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Krisendiskurse: Draghi, Letta, die EU, und?

18. September 2024
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Albert F. Reiterer

„Europa“, die EU nämlich, muss das System des STAMOKAP stärken, wie China und die USA (?). Das Zentrum dieser Politik wird und muss ein europäischer militärisch-industrieller Komplex sein. Dazu braucht es einen neuerlichen Zentralisierungsschub. Dessen Motor wird eine neue Industriepolitik sein. Dafür wird die Brüsseler Kommission ungeheure Summen von Geld einsetzen müssen, die sie durch gemeinsame Schuldenauf­nahme erhalten wird, diesem Lieblingsprojekt der südlichen Neoliberalen. Und als Krönchen über Allem wird dies zu kombinieren sein mit einem neuerlichen Schub der Deregulierung.

Mario Draghi ist wieder da. Er liefert einen Bericht über die Lage der EU ab und stellt fest: „Europa“ befindet sich in einer Krise – einer Wachstumskrise. Das günstige globale Umfeld der letzten Jahrzehnte mit dem blühenden Welthandel und der billigen Energie ist Geschichte: „Wir haben plötzlich Russland verloren“. Zu den USA besteht eine Produktivitätslücke. Das ganze Wirtschafts- und Wachstumsmodell steht auf der Kippe. Dazu kommt noch, dass binnen Kurzem auch die reichliche und billige Arbeitskraft erschöpft sein wird. Und doch müssen „wir“ gleichzeitig digitalisieren, dekarbonisieren (also einen neuen, grünen Kondratieff in Gang setzen) und aufrüsten. Den Ausdruck STAMOKAP (Staatsmonopolistischer Kapitalismus) benützt Draghi natürlich nicht. Aber: Das Ende der Geschichte ist zu Ende, sie hat sich endgültig als Ideologie erwiesen, auch wenn „wir“ im Kalten Krieg gesiegt haben. Aber jetzt führen „wir“ einen heißen Krieg in der Ukraine, und wer weiß, wo bald noch. Es ist eine existenzielle Herausfor­derung.

Gleichzeitig halte ich ein neueres Buch eines Japaners, Kohei Saito (2022) in der Hand. Auch der beginnt: „Die Welt steht in Flammen.“ Er will allerdings das Gegenteil: Er will nicht Wachstum, im geraden Gegenteil. Er nennt sich einen Marxisten und befürwortet einen „Degrowth-Kommu­nismus“. Er will nicht nur einen Wachstumsstop um jeden Preis. Der gut gestellte Professor aus dem hochentwickelten Zentrum will eine geringere Produktivität und einen Abbau.

Es ist fast ein bisschen amüsant: Die Medienleute, welche in gar nicht heimlichen Wohlgefallen den outrierten Klima-Aktivisten (vulgo „Klimaklebern“ in der Diktion von Fellner und Konsor­ten, also den extinction rebels und ähnlichen Hysterikern) Unterstützung geben, also vor allem Staats-Rundfunk und -Fernsehen, klatschen auch den Typen à la Draghi und von der Leyen am lautesten Beifall. Sie haben offenbar nicht begriffen, dass beide Strömungen unvereinbare Ziele verfolgen: Draghi die Beschleunigung des Wachstums, die anderen einen Wachstumsverzicht. Bei den Journalisten ist dies wenig überraschend, mit ihrer Kombination von Uninformiertheit und Hirnlosigkeit.

Oder ist es vielleicht gar nicht so? Für von der Leyen und, z. B., den Grünen als Partei ist der Green Deal ja ohnehin nichts Anderes als ein Versuch, mit neuen Produkten neue Profitmöglichkeiten zu schaffen. Sie wollen mit einer Bündelung solcher Maßnahmen einen neuen Kondratieff, also eine langfristige Kurve beschleunigten Wachstums anstoßen und befördern. Auch Elon Musk will dekarbonisieren und einen neuen, grünen Zyklus in Gang setzen, je schneller umso besser, und die Demokratie kann da nur hinderlich sein. Da ist er sich vermutlich mit Baerböck, Habeck und Kogler einig.

Die Diagnose „Krise“ kommt also von recht verschiedenen Seiten. Gerade vor wenigen Monaten, am 18. April 2024, hat der Außerordentliche Europäische Rat einen Bericht des Kollegen und Bewunderers von Draghi, Enrico Letta, gebilligt und veröffentlicht. Der unterscheidet sich im Geist nicht vom neuen Draghi-Bericht. In einem sind sich alle einig. Es muss weiter zentralisiert werden, die nationale Demokratie darf nur mehr Fassa­den-Charakter haben. In Österreich kommt hinzu, dass die Neutralität allen Konservati­ven von der ÖVP über die Neos und die Grünen bis zur SPÖ ein Dorn im Auge ist und das nächste strategische Ziel des Demokratie-Abbaus.

Doch zurück zu Draghi.

Sein großes Vorbild ist die USA. Auf sie verweist er wieder und wieder. Die Marktkapi­talisierung ist dort ein Vielfaches höher als in „Europa“. Es gibt viel weniger „inkonsis­tente und hinderliche Regulierung“. Während die Europäer noch immer auf die Fahrzeug-Industrie setzen, geht es „dort“ – in den USA – hingegen um Tech. Und die Folge ist: In der EU hinkt man den USA seit 2002 im Wachstum um 30 % nach.

Seit 2002? War damals nicht irgendwas mit der Währung? Hat damals bzw. wenig vorher nicht irgendetwas stattgefunden, sodass die nationalen Regierungen keine konsistente Wirtschaftspolitik mehr betreiben können? Auf das kommt Draghi natürlich nicht zu sprechen, der ja „alles Denkbare“, whatever it takes, entschlossen war zu unternehmen, um eine dysfunktionale Währungsunion zu retten.

Solche Berichte, so meinen deutsche Zeitungen, z. B. die FAZ (11. Sept. 2024, S. 15), habe es immer wieder gegeben. Das „Handelsblatt“ (selber Tag) bringt den Bericht überhaupt erst auf S. 40. Einige Tage später (16. 9. 2024, S. 11) allerdings realisiert im „Handelsblatt“ ein Kommentator, was da geschrieben steht und sagt gleich den Unter­gang der EU voraus, wenn das verwirklicht würde. Warum? Weil Draghi einzig auf die BRD und ihre Solidität für die Gläubiger baue. Denn nur deshalb würde der Süden Kredite bekommen. Die NZZ (auch am 11. September), die reaktionärste Zeitung der Schweiz, die aber im Gegensatz zu den deutschen Blättern ein bisschen über den deutschen Tellerrand schaut, ist aus ideologischen Gründen wenig erbaut – Draghi will Interventionen, und das ist für Marktfundamentalisten des Teufels.

Alle aber insinuieren sie: Fürchtet Euch nicht! Man soll die Kirche im Dorf lassen. Da wird nicht viel passieren. Sie stören sich nämlich daran, dass Deutschland, gebeutelt durch seine Außen- und Kriegspolitik, bei der gemeinsamen Schuldenaufnahme noch einmal zur Kasse gebeten werden könnte. Für den zweiten Teil stimmt das ja. Aber dass dieser Bericht so harmlos sein soll – da könnten sie sich irren. Denn eine Tugend hat die Bürokratie: Sie denkt und handelt langfristig. Solche Berichte hat es tatsächlich in verschiedener Weise immer wieder gegeben. Und alle haben einen fundamentalen Einfluss ausgeübt und die weitere Entwicklung mit gestaltet. So entstand die Katastrophe der Währungsunion.

Von Anfang weg wird klar, wie man aus der Graphik erkennt: Die EU, und Deutschland i. B., hat sich von den USA in eine selbstzerstörerische Politik hineintreiben lassen. Sie setzt sie mit aller Kraft fort. Im Vergleich zu den USA und auch zu China sind die Energiepreise durch den NATO-Krieg in der Ukraine massiv angestiegen. Billige Energie war das wesentliche Fundament des noch stärker als in den USA auf Industrie gestützten deutschen kapitalistischen Entwicklungs-Modells. Das ist nun vorüber. Ein wichtiger Konkurrent der USA hat sich selbst aus dem Rennen genommen. Österreich hatte sich vor dem EU-Anschluss und auch noch etwa bis 2008 an das deutsche Modell angelehnt. Mit dem Ukraine-Abenteuer der EU und dem Wirtschaftskrieg gegen Russland ist auch für die österreichische Wirtschaft ihr Fundament erschüttert. Denn dass gleichzeitig auch der Versuch eines österreichischen Subimperialismus im Finanzbereich, eines österrei­chischen Finanzkapitalismus dadurch stark angeschlagen ist, haben Raiffeisen, etc., inzwischen erfahren.

Für die USA blieb nach Kriegsbeginn noch eins zu erledigen: Der längerfristig wichtigere Konkurrent ist China. Also muss man dessen aufstrebendem Kapitalismus die Wege ver­bauen. Nicht nur in den USA soll er vor der Tür gehalten werden. Man muss China, das fast ein bisschen naiv der wichtigste Fürsprecher der Globalisierung wurde, auch den europäischen Markt verwehren. Die deutsche Bundesregierung und die aus ihr stammen­de deutsche Kommissions-Präsidentin nickten eifrig und wurden aktiv. Sie zerrütten nun von sich aus die EU-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen. Damit erhöhen sie ihre Ab­hängigkeit von den USA und besorgen eigenhändig ihre eigene Selbstzerstörung. Dies alles geht im Namen von Offenheit des Welthandels und europäischer Sicherheit vor sich. Man hält den Atem an und begreift zuerst nicht, mit welcher Entschlossenheit zur Selbstvernichtung der deutsche Imperialismus hier vorgeht.

Die Ära des Freihandels als Ideal und Ziel geht zu Ende, so diagnostiziert Draghi. Nicht dazu sagt er, warum: Weil diese Politik seit 1990 eine unipolare Welt voraussetzt. Die EU muss also versuchen, mit den USA nicht nur einen Militärblock zu bilden, sondern auch einen ökonomischen Block, einen Handelsblock. Draghi will diese Prozesse weiter voran treiben und etwas modifizieren. Über den verbleibenden kleinen autonomen Spiel­raum der EU lässt er sich allerdings nur nebulos aus. Der Weiße Elephant im Raum des Berichts ist immer China, manchmal genannt, aber meist nicht, sondern nur irgendwie umschrieben.

Bei Draghi als Person ist diese Fixiertheit auf die USA und die Bereitschaft, sich unter­zuordnen weniger verwunderlich. Er war ein Jahrzehnt Spitzenmanager bei Goldmann Sachs, einem der wichtigsten US-Spekulanten. Dann  wurde erst Top-Bürokrat in Italien und sodann in der EU / EZB. Jetzt will er sich offenbar als Top-Stratege einer neuen EU profilieren. Denn worum geht es?

Die EG / EU war stets ein wichtiger ökonomischer Konkurrent des US-Imperialismus. Das, was kurz wie ein Kautsky’scher Ultraimperialismus aussah, ein friedliches Konkur­rieren zwischen gleichgesinnten Partnern, hat wieder einer mörderischen imperialisti­schen Konkurrenz Platz gemacht. Auf kontinentaler und großregionaler Ebene gehen sich wieder unterschiedliche Versionen des Kapitalismus an de Gurgel.

Doch beim Versuch, ihre Rolle in die Politik zu verlängern, hat sich die EU etwas über­hoben. Das ist die wichtigste Lehre aus dem Krieg in der Ukraine, wo sie im Begriff ist, auszurutschen – vielmehr bereits ausgerutscht ist, ganz gleich, was im Einzelnen beim Waffenstillstand und einem eventuellen Frieden herauskommt. Denn der bisherige westli­che Multi-Polarismus hat nun einem ganz anderen grundsätzlicheren Multi-Polarismus Platz gemacht. Da ist nun kein Raum mehr für eigenständige Ambitionen im Rahmen des kollektiven Westens. Die EU will sich der USA als militärischer Arm bedienen. Dazu aber hat sie sich den USA klar unterzuordnen.

Draghi akzeptiert dies – aber auch wieder nicht zur Gänze. Er entwirft ein Programm für den EU-Subimperialismus im Rahmen des kollektiven Westens, das noch oder wieder gewisse aufmüpfige Velleitäten zeigt. Insbesondere will er den Aufbau eines mächtigen europäischen Rüstungssektors, der über den Nationalstaaten thront. „Wir“ müssen zwar ein einheitlicher westlicher Imperialismus werden. Aber dazu müssen auch „wir“, d. h. die EU, erst rüsten und dann einen von uns abhängigen Machtblock aufbauen. Denn nur so können wir Nachschub und die Lieferungen sensibler Rohstoffe sichern. Nur so können wir außenpolitisch auch andere Konkurrenten, ganz offensichtlich denkt er an China, bestrafen („penalise“), wenn sie uns zu lästig werden. Aber gleichzeitig müssen „wie“ die europäischen Stärken erhalten, die uns hier die Hegemonie sichern. Er nennt den europäischen Sozialstaat und die geringere Ungleichheit in der EU im Vergleich zu den USA.

Hier leistet er sich einen kleinen Zynismus. Wir wissen, dass es die westliche Hauptlinie ist, der steigenden Ungleichheit so entgegenzuarbeiten, dass man Billigstgüter aus Indien China und Vietnam und sonstwo importiert und damit die Menschen ruhig halten will. Hier fragt Draghi: Warum sollen wir diesen Wirtschaften den Import durch Zölle und andere Hindernisse verwehren, wenn sie uns schon mit dem Geld ihrer eigenen Steuerzahler subventionieren wollen?

Innen aber, geht es weiter, müssen wir strategisch denken. Es muss ein Ende haben mit nationalen Interessen. Anstelle einzelne Firmen zu stützen, müssen wir in Sektoren denken. Da hat er den Ansatz von einer Rahmenplanung im Auge. Der ganze lange Bericht und die 170 Empfehlungen sind eine teils abstrakte, teils höchst konkrete Ausar­beitung dieses Grundgedankens – ich habe ihn oben STAMOKAP genannt. Der Aus­druck soll die Aufmerksamkeit auch darauf lenken, dass Draghi eine bestimmte Form von Planung befürwortet. Das zeigt einmal mehr: Planung ist ein Instrument, keineswegs ein Ziel. Sie kann im Interesse des Großkapitals und der Bürokratie eingesetzt werden. Eine bestimmte, andere Form von Planung freilich wird zu einem unersetzbaren Mittel einer neuen, emanzipativen Politik gegen die Macht des Monopol-Kapitals werden müssen.

Gehen wir auf den zentralen Punkt in Draghis Argumentation ein. Der ist wirklich rundum von fundamentaler Bedeutung: der behauptete Produktivitäts-Rückstand der EU gegen die USA. Hier wäre selbstverständlich ein kritischer Blick auf das Konzept der Produktivität imperativ. Produktivität ist in der heutigen Ökonomie – die man im empirischen Teil eher eine Wirtschafts-Statistik nennen müsste – pragmatisch nichts anderes als [Produktionswert / Faktoreinsatz], oder noch verständlicher ausgedrückt [BIP / Kosten]. Her müsste nun die Analyse und die Auseinandersetzung erst beginnen.

Aber Kritik im alten Sinn als vertiefte Analyse ist nicht Draghis Sache. Zwar dröselt er die Sache auseinander und teilt uns mit: Im Bereich der konventionellen Warenwirtschaft („excluding the main ICT sectors“) war die Entwicklung der Produktivität in den letzten beiden Jahrzehnten in den USA und in der EU etwa gleich, in den letzten Jahren sogar mit einem leichten Vorteil für die EU. Aber in AI und ICT waren die USA deutlich voraus.

Was heißt das? In einer kurzen These zusammengefasst: Die US-Wirtschaft hat eine ganz bestimmte Richtung eingeschlagen, bestimmt durch die steigende Ungleichheit und diese Ungleichheit wiederum befeuernd. Dieses „Modell“ drückt sie nun mittels einer Kombi­nation von Marktmacht, politischer Macht und Hegemonie den Europäern und vor allem China auf. Über monopolistische Preise erreicht sie dabei Ergebnisse, die über den Preisen bzw. deren Entwicklung in der bisherigen konventionellen Wirtschaft liegen (terms of trade!). Voilà der Produktivitätsvorsprung. Ob diese Entwicklung tatsächlich stärker zur Bedürf­nisbefriedigung und / oder zur Arbeitsentlastung gegenwärtig und in der Zukunft beitragen wird, ist keineswegs gesichert. Eine Produktivitätsentwicklung in einem substanziellen Sinn jenseits der Preisgestaltung ist in diesem Sektor kurzfristig zumindest schlicht nicht messbar.

Die Tatsache, dass die Lebenserwartung in den USA und ihre Entwicklung konsistent seit Jahrzehnten jener in europäischen Ländern nachhinkt, spricht dagegen. Gerade in den letzten zwei Jahrzehnten, wo Draghi einen solchen Vorsprung der USA diagnostiziert, hat sich die Kurve der Lebenserwartung so gedreht, dass sie nicht mehr sinnvoll als Linie darstellbar ist, die Korrelation geht fast gegen Null. Man muss  sie als Parabel oder in ähnlicher Form darstellen, um zu einer akzeptable Bestimmtheit (r = 0,75) zu kommen. Eine solche Form aber heißt, dass es sogar zu einer Abnahme kommt, und zwar schon vor dem COVID-Wahnsinn, siehe Graphiken unten!

Liest man diese Oberflächen-Analysen der Herren Draghi und Letta, bekommt man sehr viel mehr Verständnis für die Wachstumskritik der Ökosozialisten vom Typ Saito. Das soll nun keineswegs heißen, dass deren politische Vorschläge ein akzeptables Ziel sind.

Der Draghi-Bericht ist gerade für uns eine höchst lesenswerte Sache. Er zeigt, wie die Eliten in der EU denken und funktionieren – und was sie planen!

 

Draghi-Bericht

Langfassung: The future of European competitiveness – In-depth analysis and recommendations. 320 S.

Kurzfassung: The future of European competitiveness – A competitiveness strategy for Europe. 66 S.

Beides auf: https://commission.europa.eu/topics/strengthening-european-competitiveness

Letta-Bericht: Much more than a market. 158 S. Auf der Seite des österreichischen Wirtschaftsministeriums: https://www.bmaw.gv.at/Themen/Europa/Aktuelles/Letta-Bericht-Zukunft-des-Binnenmarktes.html

Als Gegenlektüre zum naiven Wachstums-Enthusiasmus:

Saito, Kohei (2022), Marx in the Anthropocene. Towards the Idea of Degrowth-Communism. Cambridge: University Press.

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