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Libanon: Siniora-Regierung versucht Massenproteste auszusitzen

30. Januar 2007

USA können sich keine weitere Niederlage leisten

Die Menschenströme, die derzeit tagtäglich Beirut überfluten, legen beredtes Zeugnis über die Verhältnisse in der libanesischen Politik und Gesellschaft ab. Sie drücken die Wahrheit über die politische Balance aus, die die Westmedien auszublenden versuchen. Die Regierung und ihre Medien sind gezwungen diese Balance zu schönen, um ihrer Regierungsmehrheit Legitimität zu verschaffen und mit Deckung der USA, Europas und der arabischen Staaten ihre Herrschaft über die libanesische Politik zu festigen. Ihnen allen geht es darum, das Zedernland nachhaltig in die amerikanische Einflusssphäre zu ziehen.

Nur vor diesem Hintergrund kann die massive Bewegung der libanesischen Opposition und ihre Folgen verstanden werden. Sie kann nicht auf die Forderung der Hizbullah nach dem Drittelanteil an der Regierung reduziert werden. Sie hängt darüber hinaus mit der regionalen und internationalen politischen Realität zusammen und mit den dort vorhandenen Widersprüchen und Konflikten. Die Opposition spricht sich vor allem auch gegen die Unterstützung der USA, sowie der einflussreichen arabischen Regime Ägyptens und Saudi-Arabiens, aber auch Israels für die Siniora-Regierung aus. In diesem Sinn stellt sich die jetzige komplexe Situation im Libanon als logische Kontinuität der israelischen Aggression vom Juli 2006 dar, auch wenn nun mit anderen Mitteln gekämpft wird.

Wenn während des Juli-Kriegs Israel die Hauptpartei war, dann ist diese jetzt die libanesische Regierung und der politisch-soziale Block, auf den sie sich stützt. Ein Rollentausch, denn zuvor wurde der Krieg von Israel geführt und von der Regierung begrüßt und unterstützt wurde, heute führen ihn die Regierungskräfte fort, mit israelischer Billigung und westlicher Unterstützung.

Kräfteverschiebungen

Nachdem man sich diese Voraussetzungen vergegenwärtigt hat, kann man nun auf die Kräftebalance der jetzigen Konfrontation und die möglichen Szenarien und zu erwartenden Kompromisse eingehen:

Das Pro-Regierungs-Lager besteht aus dem antisyrischen 14. März-Block, dessen Kern die Mustaqbal-Strömung („Zukunft“) ist. Die Mustaqbal stützt sich auf ein sunnitisches Milieu, und erhält ihre Kraft von der Handelsbourgeoisie, die sich politisch entlang konfessionellen Zugehörigkeiten gruppiert hat. Dies ist ein Produkt der historischen Konflikte zwischen den dominanten sunnitischen Eliten (was nicht heißt, dass es nicht auch arme Sunniten geben würde) und den Oppositionskräften, die sich unter schiitischer Führung gebildet haben. Politische und soziale Differenzen überlagerten sich und verschmolzen mit religiösen. Dazu kommen regionale Faktoren: der Krieg im Irak und die zweideutigen Haltungen der irakischen Schiiten riefen eine emotionale Reaktion in der sunnitischen Gemeinde hervor, die den Schiiten die Verantwortung für den Fall der irakischen Regierung und die amerikanische Besatzung zuschieben.

Die beiden moslemischen Konfessionen erhielten zwar nominal gleichverteilte Macht im post-kolonialen konfessionellen System, jedoch konnte das politische Sunnitentum gemeinsam mit dem politischen Christentum die wirtschaftliche und politische Hegemonie erlangen, während die schiitischen Gebiete immer von Armut und Marginalisierung gekennzeichnet waren. Dies erklärt die große schiitische Präsenz in den linken und panarabistischen Oppositionsparteien. Die iranische Revolution im Jahr 1979 gab dem libanesischen politischen Schiitentum den Anstoß und führte zur Bildung der Amal-Bewegung und später von Hizbullah, die die Mehrheit der Schiiten anziehen konnten.

Die Konstituierung des politischen Schiitentums trug massiv zur Beteiligung der schiitischen Massen am politischen Leben des Landes bei. Das Taif-Abkommen zur Beendigung des Bürgerkrieges und zur Machtteilung unter den Konfessionen musste diesen veränderten Kräfteverhältnissen Rechnung tragen. Die gesteigerte Rolle der Schiiten drückte sich auch im Widerstand im Süden gegen die israelische Besatzung aus, deren Hauptträger sie stellten. Dies erklärt sich sowohl mit der Demographie des mehrheitlich schiitischen Südens, als auch durch die politische Allianz mit Syrien.

Hingegen schrumpfte die Rolle des politischen Sunnitentums in sich zusammen, weil dieses immer mit den offiziellen arabischen Regimen zusammenhing. So sammelten sich bis in die 80er Jahre hinein die Mehrheit der Sunniten um den Nasserismus, später auch um den palästinensischen Widerstand, oder verbanden sich teilweise auch mit dem saudi-arabischen Wahabitismus. Diese Abhängigkeit des politischen Sunnitentums von den arabischen Regimen führte zu ihrer enormen Schwächung als Folge von deren Legitimitätsverlusts nach 1991. Die Unterstützung für den Krieg der Heiligen Allianz gegen den Irak ist nur der plakativste Ausdruck der völligen Unterordnung unter das Diktat der USA, die von den Völkern in ihrer Breite abgelehnt wird.

In dieser Phase der Schwäche und des politischen Verfalls und vor dem Hintergrund der veränderten globalen politischen Landkarte der 90er Jahre gelang es Rafiq Hariri, der sein enormes, in Saudi-Arabien angehäuftes Vermögen in politisches Kapital ummünzte, das Vakuum zu füllen. Er erlangte die Hegemonie im sunnitischen Lager und eliminierte bzw. marginalisierte alle anderen politischen und religiösen Führungen und Persönlichkeiten. Das konnte nur gelingen, in dem er sich zum Träger des amerikanischen Projektes, der monopolaren Weltordnung und des „New Middle East“ machte.

Daher bedeutete der Mord an Hariri für die sunnitische Gemeinde einen Angriff auf ihre politische Existenz, was die Massenunterstützung für die Hariri-Erben unmittelbar nach dem Attentat erklärt. Der zunehmende Einfluss des Irak-Krieges und des dort stattfindenden Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten, die iranisch-saudiarabische Konkurrenz und die daraus resultierenden sunnitisch-schiitischen Gegenmobilisierungen, führten zu einer Neupositionierung der libanesischen Sunniten im anti-syrischen und anti-iranischen Lager, was lokal eine Konfrontation mit dem politischen Schiitentum und daher dem Widerstand nach dem Prinzip von „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ bedeutete.

Diese Situation ist aber keine statische und schon gar nicht absolute Positionierung. Der Juli-Krieg änderte wieder die Gleichung. Die zweideutige, teilweise die zionistische Aggression begrüßende Haltung des Hariri-Lagers drückte sich in der Angst vor einem Sieg des Widerstands aus. Nach dem Krieg arbeiteten sie daran, den Sieg des Widerstands zu entleeren und ihn in eine politische Niederlage umzuwandeln. Dieser Angriff auf den Widerstand und seine Errungenschaften führte zu einem allmählichen Neuorientierungsprozess unter den Sunniten, auf der Basis ihrer patriotischen Geschichte (Nasserismus) und der Feindschaft zum US-Imperialismus.

Das Hariri-Lager machte weitere politische Fehler. In seiner Panik bedrohte es nach dem Prinzip „wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ die dem Nasserismus entstammenden sunnitischen Führungen (wie die Karamà©-Familie oder Selim al Hoss), die mit seiner Politik nicht einverstanden und gegen eine Konfessionalisierung des politischen Konfliktes waren. Die Kraft der konfessionellen Mobilisierung ließ nach, nachdem klar wurde, dass die „Anderen“ nicht nur Schiiten sind, sondern Libanesen aller Konfessionen.

Die Schwierigkeiten der Siniora-Regierung spiegeln sich in der zweideutige Haltung des maronitischen Patriarchen Sfeir wider. Er ist für eine nationale Einheitsregierung – die Forderung der Opposition, aber gegen Straßenproteste. Gleichzeitig lehnt er den maronitischen Präsidenten Emil Lahoud ab, der der Opposition nahe steht, und fordert seinen Rücktritt, den er genauso nur rein institutionell durchzusetzen wünscht. Obwohl die Mehrheit der libanesischen Christen die Strömung von Aoun und Fringeyyeh unterstützen und an den Bewegungen der Opposition teilnehmen, lehnt er eine Wendung zur Opposition ab. Seine Passivität kann als sehr vorsichtige Unterstützung der Regierung und der 14. März-Kräfte verstanden werden.

Zu erwähnen ist hier noch der historische Alliierte Syriens, Walid Dschumblat, der das Lager komplett gewechselt hat, und mit aller Kraft die andere Seite unterstützt. Er plädiert heute für die Neugestaltung Libanons mit den Argumenten des amerikanischen Antiterrorkrieges. Er setzte auf die Unterstützung der westlichen Staaten und die Krise des syrischen Regimes, sowie auch auf den Juli-Krieg.

Auf der Straße ist die Regierung indes null und nichtig. Ihre hoffnungslosen Versuche selbst zu mobilisieren, deuten nur auf ihre politische Pleite. Die leere Drohung mit der „Gegenstraße“ wurde sogar von der Opposition begrüßt, denn gerade dies würde die Schwäche der Regierung beweisen und die Oberhand der Opposition unter den Volksmassen verdeutlichen.

Amerikanische Intransigenz

Es ist offensichtlich, dass die Hauptquelle, die den Regierungskräften den Mut und die Zuversicht bei ihrer sturen Haltung gibt, die unbegrenzte amerikanische und französische Unterstützung ist. Diese Unterstützung einer illegitimen Regierung macht jedes Gerede dieser Staaten über Demokratie zunichte, insbesondere angesichts der überwältigenden Volksmobilisierung der Opposition.

Für die USA steht viel auf dem Spiel. Ihre aggressive und unnachgiebige Haltung im Libanon hängt mit der Kampagne gegen die syrisch-iranische Allianz, aber auch mit den möglichen Folgen des Sturzes ihres Marionettenregimes im Libanon für den Irak und Palästina zusammen. Gäbe die Regierung gegen den Willen ihrer Schutzherren in Washington, Paris und Tel Aviv nach, dann würden sie den Verlust dieser entscheidenden Unterstützung riskieren – was offensichtlich ihr Ende bedeutete.

In der libanesischen politischen Tradition werden zwar solche politische Krisen durch Kompromisse gelöst. Diese Kompromisse sind jedoch nie allein durch die Bemühungen interner Kräfte erreicht worden, sondern durch ausländische Interventionen zustande gekommen.

Offensichtlich ist heute die internationale Situation nicht reif für einen Kompromiss. Anscheinend versuchen die USA die Lösung dieser Krise zu verschieben, nachdem es sich zeigte, dass die Widerstandskräfte trotz des Kriegs vom Juli noch intakt sind, während die 14. März-Kräfte ihre Unfähigkeit bewiesen, die ihnen zugeordnete Rolle zu erfüllen. Die USA warten auf günstigere Bedingungen, um die Widerstandskräfte zu isolieren und zu zerschlagen.

Auf der regionalen Ebene sind die einflussreichen Länder in ihren Bewegungen limitiert, besonders durch die Verschlechterung der syrisch-saudischen Beziehungen nach dem Anschlag auf Hariri. Der Erfolg jeder regionalen Vermittlung hängt von der Verbesserung dieser Beziehungen ab. Es wird von schüchternen Versuchen in diesem Sinne geredet, die hinter den Kulissen stattfinden, jedoch bleibt jede Vermittlung auf einen US-amerikanischen Segen angewiesen und die USA haben bisher keine positiven Signale gesendet.

Konfliktpunkte im Detail

Wenn auch die Form der Forderungen der Opposition eine Drittelbeteiligung an der Regierung ist, geht es im Inhalt um die folgenden Punkte:

…· Den Sieg des Widerstands zu festigen, durch die Bewahrung der Unabhängigkeit und der arabischen Identität des Libanons, und eine souveräne Regierung zu schaffen, welche die amerikanische Vormundschaft abschüttelt.

…· Eine christliche Beteiligung an der Macht zu schaffen, entsprechend den Ergebnissen der letzten Parlamentswahlen. Die heute von der Regierung ausgeschlossene Aoun-Strömung erhielt damals fast 80% der christlichen Stimmen.

Obwohl ständig davon die Rede ist, dass die Hizbullah das internationale Tribunal zum Mord an Hariri ablehnen würde, findet der Prozess eigentlich von allen Kräften im Libanon Zustimmung, wenn die Hizbullah auch nicht allen damit verbundenen Bedingungen zustimmt. Streitpunkt ist jedoch die Natur und die Kompetenzen dieses Gerichts. Die Hariri-Strömung, Dschumblat und die anderen 14. März-Kräfte sehen darin ein Mittel, ihre Existenz zu sichern, die ihrer Meinung nach nur durch den Sturz des syrischen Regimes möglich ist. Die Opposition sieht hingegen in diesem Tribunal eine Parallele zum Waffeninspektionskomitee im Irak, das als Werkzeug dazu diente, der Invasion des Irak Legitimität zu verschaffen. Daher fordert die Opposition, die Details dieses internationalen Gerichts zu klären, bevor es akzeptiert wird.

Was die aktuelle politische Lage betrifft, so bleibt die Konfrontation im Moment auf demselben Niveau wie in den letzten Monaten. Die TV-Stationen der beiden Lager führen gegenseitige Kampagnen mit den Maximen der jeweiligen Seite. Die sudanesische Initiative (der Sudan hat im Moment die Präsidentschaft der arabischen Liga inne) hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Optimismus über einen möglichen positiven Ausgang ist jedoch plötzlich verflogen, nachdem die Regierungskräfte keine positiven Zeichen von sich gaben, was auf eine Intervention des US-Botschafters hindeutet.

Interessant ist hier die Anschuldigung Sinioras an den Parlamentschef Nabih Berri (Opposition), das Parlament weigere sich, seine Verantwortung zu übernehmen. Dies deutet auf die Absichten des 14. März-Lagers, die Antwort auf die Vorschläge des sudanesischen Vermittlers auf eine für die Regierung günstigere Zeit zu verschieben, da im Moment die Opposition einen Punkte-Vorsprung hat.

Meinungsumfragen zeigen indes, dass die Mehrheit der Libanesen (73%) eine nationale Einheitsregierung unterstützen würde.

Gefahr eines neuerlichen Bürgerkrieges?

Die Meinungsforscher sagen, dass ein großer Anteil der Libanesen einen Ausbruch von Gewalttaten erwartet. Diese Befürchtung wird durch die bisher vereinzelten Ereignisse verstärkt, besonders wenn heute auch von einer Bewaffnung innerhalb der 14. März-Kräfte (die Mustaqbal-Strömung, Dschumblats „Sozialistische Fortschrittliche Partei“ und Geageas „Forces Libanaises“) gesprochen wird. Eine weitere „sunnitische“ Militärgruppe im Aufbau ist der Versuch von Ahmad Khatib, dem ehemaligen Führer der „Arabischen Armee des Libanon“, der moslemischen Spaltung der Armee während des Bürgerkriegs, alte Mitglieder für die „Bewegung Arabischer Libanon“ zu rekrutieren. Dies geschieht mit der Finanzierung von Hariris Mustaqbal.

Im selben Kontext können die jüngsten Aussagen des sunnitischen Mufti Qabbani betrachtet werden. Obwohl er nach seinem Treffen mit dem ehemaligen Premierminister Karamà© die Krise als eine politische und keine konfessionelle Krise bezeichnete, spielt der Mufti eine wichtige Rolle in der antischiitischen Mobilisierung der Sunniten zugunsten Hariris. Er betrachtete anfangs die neuen Ereignisse als eine Bedrohung der Stellung der Sunniten im Libanon.

Wa’ad El-Khatib
Libanon, 16. Dezember 2006

Wa’ad El-Khatib ist Aktivist der antiimperialistischen Linken. Er entstammt dem nasseristischen Milieu, dessen radikaler Teil die von der Hizbullah geführte Opposition aktiv unterstützt.

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