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Demokratie im Hotel

2. Juni 2008

Die Veranstaltung Gaza muss leben! war verschiedenen Diffamierungen ausgesetzt. Trotzdem konnte sie, unter widrigen Umständen, am 17. Mai 2008 im Hotel Regina abgehalten werden. Damit wurde diese Veranstaltung zu einem Symbol der Standhaftigkeit. Aug und Ohr (Gegeninformationsinitiative) berichtet von den Ausführungen der Referenten.
Das Video zur Veranstaltung



130 Leute versammelten sich, eng gedrängt, im Hotel Regina, nachdem sie aus dem Albert-Schweitzer-Haus und dann aus der Arbeiterkammer verjagt worden waren. Es waren Moslems und Juden, Christen und Linke, Wissenschaftler und Politiker. Männer wie Frauen. Alle hätten, wenn es nach der beispiellosen Kampagne hätte gehen sollen, nirgends sprechen dürfen. Hier ein Bericht über die politischen Beiträge dieser Versammlung. Er beginnt mit unserem Gast aus Gaza, den wir nach Österreich hieven konnten, dem „Politiker und Analytiker“, wie Gabriel zu Beginn betonte, El Khoudari. Auf ihn hatten sich die zionistischen Hardliner eingeschossen. Ihre Kugeln prallten an uns ab.

Ein Fanatiker gibt Zahlen bekannt

„Es ist leichter, von Gaza nach Wien als nach Jerusalem zu kommen, die unzähligen Straßensperren machen dies unmöglich!“ sagte El Khoudari in seinem Eingangsstatement und gab zunächst einige sprechende Daten bekannt: “ 80% der Menschen in Gaza leben unter der Armutsgrenze, 65 % sind arbeitslos, 140.000 Arbeiter können derzeit nicht arbeiten, da Israel die Zufuhr von Rohstoffen nach Gaza verhindert. Somit sind 1.300 Fabriken stillgelegt und können nicht produzieren. 45% der 1,5 Millionen Menschen umfassenden Gesamtbevölkerung sind Kinder, und 60% dieser Kinder leiden unter Blutarmut und weiteren schweren Krankheiten. Diese Zahlen stammen von internationalen Organisationen. Sie leiden auch darunter, daß sie nicht behandelt werden können. Die Reduktion der Ölzufuhr führte dazu, daß die Leute keinen Strom, keinen Sprit, kein Öl mehr haben. 49% der öffentlichen Verkehrsmittel sind bereits stillgelegt.“ Und er bat um Solidarität. „Der Dank gilt allen Anwesenden, allen Initiatoren und Organisatoren.“

Klarer und scharfer Protestantismus

Viola Raheb verkörpert jenes ernsthafte und engagierte Basischristentum, das hierzulande beinahe unbekannt ist. Nicht ohne Grund ist sie Protestantin, und Theologin. War in Palästina als Schulleiterin tätig. Sie studierte in Heidelberg und veröffentlichte zwei Bücher und zahlreiche Aufsätze in deutscher Sprache. Sie ist unter anderem Mitglied des Netzwerks für Friedenserziehung im Weltkirchenrat. Neben dem Pfarrer Franz Sieder die zweite profunde Christin auf diesem Forum. Viola Raheb ist mit Marwan Abado verheiratet.

Leo Gabriel sprach zuerst die Christen an: Meine erste Frage an Viola Raheb: Gibt es überhaupt diese Differenzierung zwischen Islam und Islamismus, ist Gaza etwas Besonderes und von der Westbank und anderen Teilen der islamischen Welt Verschiedenes? Und um der Frage auf die Spur zu kommen, warum setzt man diese Bevölkerung so aus, warum richten sich so viele Vorurteile gegen sie?

Raheb machte in ihrer Antwort auf die ideologische Umdeutung von Widerstand in Terrorismus und auf die systematische Desinformation aufmerksam, die es ermöglicht, die Angst vor dem Unbekannten zu schüren: „Nach dem 11. September hat sich die internationale Politik geändert bezüglich des international anerkannten Rechts auf Widerstand. Ohne das können wir nicht verstehen, was in Palästina vor sich geht. In diesem Krieg hat man einen neuen Feind gefunden. Einige nennen ihn Islam, andere Islamismus. Es gibt viele Namen. Man hat einen Feind gebraucht, der für die Mehrheit fremd ist, da hat sich der Islam angeboten. denn damit ist die Mehrheit nicht vertraut. denn das, was man nicht kennt, davor hat man Angst.“ Auf diese Analyse, die ja auch auf den approbierten antirassistischen Webseiten Österreichs hätte Platz finden können, erfolgte starker Applaus.

Incipit Shakfeh

Der Druck und das (versuchte) Veranstaltungsverbot waren so stark, daß sich auch jene moderateren islamischen Kräfte sowohl auf dem Podium als auch in der Zuhörerschaft einfanden, die einem linken Kern von Aktivisten, die, neben zahlreichen anderen Kräften, an der Organisation des round-table-Gesprächs beteiligt waren, bisher distanziert gegenüberstanden. Zu ihnen gehört ohne Zweifel Anas Shakfeh.

Der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft zog dem gegnerischen Angriff ein wenig die Zähne, indem er auf den legitimen Charakter der Wahlen in ganz Palästina hinwies, und er ging seine Sache mit einer gesunden Bedächtigkeit an: „Die Wahlen fanden nicht nur in Gaza statt, sondern auch auf der Westbank. Diese Partei hat sowohl im Gazastreifen als auch in der Westbank gewonnen. … Unbestreitbar: Die Religion ist dort meinungsbildend, aber nicht allein. Es gab auch andere innenpolitische, wirtschaftliche Motive. … Die Welt hat gesagt: Das ist unverständlich, suspekt, und jede Zusammenarbeit mit dieser Partei wurde abgelehnt. Bis dahin kann man das nachvollziehen und verstehen. Darüber kann man reden; aber das Gespräch zu verweigern, das ist problematisch.“

Und nun folgt eine bittere Anklage: „Nach der Gesprächsverweigerung gab es die verschärften Boykottmaßnahmen Israels. Wir haben jetzt die kollektive Bestrafung eines ganzen Volkes! Das ist völkerrechtswidrig. Man darf nicht alle bestrafen, wenn man einige treffen will.“

In der Folge versucht er, einen Kausalzusammenhang zu schaffen zwischen der Schoah und dem Unrecht in Palästina. Die Schoah war „ein maßloses Unrecht, die Schoah hat stattgefunden, und wer sie leugnet, leugnet die Wahrheit.“ Allerdings bezeichnet er die Unterdrückung der Palästinenser als „die unmittelbare Folge davon“ und „für beide Unrechte, für beide Katastrophen tragen vor allem die Deutschen schuld.“

Gelebtes Christentum

An Franz Sieder gerichtet perorierte Leo Gabriel: „Mir fällt als Christ ein, daß Pontius Pilatus gefragt hat: Was ist Wahrheit? Viele, mit denen ich in den letzten Tagen Kontakt aufgenommen habe, waschen sich die Hände in Unschuld und sehen weg von der Verantwortung. Gibt es irgendetwas, was auch im christlichen Glauben verankert ist, daß wir wegschauen, besonders dort, wo es um andere Religionen, um andere Weltgegenden geht?“ Geradezu eine Frage nach dem Diabolischen im Christentum.

„Ich möchte als katholischer Priester sagen, daß ich den Holocaust zutiefst verurteile und daß es das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte war und daß man nichts mit dem Holocaust vergleichen kann. Gleichzeitig können die unmenschliche Politik und die Verbrechen, die heute von Israel am palästinensischen Volk begangen werden, nicht mit dem Holocaust gerechtfertigt werden. Der spezifische christliche Glaubensanspruch, das Gebot der Nächstenliebe, gebietet es, diesen Menschen zu helfen. Grenzen zuzumachen und diese Menschen dem Hungertod preiszugeben, das ist für mich Mord und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. … Sicher hat auch Israel das Bedürfnis, in Frieden zu leben.“ Die Politik Israels sei es jedoch, „mit einer militärischen Übermacht und dem Besitz von Atombomben den anderen in die Knie zu zwingen und zu einem Sklaventum und unmenschlichen Leben zu degradieren.“ Der Unterschied zwischen den Kontrahenten sei immens: Auf der einen Seite „die, die mit dem Militär töten, gewissermaßen einen Jagdschein zum Töten besitzen, und die anderen, seien es Selbstmordattentäter, die sind dann die sogenannten Wilden und werden zu Terroristen abgestempelt.“

Bush ist ungeeignet als Vermittler, und Sieder macht dies von einem christlichen Standpunkt aus klar. „Wenn Präsident Bush heute in den Nahen Osten kommt, ist er nicht der geeignete Vermittler, weil er parteiisch für Israel ist und sicher nicht für die Armen und Schwachen einsteht.“ Und hier führt er einen großen Bogen zu einer Grundthese des christlichen Engagements zurück: „Was wir heute tun, das ist auch friedensstiftend. Es geht uns einzig und allein darum, ein Anwalt der Schwachen zu sein und Frieden zu stiften. Die Friedensstifter werden in der Bergpredigt selig gepriesen, die Feindesliebe sagt uns, daß wir nicht nur die Leiden des eigenen Volkes in betracht ziehen müssen, sondern auch die des anderen. Die Israelis müssen sich bewußt werden der Leiden des palästinensischen Volkes, und die Palästinenser der des jüdischen.

Eine Aug-um-Aug und Zahn-für Zahn-Politik kann nicht zum Frieden führen. Hinein spielt auch die Angst der Israelis vor der Atombombe. Ich bin nicht dafür, daß Iran Atombomben baut, ich bin aber auch dagegen, daß Israel oder die USA Atombomben haben. … Frieden kann nur durch den permanenten Abbau der Rüstung geschaffen werden. Auch nicht durch eine weltweite neoliberale Wirtschaft, die Inseln von unermeßlichem Reichtum schafft, wenn Millionen dem Hungertod preisgegeben werden. Eine andere Welt ist möglich, und für diese andere Welt werden wir auch weiter kämpfen und unser Leben einsetzen.“

Spontan ergänzt dazu Viola Raheb: „Wenn wir heute sagen: Gaza muß leben, dann geht es nicht um einen Hilfeschrei um Almosen. Wir sind keine Bettler, wir sind niemand, der irgendjemand um einen Gefallen bittet. Wir konfrontieren die Weltgemeinschaft mit ihrer Verantwortung, das internationale Recht auch auf die Bevölkerung von Gaza anzuwenden.“ (Starker Applaus). Die Genfer Konvention hat auch für eine Bevölkerung unter Besatzung zu gelten, egal wer der Gegner ist. … Es geht darum, nie wieder zu Unrecht zu schweigen. Wer zu Unrecht schweigt, hat aus der Geschichte nichts gelernt.“

Unsere Freundin

Lakonisch berichtet Paula Abrams-Hourani über ihr Projekt, die „Frauen in Schwarz“. Sie waren bereits 5 Mal im Gazastreifen. Zentrale Aufgabe der Organisation sei, „eine Lücke zu füllen, die die Medien regelmäßig vernachlässigen.“ Eingaben und Petitionen gehören zum täglichen Brot der Initiative: „Ich weiß nicht, wie viele Briefe wir an das Außenministerium gerichtet haben.“ Als Vertreterin Österreichs war sie im Februar mit einer kleinen internationalen Gruppe auch im Westjordanland. Dort wurden die „echten israelischen Friedensgruppen“ kontaktiert: Die Physicians for Human Rights und das Alternative Informationszentrum in Jerusalem. Und in Rückbeziehung auf die große Tradition des jüdischen Humanismus sagt Paula: „Als Jude hat man die Pflicht, nicht zu schweigen zu diesen Verbrechen. Wir müssen die Politiker daran erinnern, daß sie eine Verantwortung haben für die Freiheit des palästinensischen Volkes.“

Die Hoffnung des Judentums

Peter Melvyn von den Jüdischen Stimmen für einen gerechten Frieden berichtet, daß seine Organisation eine Woche zuvor eine Veranstaltung für die Nakba gemacht hatte. „Sie werden sich wundern, warum eine jüdische Gruppe nicht feiert wie die jüdischen Gemeinden in aller Welt. Die Antwort ist: Wir feiern nicht, weil es nichts zu feiern gibt, genauso wie unsere Schwesterorganisationen in 10 europäischen Ländern nicht feiern. Denn der Staat Israel beruht seit seiner Gründung auf Terror, auf Massakern, auf ethnischer Säuberung. … 750.000 Menschen wurden damals vertrieben, ihr Hab und Gut wurde beschlagnahmt, Israel hat sich auch daran bereichert, und solange Israel das nicht anerkennt, kann es, glaube ich, keinen Frieden geben.“

Österreich und EU: Ein feiges Sich-Herauswinden

Nun stellte Leo Gabriel, wie immer höchst professionell, eine interessante, aber „schwere“ Frage an die liberale Europaabgeordnete Karin Resetarits: „Welche Möglichkeit der Änderung der EU-Politik sehen Sie und was kann man dazu beitragen, daß sich diese Politik ändert?“ Mit ihrer Antwort skizzierte Resetarits die hierarchische Verfaßtheit der EU-Institutionen und lieferte ein wertvolles Lehrstück für EU-Skeptische.

Die Mehrheit im EU-Parlament wolle Änderungen, aber sie komme gegen den Rat nicht auf, der sich aus den Außenministern, Premierministern und Kanzlern zusammensetze. „Das letzte Wort liegt in den Händen der Regierungschefs.“ Die politische Stagnation besonders in Österreich wirke sich natürlich auf die europäische Ebene aus. Schwer hier einen Diskurs herzustellen. „Wenn wir wenigstens eine klare engagierte Antwort bekämen, aber (es ist) ein feiges Sich-Herauswinden. Solche Leute sitzen in der Regierung, und sie sitzen im Rat. Dieser Rat, der sich alle 3 Monate trifft, beschließt, ob ein Embargo aufgehoben wird oder nicht.“ Und dagegen setzt sie die exemplarische politische Basisarbeit von Luisa Morgantini, „eine tolle Frau“, Stellvertretende Vorsitzende des EU-Parlaments, von der Rifondazione herkommend. Ständig werden von ihr Reisen nach Gaza organisiert, die Abstimmungsmehrheiten im EU-Parlament wären ohne sie nicht möglich gewesen. Ein wenig personalisiert sie da und erwähnt nicht die betont linken Fraktionen im EU-Parlament.

Edlinger: Feige Rote und feige Schwarze

Und nun stellte Leo Gabriel an Fritz Edlinger eine Frage, die diesem wohl nicht das erste Mal gestellt wird: Was denn in Österreich von der Kreisky-Tradition noch übrig bleibe? Damals sei die palästinensische Seite das erste Mal als gleichwertiger Partner anerkannt worden. Edlinger, nicht faul, schießt sich als Antwort sofort auf einen Beitrag der österreichischen Außenministerin zu Israel ein, der im Standard erschienen war. Es sei „schlicht und einfach ein Skandal, was sich die Frau Dr. Plassnik an Lobhudeleien über das Pionierland, das die Wüste zum Blühen gebracht hat“ da geleistet habe.

Österreich habe ja immer, so heiße es da, sehr gute freundschaftliche Beziehungen zu Israel gehabt, „mit einer kurzer Unterbrechung, wo es nicht so gut war“ faßt Edlinger zusammen. „Was sie gemeint hat, ist wohl klar, die 13 Jahre, wo Kreisky Bundeskanzler war, wo Österreich an der Spitze des europäischen Dialogs mit den Palästinensern war.“ Welch ein Unterschied, wenn man sich dagegen heute die Regierungen anschaue: „Welche Regierung, das ist eigentlich schon zweitrangig, das ist keine parteipolitische Frage mehr. Feige Rote und feige Schwarze gibt es, und in der Nahostpolitik ganz besonders.“

„Viele in Österreich haben mit der Vergangenheit so abgeschlossen, daß sie sie einfach verdrängt haben, wir haben einfach die Nazi-Greuel verdrängt. Wir haben hochrangige Nazis sowohl bei den Roten wie bei den Schwarzen (von den anderen brauch ich nicht zu reden). Heute wird diese Sache in Wirklichkeit umgedeutet, und jenen, die für Menschenrechte eintreten im Falle des palästinensischen Volkes, wird eine Keule auf den Kopf geschlagen, und es wird gesagt: Wenn jemand für die Palästinenser eintritt, ist er ein alter und junger Nazi, oder ein neuer Antisemit. Das tritt uns jeden Tag entgegen.

Es ist ihr Recht, ihren eigenen Staat zu bekommen, ihre Selbstständigkeit zu bekommen, so wie auch andere Völker das Recht hatten. Sie sind eines derjenigen Völker, denen dieses Recht verweigert wird, und zwar seit 6o Jahren in immer stärkerem Ausmaß.

Die Amerikaner können mit dem Rest der Welt machen was sie wollen, nicht nur mit den Arabern, diese Wahrheit ist unangenehm. Bist du gegen Amerika, dann bist du ein Antisemit. Das ist etwas Neues.

Als wir für Vietnam auf die Straße gingen, was das nicht die Frage. Auf einmal ist es eine noble Sache, für die Amerikaner zu sein und die Amerikaner aufzufordern, Nuklearwaffen einzusetzen.

Die Welt ist mit einem Angriffskrieg erster Güte konfrontiert und die Welt schweigt. Es geht nicht um humanitäre Hilfe, diese Frage löst sich von selbst, wenn die fundamentalsten Menschenrechtsfragen implementiert sind. … Wenn man die Wahrheit ausspricht, muß man sagen, daß Palästina seit 60 Jahren besetzt ist.“

Hier ist Diskurs, dort ist Hetze.

Aug und Ohr (Gegeninformationsinitiative)

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