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Venezuela am Weg der Revolution?

11. März 2005

Beobachtungen zu Chávez, Staat und Linke aus dem Inneren des bolivarianischen Prozesses

Versucht man aus den Revolutionen des 20. Jahrhunderts einige verallgemeinerbare Elemente revolutionärer Umbruchsituationen heraus zu destillieren, stößt man zumeist auf eine Staats- und Hegemoniekrise der alten herrschenden Eliten, eine organisierte politische Avantgarde sowie ein von dieser verkörpertes politisches Projekt, das vom Volk als Hoffnung auf Befreiung von einer als unerträglich empfundenen Situation aufgenommen wurde.

Im heutigen venezolanischen Kontext stellen sich somit folgende Fragen: hat das Ende des Systems von Punto Fijo [1] zu einer Krise des bürgerlichen Staates geführt, kann Präsident Hugo Chávez die Nichtexistenz einer kollektiven Avantgarde ersetzen, um den 1999 von seiner Regierung begonnen Umgestaltungsprozess zu einer Volksrevolution weiterzuführen und hat die Politisierung und Organisierung des Volkes einen Punkt erreicht, an dem die Unterschichten eine neue staatliche Machtstruktur begründen können?

Die folgende Darstellung versucht eine analytische Synthese aus Eindrücken, Erfahrungen und Gesprächen, die im Rahmen einer Delegation der Antiimperialistischen Koordination zu den wichtigsten Organisationen der bolivarianischen Linken Venezuelas und zentralen Schauplätzen der „bolivarianischen Revolution“ gesammelt wurden.

Eine „antiimperialistische Revolution“?

Der peruanische Marxist Josà© Carlos Mariategui stellte 1929 in indirekter Polemik mit der Linie der Kommunistischen Internationale und deren Annäherung an den Nationalismus der APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana, Revolutionäre Volksallianz Amerikas) von Victor Haya de la Torre die These auf, es gebe keinen Antiimperialismus, der nicht zu gleich antikapitalistisch sei.[2] Diese Grundüberzeugung der revolutionären Strömungen links der pro-sowjetischen Kommunistischen Parteien steht heute mit der Regierung Chávez ernsthaft auf dem Prüfstand.
Die Konfrontation der venezolanischen Regierung mit den USA ist, wie der Putschversuch vom 11. April 2002 zeigte, keine bloße Rhetorik. Und selbst die rhetorische Herausforderung der USA, die Hugo Chávez mit zunehmender Deutlichkeit führt, ist trotz der Tatsache, dass Venezuela immer noch strategische Ölreserve der USA ist und seine Auslandsschulden diszipliniert abzahlt, in einer unipolaren, imperialen Weltordnung eine Kriegserklärung, da sie die amerikanische Hegemonie in Frage stellt. Hugo Chávez ist damit zu einem Katalysator für die Widerbelebung einer antiimperialistischen öffentlichen Meinung in Lateinamerika geworden. Mit dieser offenen Gegnerschaft zum US-amerikanischen Weltherrschaftsanspruch wurde Venezuela zu einem geopolitischen Bruchpunkt erster Ordnung. Die Nachbarschaft Kolumbiens mit seiner politisch-militärisch unkontrollierbaren Guerillabewegung lässt Washington die nördliche Andenregion als zentralen Konfliktschauplatz der nächsten Jahre am lateinamerikanischen Kontinent einschätzen.
Gleichzeitig ist die innere Umgestaltung Venezuelas bisher nicht über einen sozialen Reformprozess hinausgegangen, der aufgrund des Ölreichtums des Landes keine größeren strukturellen Umwälzungen der politisch-ökonomischen Struktur des Landes erforderte. Der alte Staatsapparat wurde von einer neuen, bolivarianischen Führung übernommen, die wirtschaftlichen Veränderungen beschränken sich auf eine Umverteilung der staatlichen Mittel zugunsten der Reformprogramme.
Das explosive Moment Venezuelas ist also eindeutig seine antiimperialistische Positionierung gegenüber dem amerikanischen Imperium und nicht die Radikalisierung des inneren Klassenkampfes, der eine Zerstörung des Staatsapparates und die Errichtung der Volksmacht zu einer Perspektive der nächsten Periode machen würde.
Die von Mariategui postulierte Einheit von Antiimperialismus und Volkmacht bleibt dennoch ein entscheidender analytischer Ansatz zum Verständnis der venezolanischen Dynamik. Nur hat die Globalisierung und die imperiale Ausrichtung des US-Imperialismus heute die antiimperialistische Konfrontation zum Motor der Politisierung und Vertiefung des Klassenkampfes gemacht und nicht umgekehrt, wie es der peruanische Marxist unter anderen historischen Verhältnissen vermutete.
Im folgenden wollen wir aus der Analyse von Elementen der Geschichte sowie der aktuellen außen- und innenpolitische Lage Venezuelas die Hypothese begründen, dass die Möglichkeiten der Überwindung des reformierten bürgerlichen Staates durch die revolutionäre Strömung der bolivarianischen Bewegung von der geopolitischen Auseinandersetzung mit dem US-amerikanischen Herrschaftsanspruch entscheidend beeinflusst werden, wobei die antiimperialistische Schärfe dieses Konflikts wiederum vom Ausgang des Klassenkampfes zwischen der Fraktion der „Vertiefung der Revolution“ und den Tendenzen zur Aufrechterhaltung eines reformierten Status Quo der IV. Republik [3] abhängt.

Diplomatie und Konfrontation

Die These vom entscheidenden Widerspruch zwischen Venezuelas Streben nach antiimperialistischer Souveränität und der imperialen US-Politik erfordert eine konkrete Beurteilung des Ausmaßes und der aktuelle Situation der Auseinandersetzung zwischen der Regierung Chávez und der Bush Administration.
Die Chávez´ internationaler Politik zugrundeliegende Leitlinie ist die multipolare Welt. Diese Orientierung wird auf drei Ebenen verfolgt. Die erste Ebene ist die Diversifikation der venezolanischen Wirtschaftsbeziehungen über den Ausbau der Beziehungen mit Nationen und Regionen, die potentiell ein Gegengewicht zur US-Hegemonie darstellen. Dazu zählen China, Russland, Indien und der arabische Raum. Der Kauf von 100.000 AK-103 und AK-104 Sturmgewehren und 40 Helikoptern russischer Fabrikation im Rahmen einer auf territoriale Verteidigung ausgerichteten Neuorganisation der Streitkräfte (Aufwertung der Milizen ähnlich dem kubanischem Modell) führte Anfang Februar zu einer scharfen Reaktion der US-Administration. Chávez schaffe damit ein Reservoir zur Bewaffnung des „kolumbianischen Terrorismus“, der diese Fabrikate verwende.
Die zweite Linie, von Chávez bereits als stärker politische Ebene gesehen, ist der Aufbau neuer strategischer Partnerschaften zwischen den Ländern Lateinamerikas. Mit Brasilien wurde am 14. Februar eine solche strategische Allianz unterzeichnet, mit Kuba bestehen enge Beziehungen auf wirtschaftlicher und politischer Ebene, die Ausweitung des MERCUSUR wird gefördert. Ziel ist die Konstituierung einer „Bolivarianischen Alternative“ (ALBA) zur Gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA. Die reale wirtschaftliche Bedeutung dieses Projekts ist sicher beschränkt, bleiben die zentralen Handelspartner der lateinamerikanischen Nationen immer noch die USA und Europa. Über 50 % der täglichen Ölfördermengen Venezuelas (ca. 1,4 von 2,6 Mio. Barrel) fließen in die Vereinigten Staaten. Die politisch-symbolische Wirkung der Integrationsversuche – etwa die Bildung eines lateinamerikanischen Fernsehkanals TV-Sur angelehnt an den arabischen Sender Al Jazeera – wird dagegen von Venezuela (und Kuba) herausgestrichen und offen in Gegensatz zur US-Dominanz gestellt. Eine Interpretation die von den linksliberalen „Partnern“ Brasilien und Argentinien keinesfalls in dieser Schärfe geteilt wird, streben sie doch vielmehr nach einer pragmatischen Aufwertung ihrer Nationen in der imperialen Staatengemeinschaft im Konsens mit den USA.
Das dritte Element der chavistischen Außenpolitik ist die Anregung eines Bündnisses von politischen und sozialen Bewegungen außerhalb der Regierungen im Rahmen des Bolivarianischen Kongresses der Völker. Diese Anstrengung steht jedoch vor der ständigen Schwierigkeit der Fesseln der Diplomatie, die ein Staat zu respektieren hat. Der Fall der Entführung des FARC-Militanten Rodrigo Granda zeigte dies, insofern die Organisatoren des Bolvarianischen Kongresses seine Einladung kategorisch verneinen mussten. Somit bleiben die wesentlichen Protagonisten dieser außerparlamentarischen Initiative wenig radikale und reformistische Kräfte im Stile der nikaraguanischen Sandinisten, der FMLN aus El Salvador, der brasilianischen PT oder der bolivianischen MAS, eine Art Wiederbelebung des Sao Paolo Forums oppositioneller Gruppen mit der Chance einmal Regierungsparteien zu werden.
Der Fall Granda hatte jedoch eine Bedeutung, die über das komplexe Problem hinausgeht, von Staatswegen eine antiimperialistische Allianz zu bilden. Kolumbien spielt die Hauptrolle in der US-amerikanischen Militarisierungspolitik Lateinamerikas und ist damit auch Hebel der antivenezolanischen Politik des Pentagon. Die künstliche koloniale Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien (Apure, Táchira, Zulia – Arauca, Boyacá, Norte de Santander, Cauca) bedingt historisch eine starke kolumbianische Präsenz auf venezolanischem Territorium, darunter auch der bewaffneten Organisationen. Gleichzeitig ist die Grenzregion auf kolumbianischer Seite zentrales Aufmarschgebiet des US-Militärs, das dort mit etwa 400 Kampftruppen (offiziell zur Bewachung der Erdölleitung Caño Limà³n der Occidental Oil Company), Militärberatern und privaten Sicherheitsfirmen präsent ist. Kern der US-Doktrin ist die strategische Kontrolle und Stabilisierung der nördlichen Andenregion unter dem Schlagwort des Kampfes gegen den „Narkoterrorismus“ in Kolumbien. Die drei Elemente, die im Rahmen des „Plan Colombia“ und seiner Fortsetzung, des „Plan Patriota“ sowie der Anden-Initiative, umgesetzt werden, sind erstens die Aufrüstung und Professionalisierung der kolumbianischen Streitkräfte, die Etablierung eines Gürtels von Militärbasen (derzeit in Kolumbien, Ekuador, Peru, Bolivien, Panama, Costa Rica, El Salvador, Honduras, Aruba und Curazao) und Abkommen mit den Nachbarstaaten Kolumbiens (inklusive Lulas Brasilien) zur Militarisierung der Grenzen unter Mithilfe amerikanischer Berater und Truppen. Unter dem bis 2004 dem US-Südkommando vorstehenden General James Hill wurden derartige Abkommen mit allen angrenzenden Staaten mit Ausnahme Venezuelas abgeschlossen.[4] Hill hatte bereits im März 2004 vor der „schleichenden Gefahr des radikalen Populismus“ für die US-amerikanischen Sicherheitsinteressen gewarnt und die venezolanische Regierung deutlich auf ihre „Pflicht“ hingewiesen, im Kampf gegen den Narkoterrorismus zu kollaborieren. Angesichts der diplomatischen Krise mit Kolumbien nach der Entführung von Rodrigo Granda unter Verletzung der venezolanischen Souveränität bezeichnete die neue US-Außenministerin Rice Venezuela am 19. Januar 2005 vor dem Kongress als „negative Kraft in der Region“. Für den neuen Kommandeur des Südkommandos, General Bantz Craddock, einem Irak erfahrenen Falken erster Ordnung, definierte der US-Kongress als zentrale militärische Sicherheitsrisiken in Lateinamerikas für 2005 Kolumbien, Venezuela, Haiti und Mexiko.
Die US-Politik gegenüber Venezuelas schwankt zwischen einer pragmatischen Akzeptanz der Chávez-Regierung, solange der Zugang zum Erdöl gesichert ist (dieser Pragmatismus spricht gegen das Risiko eines provozierten Bürgerkrieges) und einem imperialen Hegemonialdrang, der eine antiimperialistische Herausforderung nicht akzeptieren kann, auch wenn sie weitgehend symbolisch ist. Die Problematik einer offenen Intervention der USA ist dem Pentagon bewusst, würde dies eine noch riskantere Auseinandersetzung bedeuten als im Irak und eine möglicherweise unkontrollierbare Destabilisierung der Beziehungen mit ganz Lateinamerika bringen. Die US-Politik der Provokation und diplomatischen Angriffe gegen Venezuela folgt dem Schema „Unterstützung der kolumbianischen Guerilla durch Verweigerung der Kooperation – Destabilisierung der Region – Verurteilung aufgrund der „Demokratischen Charta“ der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten). Diese Charta sieht ein multilaterales Eingreifen bei Aufhebung der Demokratie vor und soll nach dem Willen der USA auf der nächsten Generalversammlung auch für den Fall demokratisch gewählter „neoautoritärer“ Regime erweitert werden [5]. Die Verschiebung des Schwerpunktes des Anti-Guerillakampfes an die Grenze zu Venezuela im Laufe des Jahres 2005 kann die Situation zwischen den beiden Ländern weiter verschärfen. Paramilitärische Aktionen venezolanischer Oppositioneller mit Unterstützung kolumbianischer Söldner – im Mai 2004 wurden 130 Kolumbianer mit venezolanischen Militäruniformen in Caracas festgenommen, die eine inszenierte Militärrebellion gegen Chávez planten, im November 2004 wurde der populäre Staatanwalt Danilo Anderson durch eine Autobombe getötet – zielen auf die internationale Vermittlung einer Situation der Unsicherheit und Instabilität hin.
Die Vertiefung der bolivarianischen Revolution und die Stärkung der Aufstandsbewegung in Kolumbien, also die Entwicklung der revolutionären Volksbewegungen in der Region, werden entscheiden, ob die USA das Risiko der offenen Konfrontation auf sich nehmen, ob die symbolische Auseinandersetzung zu einer militärischen wird. Dieser Tatsache scheint sich Chávez bewusst zu sein, der in seiner Rede anlässlich des Jahrestages des Aufstandsversuchs am 4. Februar 1992 neuerlichen die territoriale Verteidigung über eine breite Miliz als Kernelement der Souveränität des Landes betonte. Und auch die revolutionären Strömungen der bolivarianischen Bewegung betonen den Zusammenhang der Vertiefung der Revolution und der imperialistischen Intervention, wiewohl sie Zweifel an der Zuverlässigkeit der Streitkräfte hegen, in ihrer traditionellen Struktur diesen Verteidigungskrieg führen zu können.

Eine Revolution ohne Linke

Da das innere Kräfteverhältnis zwischen „Vertiefung der Revolution“ und „Normalisierung des erreichten Status Quo“ der Motor der antiimperialistischen Dynamik des bolivarianischen Prozesses ist, sollen im folgenden die innenpolitischen Entwicklungen Venezuelas analysiert werden, die einen kurzen historischen Exkurs verlangen. Die bolivarianische Revolution von Chávez ist ein Prozess außerhalb der historischen Linken, mehr noch überwiegend gegen die traditionellen Linksparteien des Landes. Daraus wird einerseits die Bedeutung der Figur des Präsidenten Chávez verständlich und andererseits das Kräfteverhältnis innerhalb der bolivarianischen Bewegung, das der anti-revolutionären, bürgerlichen Strömung einen bedeutenden Startvorteil gibt.
Historisch war der einzige Zeitraum, in dem die revolutionären Kräfte tatsächlich eine führende Rolle spielten, die Konjunktur nach dem Fall der Diktatur von Pà©rez Jimà©nez 1958. Die Kommunistische Partei Venezuelas (KPV) war die wichtigste Organisation des Widerstandes gegen die Diktatur. Sie konnte im Rahmen einer „Patriotischen Junta“ ihren Einfluss auf Teile der Basis der Demokratischen Aktion (AD) ausweiten. Trotzdem war sie aufgrund eines fehlenden politischen Projekts zur Machtübernahme nicht in der Lage das kurzzeitige Machtvakuum zu füllen, als die Diktatur am 23. Januar in Folge einer Rebellion links-patriotischer junger Offiziere fiel. Wesentlicher Grund für die zögernde Haltung der KPV war die von der sowjetischen Doktrin auferlegte Selbstbeschränkung der Kommunistischen Parteien, eine demokratische Revolution nicht als Volksrevolution ohne oder gegen die „bürgerlich-demokratischen Parteien“, in diesem Fall die AD von Romulo Betancourt, anzuführen. Dies ermöglichte den traditionellen Parteien AD, COPEI und UDR (siehe Anmerkung 1) die kritische Umbruchphase zu überwinden und mit dem Dreiparteienpakt von Punto Fijo eine Periode langfristiger Stabilisierung einzuleiten, die die revolutionären Möglichkeiten extrem einschränkte.
Angesichts der neu begründeten totalitären Demokratie und angeregt durch den Sieg der kubanischen Revolution optierte die Linke für den bewaffneten Widerstand. Die KP trat jedoch nach einer kurzfristigen Ausrichtung auf die Guerilla ab 1965 in ihre tragische Phase ein und integrierte sich mit den Wahlen 1969 in offener Konfrontation mit den verbleibenden Guerillabewegungen in das enge bürgerliche System. Doch auch die Guerilla selbst konnte sich nicht konsolidieren und wurde nach der Amnestie der Regierung Caldera 1969 im Laufe der frühen 70er Jahre zerschlagen. Die neue Konjunktur der Proteste der 70er Jahre, vor allem unter den Studenten, blieb ohne vereinigende politische Orientierung und unfähig ein System herauszufordern, das durch die Nationalisierung des Erdöls 1974 eine ausgeprägte klientelistische Stabilität erreichte. Produkt der politischen Opposition der 70er Jahre waren die beiden, aus der KPV hervorgehenden, neuen Linksparteien MAS (Bewegung zum Sozialismus) und Causa R (Radikale Sache).
1989 eröffnete der als Caracazo bekannten Volksaufstand schließlich eine neue politische Periode, die das Ende des Systems von Punto Fijo einleitete. Die traditionellen Linksparteien waren in diesen Jahren (1989-1998) jedoch nicht nur aufgrund ihrer Schwäche unfähig, dem Unmut eine politische Richtung zu geben. Vielmehr banden sie sich in der Hoffnung aus der Krise wahlpolitisches Kapital schlagen zu können in opportunistischen Koalitionsangeboten an das zerfallende alte System. [6]Tatsächliche Avantgarde, die die historischen Momente revolutionärer Möglichkeiten eröffnete, waren militärisch-zivile Bewegungen aus den Streitkräften, unterstützt durch einzelne politische Persönlichkeiten oder Bewegungen der revolutionären Linken. Die Trennung zwischen den Linksparteien und den patriotischen Militärs der MBR-200 (Revolutionäre Bolivarianische Bewegung-200), die unter Führung Hugo Chávez am 4. Februar 1992 einen Aufstandsversuch unternahmen, war nicht so sehr Folge eines militärischen Paternalismus, sondern vielmehr des Misstrauens der Linken in die Möglichkeiten der radikalen Herausforderung des alten Systems. Am eigenen Leib erlebte Chávez am 4. Februar das Versagen der Linken, die versprach, die Militärrebellion durch einen Massenaufstand zu unterstützen, während in der Realität die Lastwagen mit Waffen ungenutzt stehen blieben. Damit blieb der Raum für eine kollektive Avantgarde des mit dem Wahlsieg 1998 eröffneten bolivarianischen Prozess weitgehend offen, die in organischer Verbindung mit dem Volk die Niederlage der alten Republik vertiefen und gezielt zu einer neuen Machtstruktur führen könnte. Die Linksparteien MAS und Causa R spalteten sich, die aus der MIR-Guerilla (Bewegung der Revolutionären Linken, 1960 aus einer linken Strömung der AD entstanden) hervorgegangene Bandera Roja (Rote Fahne) lief zur radikalen Konterrevolution über, nur die kleine KPV beteiligte sich als ganzes an der chavistischen Koalition – treu ihrer Geschichte der Einordnung in alle Koalitionen, die ihr Chancen institutioneller Mitbestimmung eröffneten.

Die Ketten der Staatsbourgeoisie

Konnte die Linke dem bolivarianischen Prozess keine Richtung geben, so standen andererseits Teile der venezolanischen Elite bereit, in die neue Regierung einzudringen. Um diese andere Seite des Kräfteparallelogramms zu verstehen, ist es notwendig, die venezolanische herrschende Klasse zu analysieren. Venezuelas Oligarchie ist historisch eng an den Staat gebunden. Sie ist eine politisch-bürokratisch-ökonomische Elite, deren soziale Privilegien aus ihrer Kontrolle des Staatsapparats kommen, da sie darüber den Fluss der 1974 nationalisierten Ölreichtümer kontrollierte. Ein Teil der Repräsentanten dieses alten Systems stellte sich aus Selbsterhaltungstrieb gegen den neoliberalen Wandel ihrer traditionellen Apparate der Staatskontrolle, vor allem die Partei der Demokratischen Aktion.
Diese „nationale Bourgeoisie besonderer Art“ und ihre Armee von Berufspolitikern verfügen über jahrelange Erfahrungen im Staatsapparat, ihr Leben und Überleben ist an die politischen Posten in der Staatbürokratie gebunden.
Chávez Wahlsieg spaltete nicht nur die Linke sondern auch diese politische Elite. Während die Linke sich jedoch ohne reales Projekt für eine neue Machtstruktur in die chavistische Koalition einreihte, das Volk zwar euphorisch und mobilisiert war, jedoch bei weiten nicht ausreichend organisiert und politisiert, um einen neuen Staat zu begründen, waren die Elemente der alten Elite, die die neuen bolivarianischen Rahmenbedingungen zu akzeptieren bereit waren, ihr Leben lang auf die Staatsadministration vorbereitet und von einem tiefen Überlebensinstinkt als politische Kaste getrieben, das bürokratische Wesen des alten Systems zu konservieren. Die neuen politischen Parteien, insbesondere die MVR (Bewegung der Fünften Republik, Partei von Chávez) und PPT (Vaterland für Alle, Spaltung der Causa R), wurden zu Sammelbecken der politischen und administrativen Kader, mit dem Ziel das linke und radikale bolivarianische Projekt, das Chávez im Gefängnis und während seines Wahlkampfes entwickelt hatte, zu institutionalisieren und die neue „Bolivarianische Republik“ zu einer umgefärbten Kontinuität der alten Vierten Republik zu machen.
Luis Miquelena, anfänglicher Chef der MVR, war die Galleonsfigur der Kontinuität der IV. Republik unter den neuen Verhältnissen. Er stand gegen den chavistischen Plan der Transformation des Modells repräsentativer Demokratie zu einer neuen „partizipativen Volksdemokratie“, deren Ideologe, William Izarra, von der Parteiführung (CTN, Nationales Taktisches Kommando) entfernt wurde. Die MVR wurde zu einer neuen traditionellen Wahl- und Verwaltungsmaschine, die Chavez jedoch die in der ersten Phase seiner Regierung angestrebte Stabilität und Kontrolle garantieren konnte.
Durch den Zusammenstoß mit der alten Opposition (Putsch 2002, Erdölstreik 2002/03) wurde die durchgängige Normalisierung jedoch ständig unterminiert. Der anwachsende Volksaktivismus und Chávez Radikalisierung in dieser Konfrontation verunmöglichten bisher, dass dieser konservativen Sektors die politischen Zügel des bolivarianischen Prozesses übernahm.
Nach der Akzeptanz eines Kompromisses mit der reaktionären Opposition durch die chavistischen Koalitionsparteien (zusammengefasst im „Kommando Ayacucho“), der die Abhaltung des Abwahlreferendums im August 2004 ermöglichte, begann Chávez die Gegenoffensive gegen die „politischen Parteien“. William Izarra kehrte an der Spitze des für das Referendum neu organisierten bolivarianischen Basisaktivismus des „Kommando Maisanta“ zurück, das die – siegreiche – Mobilisierung für die Bestätigung von Chávez im Amt anführte.
Obwohl sich der bolivarianisierte Teil der politisch-ökonomische Elite also nicht durchsetzten konnte, ist er weiterhin als entscheidender Machtfaktor in allen politischen Instanzen, Parteien, Ministerien, Gouverneurs- und Bürgermeisterämtern präsent und steht der Vertiefung der bolivarianischen Revolution entgegen. Zwar artikuliert nur eine rechte Minderheit ihren Wunsch nach einem „Chavismus ohne Chávez“ offen, wohlwissend dass die derzeitigen Kräfteverhältnisse einen Bruch mit Chavez aussichtslos machen. Doch durch die Macht des Faktischen aus der vielschichtige Kontrolle des bisher unersetzten alten Staatsapparates und seiner politischen und administrativen Entscheidungsebenen, bleibt der verbürgerlichende Druck auf den bolivarianischen Prozess weiterhin allgegenwärtig.

Die drei Ebenen der Macht in Venezuela

Versuchen wir die beiden oben analysierten Elemente nun in eine Darstellung der aktuellen politischen Dynamik Venezuelas seit den Wahlen im Oktober 2004 einzubauen. Nachdem die Opposition das von ihr initiierte Abwahlreferendum verloren hatte, büßte sie bei den Bürgermeister- und Gouverneurswahlen am 31. Oktober 2004 bis auf zwei Provinzen alle einflussreichen Vertretungen ein. Damit sind die Möglichkeit der traditionellen Rechten von staatlichen Machtpositionen aus gegen das bolivarianische Projekt zu agieren praktisch vernichtet. Die Anatomie des venezolanischen Staates ist nun ausschließlich das Produkt der unterschiedlichen Kräfte innerhalb der bolivarianischen Strömung.
Durch das Fehlen einer relevanten Linken ist Hugo Chávez der entscheidende Machtfaktor für die Entwicklung des Umgestaltungsprozesses. Einzig Chávez ist in der Lage den öffentlichen Diskurs zu prägen und das Volk zu mobilisieren. Diese Tatsache erfordert eine Hypothese über die schwierige, aber entscheidende Frage der Charakterisierung der Person Chávez. Wäre Chávez an einer Normalisierung des inneren Kampfes und der Beziehungen mit dem Imperialismus interessiert, gewissermaßen als „Instrument der „bolivarianischen Staatsbourgeoisie“, hätte er dies nach den Wahlen im Oktober ohne größere Opposition von unten durchführen können. Die revolutionäre Linke hätte keine Möglichkeit, einen solchen Kurs zu verhindern. Doch gerade in diesem Moment proklamierte Chávez den „Sprung nach vorne“, den antiimperialistischen und sozialen Charakter der Revolution und das Ziel der Volksmacht in offenem Angriff auf den „Bürokratismus und die Ineffizienz“, die Kontinuität des politischen Agierens der IV. Republik in den eigenen Reihen. [7]
Chávez folgt offensichtlich, im Gegensatz zum politischen Pragmatismus der alles beherrschenden neoliberalen Politiker, die ausschließlich die Marktsachzwänge verwalten, einem politisch-ideologischen Projekt. Zweifellos ist sein Agieren wesentlich von den Umständen – der US-Politik, dem Zusammenstoß mit der alten Opposition und den Kräfteverhältnissen im bolivarianischen Block – geprägt. Doch es ist kein passives Anpassen an die Umstände, sondern der Versuch diese entsprechend einem Plan der Umwandlung des Staates zu ändern. Dieser Plan wurde gemeinsam mit einer Gruppe von Universitätsprofessoren der UCV (Zentraluniversität von Carácas) unter der Leitung von Jorge Giordani während seines Gefängnisaufenthalts als Grundlinien seines Wahlkampf- und Regierungsprogramms, das 1996 von der MBR-200 approbiert wurde, entwickelt. Das als Alternative Bolivarianische Agenda (AAB) titulierte Programm sieht in einer ersten Phase die Übernahme der Regierungsgeschäfte vor, um in einer zweiten Phase (Bolivarianisches Übergangsprojekt, PTB) ein neues Modell der Demokratie zu etablieren und langfristig ein vereintes Lateinamerika entsprechend dem Traum von Bolà­var zu erreichen (Nationales Projekt Simà³n Bolivar, PNSB). Der „Sprung Vorwärts“ ist nach dem politischen Analysten Alberto Garrido der Übergang von der ersten Phase, dem Regierungswechsel in den traditionellen Institutionen, zum Modell der partizipativen Demokratie. [8] Der derzeitige Vizeaußenminister William Izarra, einer der führenden Ideologen dieser neuen Phase, schreibt dazu: „Der reformistische Staat ist immer noch, trotz der Bolivarianischen Verfassung von 1999, allgegenwärtig. Mitten in der neuen Zeit des bolivarianischen Modells ist es noch der reformistische Staat, der das nationale Kollektiv reguliert. Dieser Widerspruch führt zur gegenwärtigen Übergangsphase. Die Revolution muss, will sie auf ihrem Weg vorwärtskommen, die Struktur der repräsentativen Demokratie verändern. Sie muss den aktuellen Staat verändern und auslöschen. Sie muss alle bürokratischen politischen Einheiten (etwa die Gemeindeämter) ersetzen, über die das Volk beherrscht wird.“ [9]
Das führt zu der entscheidenden Frage nach den Mechanismen, diese Änderung durchzusetzen, den alten Staat zu überwinden, dessen faktische Kraft auch dem radikalsten Veränderungswillen zähen Widerstand entgegensetzen kann. Hier liegt die hauptsächliche Herausforderung für eine revolutionäres Projekt ohne Revolution.
Betrachten wir diese Ebene des Staatsapparates, die zwischen Chávez und dem Volk liegt, und von der oben analysierten bolivarianischen Politikerelite dominiert wird. Weder die kleine venezolanische Linke noch der neu erwachte Volksaktivismus konnten bisher diese bürokratische Kaste der Berufspolitiker als Stütze des Staates ersetzen. Insofern hat der Wahlerfolg im November 2004 die paradoxe Situation hervorgebracht, gleichzeitig den chavistischen Block zu stärken, aber auch den Einfluss der staatserfahrenen Bürokraten des Bolivarianismus, die die gewonnen Posten besetzten und die revolutionäre Linke sowie den Volksaktivismus beiseite drängten. Interessanterweise hat Chávez wiederum selbst auf dieses Problem hingewiesen, indem er die Notwendigkeit der Politisierung des bolivarianischen Prozesses hinwies, mehrfach scharf die Kontinuität des Bürokratismus und der Vetternwirtschaft in den eigenen Reihen verurteilte und eine „Revolution in der Revolution“ forderte.
Die Auseinandersetzung zwischen dem alten Apparat und dem chavistischen Umgestaltungsprojekt findet ihren Ausdruck im häufigen Wechsel von Ministern und dem Versuch, dem traditionellen Staatsapparat parallele Strukturen beizustellen. Die Missionen – deren Ausgangspunkt die Ineffizienz einer bolivarianischen Alphabetisierungskampagne über das Unterrichtsministerium war – haben einen eindrucksvollen Aktivismus der Basis in Gang gesetzt, der mit der organisierten Linken die dritte Ebene der Macht darstellt. Das Kommando Maisanta mit seinen UBE (Unidades de Batalla Electoral, Wahlkampfeinheiten), soll nach dem Plan von Chávez im „Sprung Vorwärts“ die Grundlagen einer neuen Machtstruktur schaffen. Kernpunkte sind lokale Planungsstäbe (Consejos Locales de Planificacià³n), partizipative Budgets, Volkskontrolle der Amtsführung (Controlorà­a Social), endogene Entwicklungsprojekte und ein Ministerium für Volksbeteiligung. Diese neuen Strukturen sollen direkt von der Präsidentenkanzlei aus koordiniert werden.
Die Problematik dabei ist, dass angesichts der Schwäche der organisierten Linken und eines politisch klaren Konzepts innerhalb des jungen Volksaktivismus, die traditionellen bürokratischen Apparate einen strategischen Vorteil haben, auch diese neuen Instrumente zu durchdringen und zu kontrollieren.
Das zweite Paradoxon ist, dass auch die stabile wirtschaftliche Lage Venezuelas gleichzeitig den bolivarianischen Prozess und die Macht des alten Apparats stärkt, vor allem in den städtischen Räumen, die von den Sozialreformprogrammen profitieren. Während der Sabotage der Ölindustrie Ende 2002/03 gab die Ausnahmesituation dem Volksaktivismus eine führende Rolle in die Hände, da die traditionellen staatlichen Instrumente gelähmt waren. Die Konsolidierung der Lage dagegen führte wiederum zur Institutionalisierung und Bürokratisierung der neu geschaffenen Initiativen (etwa der staatlichen Lebensmittelmärkte MERCAL).
Am Land, das noch stark vom Großgrundbesitz geprägt ist und historisch abseits der staatlichen Präsenz liegt, ist die Auseinandersetzung dagegen wesentlich schärfer. Dies führt zu einem Protagonismus unabhängiger Volksorganisationen wie der revolutionären Nationalen Bauernfront Ezequiel Zamora (FNCEZ), während die von oben geschaffenen Initiativen der Politeliten wie die Nationale Agrarkoordination Ezequiel Zamora (CANEZ) oder die Nationale Bauernföderation (FNC) isolierte bürokratische Apparate geblieben sind, ohne wesentlichen Einfluss auf die reale Bauernbewegung. Die historische gewachsene FNCEZ mit organischen Verbindungen zu den Bauerngemeinden vor allem im Zentralraum und der Grenzregion (Llanos) ist damit der Kristallisationspunkt der Bauernkämpfe. Die Konfrontation mit der bolivarianischen Bürokratie des Agrarreformministeriums und der lokalen Agrarreforminstitute (INTI) ist dementsprechend scharf, die Forderung nach einem direkten Kanal zum Präsidenten, abseits der traditionellen staatlichen Kanäle, eine der Hauptforderungen. Kann nur mit direkter Kenntnis der Realität des Landkonfliktes in den Augen der organisierten Bauern der von Chávez proklamierte „Krieg gegen das Latifundium“ geführt werden, so auch nur durch die Macht des organisierten Volkes selbst die Umgestaltung des Landes. Chávez selbst klagte in seiner Rede zum „Sprung vorwärts“ mehrfach das Fehlen, die Verzögerung oder das Abfangen von Informationen im bürokratischen Netz der Institutionen an.
Diese Konstellation erklärt, warum viele Initiativen und Ideen von Chávez zur Förderung des Volksaktivismus und zum Aufbau einer neuen staatlichen Struktur meist Proklamationen bleiben, die von den exekutiven Organen abgefangen werden, sodass sie sich schließlich in der Umsetzungsphase tot laufen. Dies mag eine Kombination aus bewusster Eindämmung durch die Bürokratie , die eine neue Institutionalität fürchtet, und aus der strukturellen Ineffizienz der langen formalen Wege des bürgerlichen Staates sein.
Dennoch bleiben Fälle, in denen das Fortbestehen alter und neuer Missstände nicht an Chávez vorbeigehen ohne dass er dagegen einschreitet. Dazu zählt das repressive Agieren des Generals Bracho, derzeitiger Kommandeur des Operationsraums 1 (Teatro de Operaciones N° 1) an der Grenze zu Kolumbien, der systematisch gegen die in dieser Region starke revolutionäre Linke vorging. Hier tritt eine offensichtliche Skepsis von Chávez vor revolutionärer Initiative, die außerhalb seiner unmittelbaren Kontrolle stattfindet, zutage, die nicht ausschließlich mit der negativen historische Erfahrung einer schwachen, unzuverlässigen und schwankenden Linken erklärt werden kann. Die politische Loyalität auch der revolutionären Linken zu Chávez ist in allen Organisationen tiefgreifend vorhanden. Jedoch folgen die unabhängigen bolivarianischen Kräfte im Gegensatz zu den neu geschaffenen, zumeist staatlichen oder halbstaatlichen Strukturen folgenden Volksinitiativen, ihrer eigene Dynamik und Methoden des Kampfes. Der kaum vorhandene „direkte Kontakt zum Präsidenten“ der revolutionär-bolivarianischen Bewegungen ist kaum anders zu erklären als durch einen paternalistischen, vielleicht auch egozentrischen Zug in der Konzeption der patriotischen und linken Militärs, die einen unabhängigen Machtfaktor mit eigenem politischen Leben nur schwer zu akzeptieren bereit sind. Doch sind diese Kräfte derzeit auch noch zu schwach einen ausreichenden Machtfaktor zu bilden, um in den Augen eines in dieser Hinsicht pragmatischen Chávez´ das Experiment eines neuen Institutionalismus gegen den traditionellen Apparat zu riskieren.
Die Auseinandersetzung zwischen der Linken und dem Volksaktivismus einerseits und der bolivarianischen Staatsbourgeoisie andererseits wird sich in der nächsten Periode – bis zu den Wahlen 2006 – im wesentlichen auf den Kampf um die Besetzung der politischen Ämter des traditionellen Staates konzentrieren, insofern eine gänzlich neue Volksmachtstruktur unrealistisch ist. Der Kampf um die Schwächung der traditionellen Elite im Staatsapparat, ausgehend von der lokalen Ebene der Gemeinden bis hin zum Parlament – auf all diesen Ebenen werden im Laufe des Jahres 2005 Wahlen stattfinden – wird die Fähigkeit der revolutionären Linken, auf der politischen Ebene als nationale Kraft zu agieren auf die Probe stellen, um den von Chávez entfachten Volksaktivismus in einem politischen Projekt zu kanalisieren. Denn die Linke hat einen mächtigen Konkurrenten, der sich dieser Herausforderung ebenfalls bewusst ist, nämlich die MVR, die die Stärke der „Partei des Präsidenten“ ins Spiel bringen kann. Die alte Elite hat in dieser Partei also nicht nur ein Instrument zur Durchdringung der administrativen und politischen Machtpositionen, sondern auch der Kanalisierung des neuen Volksaktivismus. Mit ihrer jüngsten Rekrutierungskampagne bereitet sich die MVR bereits präventiv für die nächsten Wahlkampagnen vor. Zwar kann das in der MVR, einer zutiefst heterogenen Sammelpartei, die vom desertierten AD-Politiker über politische Karrieristen bis hin zu ehrlichen chavistischen Revolutionären alles um die Figur von Chávez vereinigt, selbst sowie zwischen der MVR und den anderen chavistischen Parteien zu Widersprüchen um die Verteilung der Ämter führen. Im Februar 2005 entbrannte bereits eine Debatte um die Verteilung der Mandate zwischen den chavistischen Parteien und um ein neues Statut der MVR, das der Basis mehr Einfluss in der Kandidatenkür zusichern sollte. Dieser, laut venezolanischer Presse aus dem engen Umfeld von Chávez selbst lancierte Vorschlag, wurde von der Führung der MVR, dem CTN (Nationales Taktisches Kommando) umgehend verneint. Entscheidend für die Option der Vertiefung der Revolution wird jedoch sein, ob die organisierten Kräfte der bolivarianischen Linken sich als politischer Faktor präsentieren können, um als wahrnehmbarer Bezugspunkt, sowohl für die öffentliche Meinung als auch für den Präsidenten zu erscheinen und so in das Terrain der alten Elite einzudringen, das bisher undurchdringlich zwischen dem Volk und dem Präsidenten liegt.
Der revolutionäre Bruch zur Volksmacht als ausschließliches Resultat der „Vertiefung der Revolution“ durch das schrittweise Anwachsen der Organisierung und Politisierung des Volkes scheint unwahrscheinlich, da die Linke den Vorsprung der politischen Eliten nicht aufholen wird, solange deren Machtstruktur nicht in die Krise kommt. Damit bleiben die alten Strukturen ein wesentlicher Schauplatz des Kampfes.

Die bolivarianische Linke – von der Volksbewegung zur politischen Option

Die bolivarianische, revolutionäre Linke ist eine zumeist aus historischen Schauplätzen des Kampfes hervorgegangene Volksbewegung. Im städtischen Milieu zählen dazu Organisationen mit einer langen Präsenz in Armenviertel. Die bekannteste und stärkste ist die 1992 gegründete Koordination Simà³n Bolivar (CSB) des seit Jahrzehnten in allen Auseinandersetzungen präsenten Stadtviertels 23. Januar in Carácas. Eine ähnliche Gruppierung ist die Gruppe „Projekt unser Amerika – Bewegung 13. April“ (PNA-M13A) im Stadtteil La Vega von Carácas. Von den studentischen Organisationen konnte sich das Projekt Utopà­a zu einem Bezugspunkt entwickeln und über Kommunalradios auch in anderen Bundesstaaten außerhalb Carácas (v.a. dem Bundesstaat Lara) Einfluss gewinnen. Die trotzkistische OIR (Option der Revolutionären Linken) zählt sich zwar nicht zu den bolivarianischen Kräften im engeren Sinn, doch auch sie unterstützt den Präsidenten Chávez. Ihr Einflussbereich ist die Gewerkschaftsbewegung UNT (Nationale Arbeiterunion) mit Schwerpunkt im Bundesstaat Aragua sowie ihr Protagonismus in der Informationsgruppe Aporrea.org. Eine jüngere Organisation, die mehrere Volksbewegungen zusammenfassen konnte und numerisch sowie durch ihre Verbreitung in mehreren Bundesstaaten zur stärksten unabhängigen Bewegung der bolivarianischen Linken zählt, ist die MBP (Bewegung der Volksbasis), in der sich die Nationale Bauernfront Ezequiel Zamora, die Studentenbewegung UFI der Universitäten der Llanos (UNELLEZ) und die Jugendgruppe Patria Joven zusammengeschlossen haben. Ihr Wirkungsbereich sind schwerpunktmäßig die Grenzprovinzen Apure, Táchira und Zulia, sowie Portuguesa und Barinas. Ihre Präsenz in Carácas ist bisher gering, weshalb sie im politischen Spektrum der städtischen Linken und ihren Initiativen kaum zu finden ist. Als Organisation der bolivarianischen Linken, jedoch anderen Typs, kann auch die Guerillabewegung FBL-EL (Bolivarianischen Befreiungskräfte) gesehen werden (siehe Interview)

Diese revolutionären Bewegungen weisen, im Vergleich zu den zahllosen Initiativen, die oben als neuer Volksaktivismus charakterisiert wurden, eine längere Geschichte, eine dementsprechende organisatorische Konsolidierung und eine eigene politische Identität auf. Ihre wesentliche Schwäche ist die lokale, regionale oder soziale Beschränkung, die ihnen bisher keine ausreichende Sichtbarkeit als politischer Kristallisationspunkt auf nationaler Ebene erlaubte. Versuche, dies über Koordinationsstrukturen zwischen den Organisationen, die für die Vertiefung der Revolution zur Volksmacht stehen, zu überwinden, gingen kaum über politische Absichtserklärungen hinaus und konnten sich nicht konsolidieren. Abgesehen von der beinahe natürlichen – damit aber nicht weniger problematischen – Angst, die über Jahre aufgebauten Einflussbereiche an „konkurrierende“ Organisationen zu verlieren, liegt diesem Problem auch ein politischer Faktor zugrunde, nämlich die Unterschätzung der politischen und staatlichen Sphäre zugunsten der sozialen Kräfteakkumulation. Die Linke konnte zwar in den fünf Jahren der Chávez-Regierung numerisch deutlich anwachsen, jedoch nicht wesentlich in den die Gesellschaft prägenden politischen Diskurs außerhalb ihrer unmittelbaren Einflussgebiete einbrechen. Zweifellos hat die Radikalisierung des Präsidenten selbst und seine „Übernahme“ wesentlicher Konzepte der Linken (Vertiefung der Revolution, Volksmacht, Antiimperialismus) eine eigenständige Positionierung erschwert, da Chávez im Bewusstsein des Volkes als das beste und einzige Instrument zum Erreichen ihrer Forderungen erscheint.
Um jedoch Chávez alleinige Führungsrolle in eine „kollektive Avantgarde“ überzuführen, ist die Präsenz der Linken in der politischen Arena ausschlaggebend. Die Vertiefung der Revolution und die Volksmacht erscheinen vielfach jedoch ausschließlich als Funktion der wachsenden Organisation und Politisierung der Volksorganisationen jenseits des Staates. Die Kritik der alten politischen Parteien und des bürokratischen Apparats führten zu einer oft „antipolitischen“ Haltung, die zweifellos auch durch den international dominanten Diskurs der „Zivilgesellschaft“ oder „sozialen Bewegungen“ innerhalb der Linken bzw. Antiglobalisierungsbewegung mit geprägt ist. Da jedoch der alte Staat und sein Mechanismus der Wahlen derzeit noch der wesentliche Machtfaktor bleiben, die die Zukunft des Prozesses bestimmen, führte der Rückstand im Aufbaus eines politischen Instruments, das der alten Elite auch in ihrem angestammten Terrain entgegentritt, zu einem Zurückbleiben der Linken hinter ihren Möglichkeiten und der unangefochtenen Initiative der vielkritisierten chavistischen „politischen Parteien“.
Einzig die neu gegründete MBP formuliert deutlich das Ziel eines zwar bolivarianischen, von den chavistischen Parteien jedoch eigenständigen politischen Instruments. Ihre bisherigen Erfolge, insbesondere der Sieg ihres Bürgermeisterkandidaten Josà© Alvarado gegen den Kandidaten der MVR in der 150.000 Einwohner zählenden Grenzstadt Guasdualito, Apure, könnten zu einem Katalysator für eine gemeinsame politische Alternative der revolutionären Linken für die kommenden Wahlen werden, die den Kampf um die Volksmacht von unten und von oben zu führen in der Lage ist.

[1] Der 1958 zwischen den Parteien Accià³n Democratica (AD, Demokratische Aktion; sozialreformerisch-populistisch, Mitglied der Sozialistischen Internationale), Comità© de Organizacià³n Polà­tico Electoral Independiente (COPEI, Unabhängiges Politische Wahlorganisation; christdemokratische Partei der Oligarchie) und Unià³n Democrática Republicana (UDR, Demokratische Republikanische Union; linksliberal) geschlossene Pakt begründete ein geschlossenes System kontrollierter Demokratie mit stark korporativistischen Elementen.
[2] siehe: Josà© Carlos Mariategui (1929): Antiimperialistischer Gesichtspunkt, in Mariategui: Revolution und peruanische Wirklichkeit, isp-Verlag 1986, S. 155 ff
[3] Die IV. Republik – das System von Punto Fijo – umfasst die Periode von 1958 bis zur neuen Verfassung 1999, die die Bolivarianische Republik Venezuelas begründete.
[4] siehe dazu: Alberto Garrido (2005): Revolucià³n Bolivariana 2005. Notas, Ediciones del Autor, Caracas 2005, S. 79 ff.
[5] El Tiempo, 26. Februar 2005, http://eltiempo.terra.com.co/inte/latin/noticias/ARTICULO-WEB-_NOTA_INTERIOR-1989922.html
[6] siehe dazu: Dorothea Melcher: Venezuela – Reformismus und Radikalismus in einem Erdölland. In: Die Linke in Lateinamerika. Analysen und Berichte (1997), Neuer ISP Verlag, S. 176 ff.
[7] Intervencià³n del Presidente el Dà­a 12 de Novembre del 2004. Herausgegeben von Marta Harnecker
[8] a.a.O, S. 83 ff.
[9] in Garrido, a.a.O., S. 123

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