774-1918 (Liverpool 2013) 112f.
[7] Die meisten Jüdinnen und Juden Wiens, insbesondere die ärmeren aus dem Osten, wohnten um die Jahrhundertwende in den Bezirken Leopoldstadt, Alsergrund und Landstraße, wo sie vorwiegend unter sich blieben. Ökonomisch besser gestellte und liberale Jüdinnen und Juden wohnten in der Innerenstadt, Neubau und Mariahilf. Rozenblit, Die Juden Wiens, 80-101.
[8] Rechter, Becoming Habsburg, 111.
[9] Georg von Schönerer, Rede des Reichsrathsabgeordneten G. Ritter von Schönerer gehalten in der von über 1000 Personen besuchten Volksversammlung in Breslau am 7. Juni von 1882. In: Fünf Reden des Reichstagsabgeordneten Georg Ritter von Schönerer (Horn 1891) 3-12.
[10] „XII. Zur Durchführung der angestrebten Reformen ist die Beseitigung des jüdischen Einfluss auf allen Gebiten des öffentlichen Lebens unerläßlich.“ Das Programm der deutschnationalen Antisemiten (Linzer Programm). In: Fünf Reden des Reichstagsabgeordneten Georg Ritter von Schönerer (Horn 1891) 118-123, hier 123. Georg von Schönerer, Rede über die Presse gehalten von Reichsrathsabgeordneten G. Ritter von Schönerer in der von über 5000 Personen besuchten Versammlung im Sofiensaal zu Wien am 13. Februar 1885. In: Fünf Reden des Reichsrathsabgeordneten Georg Ritter von Schönerer (Horn 1891) 39-50. Georg von Schönerer, Rede des Reichsrathsabgeordneten Georg Ritter von Schönerer gehalten in der Sitzung des Abgeordnetenhauses zu Wien am 28. April 1887 in der Generaldebatte über den Staatsvoranschlag. In: Fünf Reden des Reichsrathsabgeordneten Georg Ritter von Schönerer (Horn 1891) 88-100.
[11] Margit Szöllösi-Janze, Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn. Historischer Kontext, Entwicklung und Herrschaft (München 1989) 57-63. Katharina Kniefacz, Antisemitismus an der Universität Wien 1421–2006. In: 650 plus – Geschichte der Universität Wien, hg. von der Universität Wien, 22.06.2022, online unter <https://geschichte.univie.ac.at/de/themen/antisemitismus-der-universitat-wien> (3.3.2023).
[12] Auch wenn das Interesse an der protestantischen Tradition wie bei Schönerer nicht sehr ernst war, ganz ohne diesen Bezug ging es nicht. Selbst im Nationalsozialismus blieb das Neoheidentum ein Randphänomen. Im Rechtsagrarismus von Gyulya Gömbös oder dem Landbund hatte das reformatorische Erbe wohl einen höheren Stellenwert. Der deutsche Nationalsozialist Günther Franz konstruiert gezielt eine Kontinuitätslinie bis ins 16. Jahrhundert. Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg (München/Berlin 1933) 1, 465.
[13] „<<Limpieza de sangre>>: Die Idee der <<Blutreinheit>> und ihre Verbreitung Nach den Massentaufen von 1391 hatte sich in der spanischen Gesellschaft eine neue Gruppe zu etablieren begonnen – die Neuchristen! Natürlich bedurfte es einiger Jahre, bis die ehemals jüdischen Familien in der christlichen Gesellschaft richtig Fuß fassen konnten, aber nach und nach gelang immer mehr Conversos eine beeindruckende Karriere am Hof, in den Stadtverwaltungen und in der Kirche. Positionen, die für Juden unerreichbar gewesen waren, standen den getauften Juden nun problemlos offen – eine Tatsache, die auf viele Altchristen Druck ausübte und sie mit Neid erfüllte.“ Katharina Milota, Johannes von Torquemada OP als Verteidiger der Conversos (ungedruckte Diplomarbeit Universität Wien 2020) online unter <https://services.phaidra.univie.ac.at/api/object/o:1364083/download> (4.3.2023) 17. Peter Fischer, Die Gemeine Gesellschaft der Bergwerke. Bergbau und Bergleute im Tiroler Montanrevier Schwaz zur Zeit des Bauernkrieges (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 21, Gutenberg 2001) 110.
[14] Schönerer, Volksversammlung in Breslau am 7. Juni von 1882, 3-12.
[15] Gyula Gömbös, Regierungserklärung im Oberhaus (13. Oktober 1932). In: Für die nationale Selbstzwecklichkeit. Zwölf Reden des Ministerpräsidenten Julius Gömbös (Budapest 1932) 69-83 hier 76.
[16] Gyula Gömbös, Schlussrede zur Debatte über die Regierungserklärung im Oberhause (13. Oktober 1932). In: Für die nationale Selbstzwecklichkeit. Zwölf Reden des Ministerpräsidenten Julius Gömbös (Budapest 1932) 84-96, hier 90.
[17] „Die Kleinlandwirte erblicken das Wesen ihrer Politik nicht im Streben nach Klassenherrschaft, sondern in der Zusammenfassung der Kräfte, weil sie eine historische Klasse sind, ebenso wie die Aristokraten. In meinem Bezirk hat immer ein patriachalisches Verhältnis bestanden. Um die ungarischen Zelte tummeln sich Führer und Gemeine. Die Abstammung war für sie gleichgültig, für sie war nur eines maßgebend: wer wieviel für das ungarische Volk getan und gerungen hat.“ Gyula Gömbös, Antwort auf einen Trinkspruch in der Einheitspartei (5. Oktober 1932). In: Für die nationale Selbstzwecklichkeit. Zwölf Reden des Ministerpräsidenten Julius Gömbös (Budapest 1932) 29-31, hier 30.
[18] Gyula Gömbös, Regierungserklärung im Abgeordnetenhaus (11. oktober 1932). In: Für die nationale Selbstzwecklichkeit. Zwölf Reden des Ministerpräsidenten Julius Gömbös (Budapest 1932) 38-57, hier 43.
[19] „Eine weitere Ursache der Krise ist meiner Ansicht nach der Wettlauf nach dem Gold, das Vordringen des Materialismus, das zum Verfall des religiösen und sittlichen Lebens führt, der Niedergang der Sitten, die Genußsucht, die Lockerung des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern.“ Ebd. 41f.
[20] Bela Bodo, The White Terror in Hungary, 1919-1921: Social Worlds of Paramilitary Groups. In: Austrian History Yearbook 42 (2011) 133-163, hier 146. Szöllösi-Janze, Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn, 57-63.
[21] Bodo, The White Terror in Hungary, 133, 157-163. Zu Stepan Bandera: Grzegorz Rossoliński-Liebe. Stepan Bandera der ukrainische Nationalismus und der Transnationale Faschismus. In: APuZ. Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 67, H. 42-43 (2017) 17-22. Béla Bodó, Pál Prónay: Paramilitary Violence and Anti-Semitism in Hungary. 1919–1921. (The Carl Beck Papers in Russian & East European Studies 2101, Pittsburgh 2011) 4-14.
[22] Interessant sind in dieser Hinsicht beispielsweise der tschechische, bulgarische und russische Agrarsozialismus. Im russischen Bürgerkrieg zeigt sich das Problem das die anarchistisch und sozialrevolutionär orientierten Bauern sich weder dem bolschewistischen noch als monarchistischen Lager zuordnen lassen. Hinsichtlich der ungarischen Bauern spricht Bodo von einem Antirevolutionären Lager. Bodo, The White Terror in Hungary, 138.
[23] „Weil Verschwörungsmythen und Antisemitismus wichtige (Selbsterhaltungs-)Funktionen für Individuen und Gruppen haben, ist ihnen so schwer beizukommen. Zudem sind sie als soziale Fantasiebildungen per Definitionem nicht zu widerlegen – was ihre politische Instrumentalisierung nahelegt. Während die antisemitischen Mythen in arabischen Ländern und im Iran, aktuell die Hauptverbreitungsregionen der Protokolle, weiter im Dienst politischer Herrschaft stehen, sie aber auch in den zunehmend autoritär regierten Staaten Osteuropas, allen voran Ungarn, von offiziellen Stellen propagiert werden, werden sie in Westeuropa heute kaum mehr unmittelbar herrschaftlichen Interessen dienstbar gemacht. Hier sind es neben der finanziellen Gewinnträchtigkeit der einschlägigen Propaganda vor allem psychische Bedürfnisse, die die Mythen am Leben erhalten.“ Andreas Peham, Wie die Pandemie den Antisemitismus befeuert. Die aus gefühlten Kontrollverlusten wachsende Ohnmacht treibt viele in die Fänge von antisemitischen Verschwörungsmythen. In: der Standard, 17.5.2022, <https://www.derstandard.at/story/2000135744111/wie-die-pandemie-den-antisemitismus-befeuert> (7.3.2023)
[24] Karl Kautsky, Das Massaker von Kischinew und die Judenfrage (1903) In: Marxists Internet Archive, 22.2.2023, online unter <https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1903/xx/kischinew.htm> (7.3.2023)
[25] Jonas Mueller-Töwe, Der Genozid und Deutschlands heimliche Hilfe. Nachrichten für Deutschland In: t-online, 13.07.2020, online unter <https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_86930860/genozid-in-indonesien-deutschlands-heimliche-hilfe.html> (4.3.2023).