Der Weg zum Sozialismus
Kritische Überlegungen von F. Fischer, Schweiz
Vorwort
Der nachfolgende Text ist eine Kritik an der „nordischen Linken“. Mit diesem Begriff bezeichne ich jene „radikale“, „kämpferische“, „widerständige“ Linke, komme sie nun aus der marxistischen, anarchistischen oder autonomen Strömung, die sich in ihrem Selbstverständnis links der Sozialdemokratie positioniert sehen will, aber in der zentralen Frage des Imperialismus sich wenig oder gar nicht von ihr unterscheidet … und die damit den imperialistischen Diskurs mitgestaltet. Zwei Beispiele sollen genügen. Die im Vorfeld der Olympiade von der BRD und den USA bis ins Detail geplante Kampagne gegen China als ein die Minderheiten unterdrückender Staat wurde sowohl von der PdA Waadt als auch von Berner Autonomen übernommen. Der Hauptslogan an der schweizerischen Demonstration gegen den drohenden Krieg in Irak 2003 lautete (man beachte die Reihenfolge) „No to Saddam – No to Bush“. Folglich war es, nach dem die USA eine Forderung dieser Linken erfüllte, nur logisch, dass z.B. die KP Irak in die Besatzungsregierung eintrat, Indymedia mit Genugtuung mitteilte, auf Grund der nun ermöglichten „Pressefreiheit“ (!) auch in Bagdad ein Büro eröffnen zu können und die Antiglobalisierungsbewegung das gleiche Schicksal wie die Schweizer Armee erlitt. Letztere verlor ihren Sinn nach 1989, erstere nach 2003. Was gibt es denn noch zu handeln, wenn die zentralste und konkreteste Auseinandersetzung auf der Weltbühne mit einem Tabu belegt ist?
Der Text hat keinen umfassenden Anspruch. Für die Linke im Süden dürfte die Frage lauten, ob eine antiimperialistische Politik ohne gleichzeitige Überwindung des Kapitalismus die Hoffnungen der Armen erfüllen kann. Doch mir geht es nur um einen Beitrag, wie wir in unsere eigene und doppelte Isolation geraten sind. Denn isoliert sind wir sowohl von der eigenen Bevölkerung wie vom weltweiten Kampf gegen den Imperialismus. Es geht also vorerst um die Ursachen des Niederganges der antikapitalistischen Bewegung. Sie liegen, um es vorwegzunehmen, in den Mitteln des Imperialismus, seine Ideologie auch in die emanzipatorische Bewegung hineinzutragen. Dieser zerstörerische Einfluss wird anhand der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung aufgezeigt, da für diese genügend historisches Material zur Verfügung steht.
Die Mittel des Ausbruchs aus unserer Isolationszelle stehen hier nicht zur Diskussion, obwohl das Ziel des Beitrages eine konkrete Neuausrichtung linker Politik fordert (wie z.B. die Absage an einen Beitritt der Schweiz zur EU oder die Unterstützung des palästinensischen Widerstandes). Doch geht es mir hier vorerst darum, einen notwendigen Politikwechsel aus der Geschichte und den globalen Zusammenhängen heraus zu begründen. Denn wird der Text im Wesentlichen akzeptiert, so ergeben sich weit einschneidendere Konsequenzen als die beiden erwähnten Beispiele. Deshalb soll er hier zur Prüfung vorgelegt werden.
10. Oktober 2008, Franz Fischer
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Was ist Kubas Geschichte anderes als die Lateinamerikas? Was ist die Geschichte Lateinamerikas anderes als die Asiens, Afrikas und Ozeaniens? Und was ist die Geschichte all dieser Völker anderes als die Geschichte der grausamsten Ausbeutung der Welt durch den Imperialismus?
Aus der „Deklaration von Havanna 1962“
1. Der Niedergang der antikapitalistischen Bewegung
Das letzte Jahrhundert war aus emanzipatorischer Sicht von der ArbeiterInnenbewegung geprägt. Vieles, was uns heute als selbstverständlich entgegentritt (AHV, Ferien, 40-Std-Woche, allgemeines Wahlrecht, Kindergeld, aber auch die UNO-Abkommen über bürgerliche und soziale Menschenrechte und vieles andere mehr), war das Ergebnis von teils jahrzehntelangen Kämpfen, an deren vorderster Front KommunistInnen standen. Nach dem zweiten Weltkrieg entstand eine breite Entkolonialisierungs- und nationale Befreiungsbewegung. Auch die meisten Protagonisten dieser Bewegung beriefen sich auf die marxistische Ideologie. Marx’ens Wort „Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ schien sich als die Bewegung von KommunistInnen zu erfüllen. Doch diese kommunistische Gemeinschaft ist heute eine quantità© nà©gligeable … und leider nicht nur das. Ihre Nachkommen finden wir heute auf beiden Seiten des Imperialismus. So begrüssten, um neben der KP Irak auch ein Beispiel aus dem Norden zu nennen, grosse Teile der französischen KommunistInnen den Putsch gegen Aristide in Haiti. Der Kommunismus hat offensichtlich seine Überzeugungs-, Mobilisierungs- und Durchsetzungskraft verloren. Die neuen Bewegungen, die sich mit dem Niedergang der ArbeiterInnenbewegung zum Teil in Nischen, zum Teil als globale Bewegung herausgebildet haben, konnten den Niedergang der Gesamtbewegung nicht aufhalten und haben als Widerstand gegen die „neue Weltordnung“ ebenso versagt (siehe Einleitung).
2. Thesen zu „160 Jahre Kommunistisches Manifest“ (KM)
1848, vor 160 Jahren, erschien das KM. Es dauerte 66 Jahre bis zur ersten siegreichen antikapitalistischen Revolution und es verstrichen nochmals 27 Jahre, bis es in weiteren Ländern zu sozialistischen Umwälzungen kam. Denn erst der Sieg über den Faschismus, der zum Zusammenbruch des europäischen Kolonialismus führte, eröffnete eine rund 30-jährige Periode revolutionärer Umbrüche, die alle eine sozialistische Revolution oder Entkolonialisierung ansteuerten. Somit können wir heute auf eine rund 90-jährige Geschichte sozialistischer Revolutionen zurückblicken und haben genügend historisches Material, die Aussagen des KM mit der tatsächlich verlaufenen Geschichte zu vergleichen.
2.1. Die traditionelle kommunistische Identität
Sie basiert im Wesentlichen auf dem KM, welches eine Geschichts-, Kapitalismus- und Revolutionstheorie zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügt. Die Profitmaximierung als Antrieb des Kapitalismus und die Entwicklung der Produktivkräfte führe zu Verteilungskämpfen, die zwangsläufig zu politischen würden, da die Konflikte innerhalb des Kapitalismus nicht lösbar seien und die Produktionsverhältnisse immer mehr in Konflikt mit den Eigentumsverhältnissen gerieten. Somit komme die „historische Mission“, den Kapitalismus zu überwinden, den Lohnabhängigen, genauer, den FabrikarbeiterInnen zu. Denn „der Fortschritt der Industrie setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung … [Die Bourgeoisie] produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich“ (KM). Das KM schliesst denn auch mit der praxisrelevanten Komprimierung dieser Theorie: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“
2.2. Der tatsächliche Verlauf der sozialen Kämpfe
1. Die Revolutionen fanden nicht in den kapitalistischen Kernländern statt. Wir müssen genau das Gegenteil der vom KM aufgestellten Revolutionstheorie konstatieren: Das am meisten entwickelte kapitalistische Land, die USA, erlebte zu keiner Zeit auch nur annähernd eine revolutionäre Situation und die erste sozialistische Revolution hatte zu ihrem Ausgangspunkt einen feudalen Staat.
2. Die Träger der Revolutionen waren nicht FabrikarbeiterInnen. Die RevolutionärInnen sämtlicher Revolutionen, die russische eingeschlossen, waren in ihrer grossen Mehrheit Bauern, Soldaten und einfache WarenproduzentInnen.
3. Die Triebkräfte all dieser Revolutionen waren nicht die kapitalistischen Widersprüche im eigenen Land. Die russische Revolution fand ihre Massenunterstützung mit ihren beiden Forderungen nach einem Kriegsaustritt und der Abschaffung des feudalen Grossgrundbesitzes. Alle anderen Revolutionen sammelten ihre Kräfte im Kampf für eine nationale Unabhängigkeit. Nicht aus ökonomischen Verteilungskämpfen mit der eigenen Bourgeoisie entwickelten sich politische, sondern umgekehrt, mittels des politischen Kampfes für die nationale Unabhängigkeit konnten und wurden soziale Forderungen integriert.
4. Die Kämpfe in den Kernländern führten zur Stärkung des Kapitalismus. Obwohl diese Kämpfe zum Teil sehr hart geführt wurden, obwohl sie auch politische Formen annahmen und obwohl sie zum Teil erfolgreich waren, führten sie statt zum Klassenbewusstsein zum Burgfrieden. So können der Frontalangriff auf die Lebensbedingungen der eigenen Bevölkerung und die Aggressionskriege gegen „die Achse des Böses“ nicht umfassend erklärt werden, ohne deren Unterstützung und Duldung durch die Lohnabhängigen einzubeziehen. Der Kapitalismus stützt seit langem seine Herrschaft auf Jene ab, die das KM als „seinen Totengräber“ sah. Diese Einschätzung wird noch offensichtlicher, wenn wir den Ursachen der positiven Bilanz der Nachkriegskämpfe, dem Sozialstaat, den wir heute zu verteidigen gezwungen sind, nachgehen. Denn ohne die Existenz des sozialistischen Staatensystems wären diese Zugeständnisse nicht möglich gewesen. Nach 1989 gab es keinen Grund mehr, dieselben aufrecht zu erhalten.
2.3. Die Perspektive für den Norden
Wohl niemand sieht bei uns im Norden eine revolutionäre, d.h. eine Situation heranreifen, in der die Machtfrage zwischen Kapitalismus und Sozialismus offen ist. Wir glauben nicht daran, weil wir in der Bevölkerung kein Klassenbewusstsein vorfinden und weil uns das 160 Jahre Warten auf Godot die Hoffnung gestohlen hat. Uns fehlen Kriterien, die uns überzeugen könnten, dass die Probleme und Krisen des Kapitalismus sich heute so grundsätzlich verändert haben, dass seine Macht auch an seiner Heimatfront wackelt. Hinweise für solche werden heute vor allem aus der historisch neuen Situation abgeleitet, die mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten entstand und die ein Anwachsen der sozialen Kämpfe zur Folge hat. Dieses Referat hat mit zum Ziel, die gefährliche Seite dieser Perspektive aufzuzeigen. Denn die „neue Situation“ nach 1989 zeigt sich vorerst ja darin, dass der Kapitalismus diese Situation weidlich ausschlachten und die sozialen Errungenschaften zurücknehmen, weltweit Kriege anzetteln und die UNO als fortschrittliches Ergebnis des 2. Weltkrieges für sich instrumentalisieren kann. Aber die letzten 60 Jahre zeigen auch, dass er sich seines Überlebens wegen sehr wohl zu bändigen weiss. Die zunehmenden Verteilungskämpfe im Norden dürfen deshalb nicht nur als Folge der dem Kapitalismus inhärenten „Naturgesetze“ angesehen werden, sondern auch als Ausdruck dessen, was der Kapitalismus auf Grund der internationalen Situation einschätzt, auch bei der eigenen Stammbevölkerung herauspressen zu können. Diese Einschätzung kann sich ändern, denn für seine Weltherrschaft braucht er einen minimalen Konsens an der „Heimatfront“. Während dieses Thema weiter verfolgt wird, sollen hier noch zwei Gedanken nur deshalb aufgeworfen werden, weil ich sie nicht mehr weiter vertiefe:
1. Das Ende des Kapitalismus wurde schon x-mal prognostiziert. Schon mehrmals musste, ob als östliche Parteilehre oder westliche Marxismusforschung, die Theorie des „wissenschaftlichen Sozialismus“ dafür herhalten, sein Ende in Aussicht zu stellen. Ich erinnere an den 1973 durch das Ölembargo der OPEC ausgelöste Ölschock, an den Fall von Saigon, an die anschliessenden Revolutionen in Mocambique, Angola und Portugal, an das Naturkatastrophenjahr 1986, etc. Handelt es sich mit der „neuen Situation“ nicht nur um eine neue Version der Hoffnung, die uns motivieren soll? Ist Hoffnung an sich eine Voraussetzung für ein politisches Engagement, so führen aber auf der politischen Ebene falsch genährte Hoffnungen dazu, andere, vielleicht gar entscheidendere Konflikte auszublenden und damit notwendigen Bündnissen eine Absage zu erteilen.
2. Die „neue Situation“ hat nicht zur Hebung des Klassenbewusstsein in den Kernländern, sondern in Mittel- und Lateinamerika geführt. Die oben unter „Der tatsächliche Verlauf der sozialen Kämpfe“ aufgeführten Erscheinungen scheinen sich nach einer Inkubationsfrist von 10 Jahren von neuem zu bestätigen. Nichts deutet heute auf eine Änderung dieser historischen Bewegung hin. Wenn es heute Hoffnung auf eine Bändigung des Neoliberalismus und der imperialistischen Kriege gibt, so kommt sie wiederum aus der Peripherie – vom bolivarianischen Prozess in Lateinamerika und vom Widerstand in Irak und Afghanistan.
2.4. Karl Marx korrigiert das KM
1881, 33 Jahre nach der Erstveröffentlichung des KM erhält Karl Marx einen Brief von der russischen Revolutionärin Vera ZasuliÄ mit der Bitte, eine Frage um „Leben oder Tod“ der russischen Revolution zu beantworten. Die Frage betraf das „mögliche Schicksal“ der russischen Bauerngemeinden im Verhältnis zur „Theorie der historischen Notwendigkeit aller Länder der Welt, alle Phasen der kapitalistischen Produktion zu durchlaufen“. Marx hat die Frage äusserst ernst genommen, denn es liegen nicht nur mehrere Entwürfe einer Antwort vor, sondern er nahm die Fragestellung auch zum Anlass, im Vorwort der russischen Ausgabe des KM von 1882 darauf einzugehen. Darin schreibt er: „Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen“. Bereits Marx hat also am Ende seines Lebens die Möglichkeit gesehen, dass die Revolutionen nicht in den Zentren, sondern in den peripheren Ländern des Kapitalismus ihren Ausgang nehmen.
Es stellt sich nun die Frage, warum die Geschichte der Klassenkämpfe anders als im KM intendiert verlaufen ist und warum nicht abzusehen ist, dass sie diesen ihren Gang wechselt. Eine Antwort können uns Lenin und Rosa Luxemburg in ihren beiden Schriften geben, die sie zum Thema Imperialismus veröffentlichten: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (Lenin, 1916) und „Die Akkumulation des Kapitals – Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ (Rosa, 1913).
3. Lenin zum Imperialismus
Lenin bestätigt an Hand statistischen Materials die Thesen bürgerlicher und marxistischer Ökonomen, dass der Kapitalismus ab ca. 1900 anders funktioniert als vorher und von einer qualitativ neuen Epoche desselben gesprochen werden müsse. Ich gehe im Folgenden nicht auf die Charakteristiken ein, die er für den Imperialismus beschreibt (Monopole, Verschmelzung des Industrie- und Bankkapitals zum Finanzkapital, Kapitalexport, Aufteilung der Welt unter Monopole und kapitalistische Grossmächte). Es soll das Resümee genügen, das er im Vorwort angibt: „Der Kapitalismus ist zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergrossen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll ‚fortgeschrittener‘ Länder geworden.“ Mich interessieren hier nur die sozialpolitischen Auswirkungen des Imperialismus in den „fortgeschrittenen“ Ländern.
3.1. Die Bestechung
Nach Lenin „schafft der Imperialismus die ökonomische Möglichkeit zur Bestechung der Oberschichten des Proletariats und nährt, formt und festigt dadurch den Opportunismus. … Es ist klar, dass man aus solchem gigantischen Extraprofit (denn diesen Profit streichen die Kapitalisten über den Profit hinaus ein, den sie aus den Arbeitern ihres ‚eigenen‘ Landes herauspressen) die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie bestechen kann. Sie wird denn auch von den Kapitalisten der ‚fortgeschrittenen‘ Länder bestochen – durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte.“ Diese Bestechung sei nicht nur ein Nebenprodukt des Imperialismus, sondern auch ein erklärtes Ziel der Bourgeoisie. Lenin belegt diese offen eingestandene Strategie durch mehrere Quellen. Zwei davon sollen hier genügen, die eines bürgerlichen Ökonomen und eines Politikers, der es wissen muss – den Gründer Rhodesiens.
J. A. Hobson in „Imperialismus“, dem 1902 in New York erschienen Standardwerk über Imperialismus: „Die Gepflogenheit des ökonomischen Parasitismus besteht darin, dass der herrschende Staat seine Provinzen, Kolonien und die abhängigen Länder ausnutzt, um seine herrschende Klasse zu bereichern und die Fügsamkeit seiner unteren Klassen durch Bestechung zu erkaufen.“
Cecil Rhodes, nachdem dieser in London eine Arbeitslosenversammlung besuchte und sich die „wilden Reden“ anhörte: „Der Imperialismus, das habe ich stets gesagt, ist eine Magenfrage. Wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen Sie Imperialisten werden.“
3.2. Der Opportunismus oder die Sozialdemokratie
Lenins Schrift ist zugleich eine Kritik des „Opportunismus“. Sie räumt ihr einen breiten Raum, im Vorwort zur 2. Auflage gar zwei eigene Abschnitte ein. Die Bedeutung des Wortes erheischt allerdings einen Hinweis. Zur Zeit der Niederschrift des Buches war die Spaltung der ArbeiterInnenbewegung organisatorisch noch nicht vollzogen. Die ideologischen und politischen Auseinandersetzungen wogten noch innerhalb der verschiedenen sozialdemokratischen Parteien hin und her. Jene Führer und Theoretiker, welche die Partei in das herrschende System einbinden wollten, wurden dabei als Opportunisten bezeichnet. Die Ideologie, Theorie und Praxis des Opportunismus nahm erst später den Terminus „Sozialdemokratie“ resp. „II. Internationale“ an. Deshalb erscheint nur im Vorwort zur zweiten Auflage, die 1920 gedruckt wurde, der letztere Terminus. Soweit zum besseren Verständnis der Aussagen der vorliegenden Schrift.
Im Kauf der Arbeiterschicht sieht Lenin die Ursachen der Herausbildung der Sozialdemokratie. „Dadurch, dass die Kapitalisten … hohe Monopolprofite herausschlagen, bekommen sie ökonomisch die Möglichkeit, einzelne Schichten der Arbeiter, vorübergehend sogar eine ziemlich bedeutende Minderheit der Arbeiter zu bestechen und sie auf die Seite der Bourgeoisie … hinüberzuziehen. Diese Tendenz wird durch den verschärften Antagonismus zwischen den imperialistischen Nationen wegen der Aufteilung der Welt noch verstärkt. So entsteht der Zusammenhang von Imperialismus und Opportunismus“. Und damit wird auch klar, dass „die Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der Arbeiteraristokratie, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspiessert, die Hauptstütze der II. Internationale und die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie“ ist.
Wenn der Imperialismus die Grundlage für die Herausbildung der Sozialdemokratie bildet, so müsste sich dies vor allem in ihrer Imperialismustheorie bestätigen. In der Tat ist dies der Grund, warum Lenin in seiner Schrift dem Opportunismus so grossen Platz einräumt. Denn sie ist über weite Bereiche nichts anderes als eine Kritik der Imperialismustheorien sozialdemokratischer und bürgerlicher Provenienz. „Besondere Aufmerksamkeit“ schreibt er im Vorwort zur 2. Auflage „ist der Kritik des ‚Kautskyanertums‘ gewidmet, jener internationalen geistigen Strömung, die in allen Ländern der Welt von den ‚angesehensten Theoretikern‘, den Führern der II. Internationale (Otto Bauer und Co. in Österreich, Ramsay MacDonald u.a. in England, Albert Thomas in Frankreich usw. usf.) samt einer Unmenge von Sozialisten, Reformisten, Pazifisten, bürgerlichen Demokraten und Pfaffen vertreten wird“, denn „ohne die ökonomischen Wurzeln des Opportunismus begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der praktischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen.“
Die Kritik der sozialdemokratischen Imperialismustheorie ist nicht Gegenstand dieses Textes. Allein eines frappierenden aktuellen Bezuges willen, soll ein Beispiel herausgenommen werden. Der Hauptagitator für die EU in die Schicht der Lohnanhängigen hinein ist die Sozialdemokratie. Sie war es bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts, um mittels den „Vereinigten Staaten von Europa“ den Frieden zwischen den imperialistischen Nationen Europas herzustellen und „zum ‚Zusammenwirken‘ gegen … die Neger Afrikas, gegen eine ‚islamitische Bewegung grossen Stils‘, zur ‚Bildung einer Heeres- und Flottenmacht allerersten Ranges‘, gegen eine ‚chinesisch-japanische Koalition‘ u.a.m.“. Die offen rassistische Argumentation führt die heutige „Werte-Gemeinschaft“ nicht mehr. Man muss sie herausschälen, zum Beispiel aus dem EU-staatlich festgeschriebenen „Interessensraum“ und dem damit verknüpften Einsatzradius ihrer Eingreiftruppen von 1000 km jenseits der EU-Grenzen (die 1000 km sind vermutlich der Grenzwert der Verdauungsfähigkeit der eigenen Bevölkerung, in der Praxis behandelt die EU bereits den ganzen Globus als ihr „Interessensgebiet“).
4. Die verschobenen Revolutionen
Der Imperialismus als die ökonomische Grundlage der Sozialdemokratie sprang den damaligen Ökonomen und Politikern linker wie bürgerlicher Provenienz offen ins Auge. Stimmt dieser offensichtliche Zusammenhang tatsächlich, so müsste er auch in der Geschichte der Klassenkämpfe bestätigt werden können. Dies soll nun anhand der Klassenkämpfe in jenen Nationen überprüft werden, die nach der Intentionen des KM für Revolutionen prädestiniert gewesen wären.
4.1. England
In England haben wir das damals industriell entwickeltste Land vor uns. Hier entstanden die ersten Gewerkschaften und hier wirkte auch Marx. Doch zu einer revolutionären Situation kam es zu keiner Zeit. Lenin bemerkt dazu, „dass in England die Tendenz des Imperialismus, die Arbeiter zu spalten, den Opportunismus unter ihnen zu stärken und eine zeitweilige Fäulnis der Arbeiterbewegung hervorzurufen, viel früher zum Vorschein kam als Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.“ Er zitiert dann Engels, der bereits 1858 an Marx schrieb, „dass das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so dass diese bürgerlichste aller Nationen es schliesslich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen. Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist das allerdings gewissermassen gerechtfertigt“.
Wenn in England der Imperialismus viel früher Fuss fasste, so müsste auch in England die erste sozialdemokratische Partei heutigen Zuschnitts entstanden sein. Ein Hinweis Lenins führt uns auf die Spur: „Wenn die Führer der heutigen sogenannten ’sozialdemokratischen‘ Partei Deutschlands mit Recht Sozialimperialisten genannt werden, d.h. Sozialisten in Worten, Imperialisten in der Tat, so hat Hobson [siehe oben – FF], bereits 1902 in England das Vorhandensein von Fabier-Imperialisten festgestellt.“ In der Tat entstand bereits 30 Jahre vor dem ‚Sündenfall‘, als die „Opportunisten“ mit der Bewilligung der Kredite für die imperialistischen Kriege die Spaltung der ArbeiterInnenbewegung vollzogen, in England die erste sozialdemokratische Partei heutigen Zuschnitts. 1884 ging aus der „Fabian Society“ die „Social Democratic Federation – SDF“ hervor. Diese bemühte sich im Spagat, die sozialen Wunden der eigenen Arbeiterschaft zu heilen und das Recht auf Kolonien zu verteidigen.
4.2. Deutschland
So wie Engels über das englische Proletariat enttäuscht, so ist er vom deutschen begeistert: „Ich habe mich über die französischen und englischen Arbeiter oft genug geärgert …, aber über die Deutschen seit 1870 nie … Und ich möchte wetten, ich werde nie in den Fall kommen, mich über sie zu ärgern“ (Engels an Conrad Schmidt, 1890). Er schien Recht zu behalten, denn in Deutschland kam es nach 1918 zu einer revolutionären Situation. Eine idealistische Geschichtsschreibung findet die Ursachen vielleicht in einer klassenbewussteren Arbeiterschaft oder in besseren Führern, aber sie würde sich damit nur in den Schwanz beissen: sie sind besser, weil sie besser sind? Sieht Engels den Opportunismus des englischen Proletariats im Kolonialbesitz „gerechtfertigt“, so fehlt diese ökonomische Grundlage in Deutschland. 1899 belief sich der Kolonialbesitz Englands auf 24.2 Mio km2 und eine kolonialisierte Bevölkerung von 309 Millionen Menschen. Die entsprechenden Zahlen für Deutschland sind zur gleichen Zeit (noch 1880 waren sie gleich Null) auf 2.4 Mio km2 und 14.7 Mio Menschen (aus Lenins Schrift). Untersuchungswürdig wäre zudem noch, ob diese Kolonien nicht solche zweiter „Qualität“ waren, da die besten Häppchen schon verteilt waren. Somit fehlten der deutschen Bourgeoisie schlicht die Bestechungsgelder. Dies umso mehr, als ihre Monopole mangels kolonialem Zugriff schlechtere Wettbewerbsbedingungen auf dem Weltmarkt hatten und sie in Form von Rüstung zusätzlich Mittel frei stellen musste (1. und 2. Weltkrieg), um die koloniale „Ungerechtigkeit“ auszubügeln. Die ökonomische Grundlage für die Herausbildung einer revolutionären Situation kann somit im mangelnden Zugriff der deutschen Bourgeoisie auf Extraprofite aus Kolonien gesehen werden.
4.3. USA
Die USA scheinen auf den ersten Blick nicht in die Beweisführung hineinzupassen (hoch industrialisiert, keine Kolonien, also keine Bestechungsgelder, also Revolution). Ein zweiter Blick aber mit der Brille Rosa Luxemburgs erklärt diese Ausnahme hinreichend resp. bestätigt die These. Im Rahmen ihrer Analyse der sog. „Erweiterten Reproduktion“, also des „marxistischen Gesetzes“ der Entwicklung und Stärkung des Kapitalismus, geht sie in einem eigenen Kapitel auf die USA ein und kommt zum Schluss, dass die USA als Siedler-, Raub- und Sklavenstaat ihre „Kolonien“ in ihrem eigenen Garten besassen.
Somit finden die eingangs im Abschnitt „Der tatsächliche Verlauf der sozialen Kämpfe“ aufgeführten Fakten ihre materielle Erklärung in den ökonomischen Grundlagen des Imperialismus. Aber nun möchte ich auch auf die Ausnahme, auf die russische Revolution unter dem Imperialismus-Opportunismus-Aspekt eingehen.
4.4. Russland
Die HistorikerInnen der Oktoberrevolution sind sich einig, dass die Bolschewiki die Revolution im Glauben vorantrieben, damit weitere Revolutionen in den westlichen Ländern auszulösen. Sie waren überzeugt, dass sich ihre Revolution nur unter dieser Bedingung halten könne. Zum Glück haben sie sich verschätzt. Aber nicht um dieses Glückes, sondern um der Lehre für die Zukunft willen, soll gefragt werden, worin die Fehleinschätzung bestand.
1. Lenin unterschätzte die (Über-) Lebenskraft des Imperialismus. Er sah in ihm das Stadium des „Parasitismus und [der] Fäulnis des Kapitalismus“, so der Titel seines 7. Kapitels. Obwohl „es ein Fehler wäre, zu glauben, dass diese Fäulnistendenz ein rasches Wachstum des Kapitalismus ausschliesst“, so geht doch „aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, hervor, dass er charakterisiert werden muss als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus“ (beide Zitate aus dem Schlusskapitel „Der Platz des Imperialismus in der Geschichte“). Nun, sterbend sahen ihn wie erwähnt 60 Jahre vorher bereits Marx und sterbend sahen und sehen ihn bis heute immer wieder Generationen von RevolutionärInnen (siehe oben).
2. Mit seiner Unterschätzung des ökonomischen Potentials des Imperialismus hängt jene des Opportunismus zusammen. Nach ihm werden nur die „Oberschichten des Proletariates“, die „Arbeiterführer und Oberschicht der Arbeiteraristokratie“ und nur „vorübergehend(!) sogar(!) eine ziemlich bedeutende Minderheit der Arbeiter“ bestochen. Und auf dieser Einschätzung scheint er zu bestehen. Er zitiert zwar J. A. Hobson, dessen Buch er im Vorwort als „eine sehr gute und ausführliche Beschreibung der grundlegenden ökonomischen und politischen Besonderheiten des Imperialismus“ bewertet und der von der Bestechung der unteren Klassen spricht (siehe oben), – aber nur um ihn zu kritisieren: „Nur darf man die dem Imperialismus im allgemeinen und dem Opportunismus im besonderen entgegenwirkenden Kräfte nicht vergessen, die der Sozialliberale Hobson natürlich nicht sieht“. Woher dieser Optimismus? Er überträgt den Fäulnisprozess des Imperialismus folgerichtig auf den Opportunismus: „Das Merkmal der heutigen Lage besteht in ökonomischen und politischen Bedingungen, die zwangsläufig die Unversöhnlichkeit des Opportunismus mit den allgemeinen und grundlegenden Interessen der Arbeiterbewegung verstärken … Der Opportunismus kann jetzt nicht mehr in der Arbeiterbewegung irgendeines Landes auf eine lange Reihe von Jahrzehnten hinaus völlig Sieger bleiben, so wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England gesiegt hatte; in einer Reihe von Ländern ist der Opportunismus vielmehr reif, überreif geworden und in Fäulnis übergegangen, da er sich als Sozialchauvinismus mit der bürgerlichen Politik restlos verschmolzen hat.“
3. Der Glaube der Bolschewiki, ihre Revolution würde den Sturz des Kapitalismus zumindest in einigen wichtigen industrialisierten Ländern auslösen und so ihre eigene absichern, basierte vor allem auf der Hoffnung, ihre Revolution würde den Opportunismus isolieren. Dass es gerade Opportunisten, d.h. Sozialdemokraten waren, welche den Aufstand der deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter blutig niederschlugen, kann nur als tragischer Abschluss, als Sieg des Opportunismus in den industrialisierten Länder betrachtet werden, dessen Verlauf mit dem Verrat von 1914 seinen Anfang nahm, d.h. mit ihrem Ja zu imperialistischen Kriegen – zum Imperialismus.
5. Rosa Luxemburg zum Imperialismus
In Lenins Imperialismusschrift benutzten wir nur die sozialpolitische Seite, um die materiellen Grundlagen des Stellungswechsels der Schicht der Lohnabhängigen von der Opposition zur (Sozial-) Partnerschaft mit dem Kapitalismus aufzuzeigen. An Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie interessiert uns nun die „ökonomische“ Seite, da sie ein leninsches Kriterium des Imperialismus, die Unterwerfung und Ausplünderung fremder Staaten und Völker, nicht als Kriterium desselben, sondern als eines dem Kapitalismus inhärentes sieht. Zu diesem Ergebnis kommt sie auf Grund einer Analyse des Marx’schen Schemas der „Erweiterten Reproduktion“.
5.1. Die Akkumulation des Kapitals
Marx charakterisierte die Geburtswehen des Kapitalismus als „Ursprüngliche Akkumulation“ und meint damit die gewaltsamen Enteignungen, die nötig waren, um den Prozess der „kapitalistischen Akkumulation“ in Gang, resp. den Kapitalismus als herrschendes System durchzusetzen. Doch einmal installiert, so meint er, sei es seine ökonomische Überlegenheit, die ihm die Welt zu Füssen legt: „Die wohlfeilen Preise ihrer [der Bourgeoisie] Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schiesst“ (KM). Rosa Luxemburg widerspricht dem und behauptet, der Kapitalismus „vermöge ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden nicht zu existieren“ und sei permanent auf militärische und politische Gewalt angewiesen, um sich neue Wirtschaftsgebiete und Wirtschaftsformen einzuverleiben. Die Frage nach den Entwicklungsgesetzen der kapitalistischen Gesellschaft beschäftigte eine ganze Reihe von Ökonomen verschiedenster Schulen und erst Marx, so Rosa Luxemburg, gelang es, diese mit dem erwähnten Schema zufriedenstellend zu lösen. Es gibt die Bedingungen an, wie der Mehrwert „investiert“ werden muss, damit nicht nur der Einzelkapitalist akkumulieren kann, sondern die Akkumulation des Gesamtkapitals gewährleistet ist. Allerdings kommt sie in der Analyse dieses Schemas zum Schluss, dass das Akkumulationsziel unmöglich realisiert werden kann, wenn als Käufer und Verkäufer der produzierten Waren nur die Kapitalisten selber und die von ihnen beschäftigten Lohnabhängigen in Frage kommen. Daraus ergebe sich der kapitalismusinhärente Zwang, mit ausserökonomischer Gewalt neue Absatzmärkte zu schaffen. Diese können durch Eroberung neuer Gebiete als auch durch Zerstörung immer grösserer Bereiche der Selbstversorgung geschaffen werden. Bei der ersteren, der aussenpolitischen Methode, ist dabei die zweite ein integrierter Bestandteil. Denn die Zerstörung der vorgefundenen sozialen Beziehungen und Produktionskapazitäten in den unterjochten Gesellschaften ist die Voraussetzung, um neue Warenkäufer und Warenproduzenten zu schaffen.
5.2. Kapitalismus ist Imperialismus
Rosa Luxemburg schliesst ihr Buch mit dem Kapitel „Der Militarismus auf dem Gebiet der Kapitalakkumulation“. Ihre Theorie besagt nichts weniger, als dass in den Akkumulationsgesetzen des Kapitalismus selbst die imperialistische Politik, d.h. die Unterwerfung fremder Staaten und Völker mittels politischer und militärischer Gewalt angelegt ist. Rosa wäre nicht Marxistin, wenn sie ihre These nicht auch historisch belegen würde, dass es von China bis in die Türkei die „schwere Artillerie“ von Kanonen und politischer Gewalt brauchte, um anschliessend mit der tatsächlichen „Wohlfeilheit der Waren“ ganze Gesellschaften zu ruinieren. Ihre Analyse erhellt zudem, dass der „Export der Demokratie“ als paralleler Prozess der Unterwerfung nicht nur zynische Rechtfertigungen, sondern ökonomisch bedingt sind. Es geht um die Durchsetzung der „bürgerlichen Rechte“, Käufer, Verkäufer, Schuldner und freier Lohnarbeiter zu werden – und sonntags mit einem Wahlzettel den ganzen Prozess zu legitimieren. Wenn wir an den Jugoslawienkrieg, Irak und die Deindustrialisierung Osteuropas denken, so sehen wir, dass sich nicht nur die Zielsetzungen, sondern auch Mittel des heutigen Imperialismus grundsätzlich nicht geändert haben.
6. Imperialismus und Zivilisation
6.1. Vom Stadt-Land zum Nord-Süd Konflikt
Wenn wir mit Rosa Luxemburg aufgezeigt haben, dass der Imperialismus in seinem Aspekt der Unterdrückung von Völkern und Staaten kein besonderes Stadium des Kapitalismus, sondern ihm inhärent ist, so soll nun noch erwähnt werden, dass es sich beim heutigen Imperialismus nur um die kapitalistische Form eines Herrschaftsverhältnisses zu Völkern und Staaten handelt, das so alt ist wie die Klassenherrschaft selbst. Seine Geschichte führt uns zurück zu den ersten Hochkulturen der Menschheit. In der Aufteilung gesonderter Arbeiten, zum Beispiel in Kopf- und Handarbeit, und deren Zuordnung an Gruppen von Individuen entwickelten sich Ausbeutungsverhältnisse. Eine der ersten, die verschiedenen Gesellschaftsformationen überdauernden Arbeitsteilung, ist jene von Frau und Mann. Es war diese eine Arbeitsteilung innerhalb einer sich selbst verwaltenden Gemeinschaft. Am Anfang der „Kulturgeschichte“ stand aber auch die Arbeitsteilung von Stadt und Land, die sich wie jene von Mann und Frau als Herrschaftsverhältnis über alle Geschichtsformationen hinweg durchsetzte. Beschränkte sich die Herrschaft über das Land anfänglich vermutlich auf die Unterdrückung und Versklavung der „eigenen“ Bauern, so entwickelte sich jede Hochkultur in der Folge zu einer imperialen Macht, die auf Rohstoffe und Menschen aus fremden Länder angewiesen war. Das war damals für das sumerische Reich ebenso lebens- und überlebensnotwendig wie es heute für die USA gilt. Damit entstand aber eine neue „Arbeitsteilung“, die nicht mehr nur innerhalb einer sich selbst verwaltenden Gemeinschaft „zugeordnet“ wurde und zu entsprechenden Klassen dieser Gesellschaft führte, sondern die ganze Völker und Staaten als „Subjekte“ der Zuordnung betraf. So muss wohl als Beispiel die Sklaverei nicht nur, wenn nicht weniger, als Produkt einer Klassenspaltung innerhalb einer eigenen staatlichen Gemeinschaft, als vielmehr der Ausbeutung und Versklavung von Menschen eroberter Länder gesehen werden.
6.2. Der imperiale Konsens
Die Geschichte des Menschen als eine Geschichte der Klassenkämpfe war auch immer eine Geschichte von unterdrückten Völkern gegen imperialistische Mächte. Die Eroberung und Unterdrückung fremder Völker setzt aber in den Zentren des Imperialismus materielle und rechtliche Zugeständnisse an die eigene Bevölkerung, die Ruhe an der Heimatfront, voraus. Ich nenne dies die Basis des imperialen Konsenses, auf dem die imperiale Ideologie (je nach ihrer Tagesaufgabe Rassismus, Antikommunismus, Terrorismus, freier Markt, etc.) ihre Wirkung entfalten kann. Die Zugeständnisse sind dabei nicht etwa zum voraus definiert, sondern das Resultat von „Verhandlungen“. Diese werden zwar von den Angehörigen der verschiedenen Klassen (z.B. zwischen Plebjern und Adligen in Rom oder zwischen Lohnabhängigen und Kapitalisten) als Kampf um die eigenen Interessen verstanden und geführt. Aber all die zigtausend Jahre Kämpfe einbezogen, sehen wir, dass ihre Ergebnisse zugleich die Voraussetzung für den Konsens zu einer imperialen Politik und damit zur Festigung der Klassenherrschaft darstellten, da und insofern sie (es gibt Ausnahmen) die imperiale Frage ausklammerten. Dass das Ergebnis von Kämpfen nicht mit den Intentionen der Kämpfenden übereinstimmen muss, zeigen gerade jene in den imperialistischen Zentren nach dem zweiten Weltkrieg. Obwohl sie zum Teil sehr hart und mit kämpferischen Tönen geführt wurden, aber den damaligen entscheidenden imperialen Konsens des Antikommunismus und des Neokolonialismus nicht brachen, waren sie als Ergebnis nur ein Streit um den „Lohn“, den die Lohnabhängigen für ihre Zustimmung zum Burgfrieden einforderten und die Kapitalisten dafür zu zahlen bereit waren. Die sozialen Fortschritte wurden durch eine intensivere Ausplünderung in den kapitalistischen Peripherien erkauft. Das Resultat kennen wir: eine Zementierung und Vertiefung der sog. Sozialpartnerschaft, die am Ausgang des Jahrhunderts als Einverständnis zum NATO-Angriff auf Jugoslawien ihren vorläufigen Höhepunkt fand.
6.3. Die Demokratie
Nicht expliziert werden muss, dass unser Lebensstandard vor allem auf prekärsten Arbeitsverhältnissen, bis hin zu Hunger und Tod, in der 3. Welt beruht. Erklärt werden muss, dass auch unsere „Freiheiten“ einerseits ihr notwendiges Pendant in den Unfreiheiten dieser Länder haben und andererseits zum imperialen Konsens gehören. Zwar ist die Geschichte über den Zusammenhang zwischen Imperialismus und „universalen Menschenrechten“ noch nicht geschrieben, aber einige zentrale Schnittpunkte können wir andeuten. So ist die freiheitlichste Verfassung der Welt, die amerikanische, auf einem Kontinent voller Leichen von Indigenen errichtet worden; so hat die bürgerliche Revolution mit ihrem den ganzen Westen mitreissenden Slogan „alle Menschen sind gleich“ nicht zur Befreiung der Kolonien, sondern zur Verschärfung ihrer Auspressung geführt. Und der „demokratische Stützpunkt“ der westlichen in der arabischen Welt, Israel, findet seinen inneren Konsens in der ethnischen Säuberung Palästinas. Doch auch in Israel finden soziale Kämpfe inklusive Streiks statt. Wann führen sie zu einem anderen Ergebnis als zum imperialen Konsens? Wann sind sie „revolutionär“ und nicht mehr opportunistisch? Es scheint, dass gerade die Durchsetzung grosser imperialistischer Ziele einen „demokratischen Konsens“ in ihren Zentren bedingen. Als Test oder als Beispiel wollen wir jenes Dokument lesen, das als erstes Zeugnis der Geburt der Demokratie, des zivilisatorischen Durchbruchs gewertet wird – die „Orestie“ von Aischylos. Denn in dieser griechischen Tragödie wird Menschen zum ersten Male erlaubt, gleichberechtigt neben Göttern zu Gericht zu sitzen. Der Mensch urteilt zum ersten mal über sich selbst. Christa Wolf hat den Stoff in ihrem Roman „Kassandra“ benutzt, weil er die Entmachtung der Frau erzählt. Eine zweite Leseart der Orestie ist möglich und vielleicht ist das kein Zufall. Kurz: Der Schlussteil der Tragödie beschreibt, wie ein Gericht den Muttermörder Orestes frei spricht und die Rachegöttinnen, welche unter anderen die Rechte der Frauen verteidigen, in ihrer Funktion absetzt. Das Urteil setzt der Blutrache ein Ende und beendet damit den unsäglich langen und die Götter und die menschliche Gesellschaft entzweienden tödlichen Streit. Von nun an kann gemäss Pallas Athene, der Gerichtsvorsitzenden, in göttlichem und menschlichem Frieden die Zukunft gestaltet werden. Interessant ist nun zweierlei: Pallas Athene ist für die Beendigung dieses tödlichen Zwistes extra vom Schlachtfeld in einer fernen Kolonie herangereist. Und die Rachegöttinnen erhalten eine neue Aufgabe, sie werden zu Schutzgöttinnen der griechischen Kolonien ernannt!
Obwohl pervers, ist es nur folgerichtig, wenn jene Konsense, die den inneren Zusammenhalt für die Aggressionen herstellen, als Argumente für die Kriege und politischen Diktate (z.B. die Good Governance-Kriterien der Weltbank und OECD) gegen die „Barbaren“ eingesetzt werden. Denn damit können die ökonomischen Interessen kaschiert, die Überlegenheit der eigenen Zivilisation (man spricht heute nicht mehr von Rassen) begründet und die Unterwerfung und Unterdrückung als Akte im Dienste der Menschenrechte erklärt werden. Die Feldzüge gegen die „Diktatoren“ Hussein und Milosevic sind nur die neuesten Musterbeispiele.
7. Drei Thesen zur „nordischen“ Linken
1. Aus der allgemeinen tausendjährigen Geschichte und der spezifisch 160-jährigen Geschichte der kommunistischen Bewegung heraus ist von der Vorstellung Abstand zu nehmen, dass soziale Kämpfe in den Zentren der Imperien zu politischen werden, wenn sie nicht mit dem imperialistischen Konsens brechen. Der Antiimperialismus allein bildet die Garantie, dass diese Kämpfe nicht zu opportunistischen werden.
2. Der Kapitalismus wird so lange nicht zusammenbrechen, als es ihm möglich ist, aus den unterdrückten Ländern und Völkern Extraprofite herauszupressen und diese neben der Bereicherung der eigenen Klasse für die Aufrechterhaltung des Opportunismus einzusetzen. Vorstellungen und Strategien zu einer Revolution in den Kernländern des Imperialismus als Vorbedingung für die Überwindung des kapitalistischen Systems sind voluntaristisch-idealistischer Natur. Sie sind zudem antirevolutionär, weil die ihnen entsprechende Praxis und Ideologie darauf hinausläuft, die Kämpfe gegen den Imperialismus als „Nebenwidersprüche“ zu behandeln.
3. Die Hauptaufgabe der „nordischen Linke“ besteht darin, die antiimperialistischen Kämpfe in den peripheren Ländern zu unterstützen und zu verhindern, dass die eigene Bourgeoisie diese Bewegungen niederschlägt. Dazu müssen die sozialen und politischen Kämpfe im eigenen Land mit jenen im Süden verbunden werden. Diese Kämpfe müssen deshalb auch um das Bewusstsein geführt werden, dass der eigene Erfolg nur mit der Schwächung des Imperialismus abgesichert wird und die antiimperialistischen Kämpfe eine Voraussetzung der eigenen Befreiung sind.
8. Für ein antiimperialistisches Bündnis
8.1. Das antiimperialistische Bündnis bis 1989
Der Imperialismus erlitt seine erste grosse Niederlage mit der russischen Revolution. Zum ersten mal erhielten die Völker und Staaten des Südens einen Partner im Norden, der sich nicht an ihrer politischen, ökonomischen und kulturellen Unterwerfung beteiligte. Im Gegenteil, die Sowjetunion und die nach dem 2. Weltkrieg entstandenen sozialistischen Staaten unterstützen durchwegs ihre Bemühungen, sich vom Kolonialismus und Neokolonialismus zu befreien. Während Jahrzehnten sahen wir die sozialistischen Staaten stets auf der Seite der Befreiungsbewegungen und den Westen auf jener der Diktaturen und reaktionären Regimes. Die sog. Ost-West-Blockkonfrontation war gleichzeitig ein antiimperialistisches Nord-Süd Bündnis zwischen den sozialistischen Staaten und den Ländern des Südens. Die Entkolonialisierungs- und Befreiungsbewegungen sind ohne dieses Bündnis undenkbar. Unter seinem Schutze entstanden auch die ersten Formen der „Süd-Süd Kooperation“, wie sie heute wieder und insbesondere von Venezuela gefordert und aufgebaut werden. Dazu gehörten als Beispiele auf der politischen Ebene die Organisation der „Blockfreien Staaten“, in der sich 118 Länder des Südens zusammenschlossen und auf der wirtschaftlichen die Bildung verschiedener Rohstoffkartelle, deren bekanntestes die OPEC ist.
Die Kämpfe und Siege, die dieses antiimperialistische Bündnis im Süden ermöglichte, übertrugen sich auf den Norden. Der Ölschock von 1972, ausgelöst durch die OPEC, welche eine Vervierfachung des Ölpreises von drei auf zwölf Dollar durchsetzte und die militärische Niederlage zuerst Frankreichs und dann der USA in Vietnam, beendete die Aufschwungphase des Nachkriegskapitalismus. Ohne Ho Chi Minh, Che, Arafat, … um einige Symbolträger dieser Bewegung, und Jean Paul Sartre als einer dessen Bewunderer, zu nennen, hätte die 68er Bewegung nicht ihre Ausstrahlung und politische Reife erreicht. Ihre Erfolge – die grössten sozialen Fortschritte seit Beginn des „Kalten Krieges“ wurden in dieser Zeit errungen – bestätigen die eingangs aufgestellten Thesen, dass der revolutionierende Input vom Süden kommt und der Kapitalismus nur in einem antiimperialistischen Kontext geschwächt wird. Denn diese Kämpfe waren solidarisch aufs Engste verbunden mit den Kämpfen im Süden. Sie führten in Frankreich gar an den Rand des Bürgerkrieges, zur Flucht General De Gaulles.
Der Fall der Berliner Mauer signalisierte das Ende dieses Bündnisses. Mit ihm ist aber nicht nur der Beginn des Angriffes auf die sozialen Errungenschaften bei uns datiert, sondern auch die „Rückeroberung“ der Länder des Südens, nun vermehrt um jene der ehemaligen sozialistischen Staaten im Osten.
8.2. Die „Neue Weltordnung“
Der Neoliberalismus wurde 1973 in Chile mittels Bajonetten zwangsgeboren. Sein durchschlagende „Erfolg“ (innerhalb eines Jahres wurden 85% der Bevölkerung unter die Armutsgrenze getrieben) erleichterte seinen Siegeszug über den ganzen Erdball. Aber freie Fahrt für seine imperialen Ziele erhielt er erst nach 1989 mit dem ersten Irakkrieg 1991. Offen verkündete Bush Senior nach dem militärischen Sieg die „Neue Weltordnung“ und damit den Kriegsgrund und das Kriegsziel: Den Völkern der Welt sollte gezeigt werden, wo’s lang geht und dass Widerstand sinnlos ist. Statt atomarer Abrüstung und Demilitarisierung, der Hoffnung vieler nach dem Ende des „Kalten Krieges“, wurde aufgerüstet, das GATT zur WTO, einem nicht legitimierten, über der Souveränität der Staaten stehenden Exekutiv- und Justizorgan umgebaut (1994), die Weltbank und der IWF als Vögte der imperialistischen Mächte umfunktioniert und UNO zur Schwatzbude und zum Feigenblatt der NATO degradiert. Formulierten im Wesentlichen die Profitinteressen der Konzerne diesen Prozess, so übernahmen die USA auf Grund ihrer militärischen Macht als Weltpolizist seine politische Umsetzung und konnten damit ihr eigenes Ziel nach alleiniger Weltherrschaft verfolgen. Um an der entfesselten Ausplünderung der Reichtümer der Völker des Südens ein Wort mitreden zu können, waren die europäischen Eliten gezwungen, ihr Gezänk untereinander zu beenden. In Eilschritten und über die Köpfe der europäischen Völker hinweg wurde die Europäische Gemeinschaft (EG) in die EU überführt (Vertrag von Maastricht 1992).
Die Völker und Staaten mussten nicht im Kaffeesatz lesen, was die „Neue Weltordnung“ für sie bedeuten würde. Es wurde ihnen in hunderten von Think-Tanks-Analysen und Grundsatzerklärungen der US-Regierung auf den Tisch geknallt. Nach all diesen Dokumenten ist die Welt erst befriedet, wenn die nach dem Kollaps von 1989 verbliebenen Grossmächte China, Indien und Russland nach der Pfeife der USA und ihres Neoliberalismus tanzen. Auf diesem Wege stelle aber der von Marokko bis Neu Guinea reichende muslimische Block das grösste Hindernis dar, weil er zugleich die Gegenwerte einer freiheitlichen Zivilisation verkörpere und der westlichen Werte-Gemeinschaft den Krieg erklärt habe.
Doch der Teminkalender der Umsetzungsgruppe, im Wesentlichen ein Bündnis der Neocons und der zionistischen Elite in den USA und Israel, ging von einem Szenario aus, dass die „Irakdemonstration“ von 1991 überzeugend genug gewesen sei, sich freiwillig dem Neoliberalismus und den USA zu unterwerfen. Doch bereits Mitte der 90er zeigte sich, das diese Rechnung ohne den Wirt gemacht wurde. Der militärische Sieg und selbst die grausame Blockade gegen Irak führte nicht zum Wechsel des Regimes, die WTO-Verhandlungen scheiterten am Nein der Staaten des Südens, symoblträchtig erfolgte der Aufstand der Zapatisten am Tag der Inkraftsetzung der nordamerikanischen „Freihandelszone“ NAFTA, weltweit formierte sich in der Antiglobalisierungsbewegung der Widerstand gegen den Neoliberalismus „von Unten“, Kuba überwand politisch gestärkt die Notstandsperiode, 1998 wurde Chávez gewählt und jene von Lula stand vor der Tür, der Oslo-Prozess führte statt zur „Befriedung“ des Nahen Ostens zur Intifada, etc. ff.
Der Anschlag vom 11.9.2001 war der Versuch, mit einem Befreiungsschlag aus dieser Defensive herauszukommen. Ein „Krieg gegen den Terror“ sollte den USA freie Hand geben, militärisch gegen unbotmässige Regimes vorzugehen und den Widerstand dagegen mit Überwachungs- und Repressionsmassnahmen auszuschalten. Der Angriff auf Irak und Afghanistan galt der muslimischen Welt und zugleich der Vorverlegung des Aufmarschgebietes für die letzte Schlacht um Harmaggedon. Es ist schlussendlich dem irakischen und anschliessend dem afghanischen Widerstand zu verdanken, dass dieser Befreiungsschlag in einem doppelten „Desaster“ endete. Erstens wurden damit mehrere andere Länder von der Bombardierung und atomaren Bestrahlung ihrer Bevölkerung und von der Ruinierung ihrer Wirtschaften verschont und zweitens konnten sich bis jetzt die revolutionären Prozesse in Lateinamerika ohne direktes Eingreifen der USA entwickeln.
8.3. Das neue antiimperialistische Bündnis
Es bleibt den betroffenen Völkern und ihren Regierungen gar keine andere Wahl, als sich zur Wahrung ihrer Souveränität gegen die imperialistischen Anmassungen enger zusammen zu schliessen. Dieser Prozess hat bereits begonnen, ist und wird aber ein lang andauernder sein, der auch Rückschläge mit einschliessen wird. Denn die imperialen Mächte werden mit Zuckerhut und Peitsche alles für ihr „Divide et impera“ einsetzen. Zudem behindern wirtschaftliche Interessengegensätze und unterschiedliche gesellschaftliche Zielvorstellungen unter den betroffenen Völkern selbst diesen Prozess. Und schliesslich werden sich Teile ihrer eigenen Machteliten (Bourgeoisie und von Aussen bezahlte und korrumpierte Schichten) ihn zu sabotieren versuchen. Trotzdem zeigen sich heute schon die Konturen eines antiimperialistischen Bündnisses bereits auf staatlicher, wirtschaftlicher, kultureller und zivilgesellschaftlicher Ebene. Es äussert sich in staatlichen Verträgen (z.B. die „Shanghai Cooperation“ als militärisches Bündnis zwischen China und Russland), in wirtschaftlichen Abkommen (z.B. der „bolivarianischen Staaten mit Russland, China und Iran) und in Dokumenten und Handlungen von Organisationen und Individuen. Als Beispiel für die letztere Äusserungsform soll eine Gratulationsbotschaft an Hugo Chávez zu seinem Wahlsieg vom 3. Dezember 2006 dienen: „Im Namen des Irakischen Widerstands und der Nationalen Patriotischen Islamischen Front (NPIF) überbringen wir unsere herzlichen Glückwünsche zu Ihrem grossartigen Sieg. Er ist ein bemerkenswerter Erfolg nicht nur für Venezuela, sondern für die gegen den Imperialismus kämpfenden unterdrückten Massen auf der ganzen Welt.“ Die venezuelanische Antwort kann man auf T-Shirts von SlumsbewohnerInnen in Caracas lesen, in Anlehnung an Che’s „Schafft zwei, drei, viele Vietnams“ zum Beispiel „Palästina – Irak: Intifada global“.
Die konkrete Tagesaufgabe dieses Bündnisses besteht nicht in der Errichtung des Sozialismus, sondern darin, dass es dem Imperialismus nach 1989 nicht gelingt, wieder bei 1914 anzufangen und die Welt mit Blut und Rassismus zu überziehen. Für das Recht und die Pflicht, gegen dieses Szenario anzukämpfen gibt es keine ideologischen oder religiösen Ausschlusskriterien – es ist das Recht der Unterworfenen schlechthin, das übrigens die Nürnberger Prozesse als Ergebnis der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und des antifaschistischen Widerstandes legitimieren mussten. Inwieweit sich der Sozialismus, die unserer Überzeugung nach notwendige Voraussetzung für eine Welt ohne Ausbeutung und Ausplünderung, durchsetzt, hängt davon ab, inwieweit er zum Bündnispartner im Kampf gegen den Imperialismus wird. Wenn, dann wird sich der Sozialismus im und mit dem antiimperialistischen Kampf durchsetzen. Das ist keine Spekulation, sondern bereits bestehende Praxis.
Ein Aufstand der Armen, ihr Gedächtnis an die Befreiungskämpfe ihrer vorangegangenen Generationen und ein kleines gallisches Dorf mit einem Asterix haben Lateinamerika in doppelter Hinsicht zum „Kontinent der Hoffnung“ werden lassen. Erstens bezeugt er, dass der Widerstand der Unterdrückten immer wieder in einen Kampf um Sozialismus mündet. Der Weltruf „eine andere Welt ist möglich“ hat sich als Rückzugsdevise gerade zehn Jahre halten können und muss heute der Parole „eine sozialistische Welt ist nötig“ weichen. Zweitens haben Kuba, Venezuela und Bolivien im unausweichlichen Kampf gegen den Imperialismus den sozialistischen Part eines weltweiten antiimperialistischen Bündnisses übernommen. Das gibt Mut zur Hoffnung auf die Wiedergeburt einer sozialistischen Weltbewegung. Das Bündnis ist für die genannten Länder eine Frage des Überlebens der eigenen Revolution. So fehlten zum Beispiel Venezuela ohne die von ihm vorangetriebene Wiederbelebung der OPEC die Gelder für die sozialen Programme, zur Diversifizierung der Wirtschaft und Unterstützung Kubas und anderer Drittweltländer, die sich aus den Fängen der USA befreien möchten. Die OPEC-Politik ist aber nur ein Teil des Süd-Süd Projektes, das darauf abzielt, die Länder des Südens gegenüber dem Norden zu stärken. Es umfasst nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch kulturelle Bereiche wie zum Beispiel die Zusammenarbeit der lateinamerikanischen TeleSur mit Al Jazeera. Die Grundlage dieses Bündnisses beruhen auf der staatlichen Ebene auf der Respektierung der gegenseitigen Souveränität. Dies gilt es zu akzeptieren. Damit wird eine Kritik der jeweiligen Regimes nicht ausgeschlossen, sie kann zum Beispiel in der Unterstützung von Streiks in Iran notwendig sein. Hier soll an einem Beispiel gezeigt werden, welchen Dienst allein dieses staatliche Bündnis für die Verbreitung sozialistischer Ideen leistet. 26 Millionen AraberInnen schalteten sich in ein Interview ein, das der Chefredaktor von Al Jazeera mit Chávez führte. Darauf erhielt die Redaktion über 1000 Emails, wovon die Hälfte nur eine Frage enthielten: „Wann bringt die arabische Welt einen Führer wie Chávez hervor?“
Allein, sollen die sozialistischen Kräfte innerhalb dieses Bündnisses gestärkt werden, so muss auch die Linke im Norden ihren Beitrag leisten. Darin tut sie sich schwer. Einige reklamieren dafür programmatische Übereineinkunft, andere sympathisieren zwar mit der bolivarianischen Revolution, blenden aber ein konstituierendes Element derselben, eben dieses antiimperialistischen Bündniss, aus oder kritisieren es gar.
8.4. Das antifaschistische Bündnis
Rosa Luxemburg schrieb 1915 mitten in der Abschlachterei des 1. Weltkrieges im Kapitel „Sozialismus oder Barbarei“ ihres Buch „Die Krise der Sozialdemokratie“: „Wir stehen heute, genau wie Friedrich Engels vor vierzig Jahren voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur … oder Sieg des Sozialismus, d. h. der bewussten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder – Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluss des klassenbewussten Proletariats.“ Heute wissen wir, dass die Geschichte einen komplizierteren Verlauf genommen hat. Die Alternative zur Barbarei setzte sich einzig im zaristischen, im kapitalistisch unterentwickelten Russland durch, während die Niederlage der sozialistischen Kräfte in den europäischen Kernländern des Kapitalismus in der Tat zur Barbarei, zum Faschismus führte. Im Kampf gegen diese Barbarei erwies sich nun das in Rosas Analyse intendierte und von der Kommunistischen Internationale 1928 geschmiedete Bündnis als zu schwach. Es brauchte die Rückweisung der ihm zu Grunde liegenden Sozialfaschismusthese (Georgi Dimitrow 1935), um in den Kampf gegen den „Untergang jeglicher Kultur“ alle Kräfte einzubinden. Es wurde keine andere programmatische Übereinkunft mehr vorausgesetzt als jene des Antifaschismus. Dieses Bündnis bestand auf staatlicher Ebene aus der UdSSR und den kapitalistischen und imperialistischen Grossmächten. Es fand seine Ergänzung an der Basis in der Zusammenarbeit sozialistischer und kapitalistischer WiderstandskämpferInnen. Auch Aktionen von extrem rechter Seite wurden als Beitrag gegen den Faschismus positiv gewertet. So veröffentlichte die KPD nach dem Attentat eines Teils der reaktionärsten Generalität (sie stammte u.a. aus dem preussischen Feudaladel) vom 20. Juli 1944 eine Pressemitteilung, in der sie das Attentat begrüsste.
Noch von keinem „humanitären“ Linken habe ich bis heute gehört, dass dieses Bündnis nicht hätte eingegangen werden dürfen. Gibt es eine andere Begründung, als dass mit der Beseitigung des Faschismus die „Zivilisation“ an sich gerettet und damit die Voraussetzungen erhalten werden sollten, damit der Mensch seine Zukunft, auch in seinen Klassenkämpfen, weiterhin selbst bestimmen kann? Ähnlich begründete Bündnisse existierten übrigens im Kampf gegen die atomare Bewaffnung und werden gegen den drohenden ökologischen Kollaps gefordert. Wenn die Erhaltung der Zivilisation das antifaschistische Bündnis rechtfertigte, warum ist dann ein antiimperialistisches Bündnis nur über ein sozialistisches Programm möglich? Muss die Barbarei in den peripheren Ländern noch grösser werden? Heute sind dies ungefähr 20’000 „WTO-Tote“ pro Tag. Die Anzahl der Opfer übersteigt schon längst diejenige des 2. Weltkrieges. Sind wir also nur für klassenübergreifende Bündnisse bereit, wenn es um unsere eigene Haut geht? Wie viel wertvoller ist demnach nördliches Blut als südliches?
Das heutige antifaschistische Bündnis ist das antiimperialistische, welches die mittels Militärstiefel und WTO-Fesseln unterdrückten Völker zur Zeit schmieden.
– Wir können es bekämpfen und dadurch zum Sprachrohr des Imperialismus innerhalb der linken Bewegung werden. Denn seine Kritiker argumentieren im Kern gleich wie die Möchtegern-Diktatoren der Welt: mit Menschenrechten! Der imperiale Konsens kam zum Beispiel in den Demonstrationsvoten gegen den Jugoslawien- und Irakkrieg offen zum Vorschein: „Gegen NATO-Bomben und Milosevic“ und „No to Saddam – No to Bush“. Völlig korrekt bezeichnete Bush die Demonstrationen gegen den Krieg denn auch als Beweis für das Funktionieren der westlichen Demokratie, als einen Grund mehr, sie weltweit durchzusetzen.
– Wir können es ignorieren und uns dadurch statt zu Mitgestaltern zu Zuschauern der Geschichte degradieren.
– Wir können bewusst Teil desselben werden und dadurch die an ihm beteiligten fortschrittlichen Kräfte stärken.
Wie wir auch zu ihm stehen, unsere eigenen Möglichkeiten der politischen Einflussnahme sind schon und werden je länger je mehr von diesem Bündnis bestimmt. Denn dadurch, dass dieses Bündnis den Glauben an die militärische Unbesiegbarkeit zerschmettert hat, hat es auch die Drohungen relativiert, die neoliberalen Direktiven auf Leben oder Tod schlucken zu müssen. Der anti-neoliberale Wind in Lateinamerika wird auch unsere Segel auffrischen.
Dieses Bündnis bestimmt auch bereits unser materielles Leben und damit die Zukunft unserer sozialen Kämpfe in bedeutenderem Umfange als Hartz IV oder die „Sparmassnahmen“ im Service Publique. Denn was in den 70er und 80er Jahren noch ein Appell von DrittweltaktivistInnen und einigen wenigen AntiimperialistInnen war, zur Lösung der weltweiten Ungerechtigkeit unseren Wohlstand zurückzunehmen, erleben wir heute in der Finanzkrise als „Diktat“ des Südens. Was bürgerliche Analysten, Kommentatoren und Gastprofessoren der Medien nicht thematisieren wollen und was leider ein Grossteil der nordischen Linke in ihrem Eurozentrismus nicht sehen kann, ist genau dieser Aspekt der heutigen Finanzkrise. Denn neu an dieser seit 200 Jahren periodisch wiederkehrenden Krise ist einzig, dass im Unterschied zu den Finanzkrisen nach 1989, zum Beispiel der Mexiko- (1994), Asien- (1997) und der Russlandkrise (1998), die Rechnungen des Finanzkapitalismus nicht mehr den peripheren Ländern gestellt werden können. Milliarden von Dollars wurden damals aus diesen Ländern abgeführt, um die Löcher zu stopfen. Dabei wurden ihre Wirtschaften ruiniert und Millionen von Menschen in Armut und Elend gestürzt. Die „Stützungsprogramme“ unserer Regierungen sind zwar eine Provokation gegenüber den Lohnabhängigen, sie sind aber auch die Folge des „Bescheids“ des Südens: „Diesmal zahlt ihr eure Schulden selber!“. Wollten wir der überwiegenden Mehrheit unserer Bevölkerung klaren Wein einschenken, so müssten wir ihnen sagen: „Mitgegangen, mitgefangen“! Sie aus dieser Mitgefangenschaft zu befreien, sie aus liberaler bis sozialdemokratischer und grüner Gefolgschaft herauszulösen, ist die Aufgabe einer revolutionären Linken. Sie ist per definitionem nur auf antiimperialistischer Grundlage möglich.
8.5. Der Weg zum Sozialismus
Wir haben gesehen: sowohl die revolutionären Bewegungen der vergangenen 160 Jahre als auch die vor unseren Augen sich entwickelnden neuen Revolutionen entstanden im Kern aus antiimperialistischen Kämpfen oder, sofern sie sich im Norden entwickelten, erhielten ihre Kraft aus den Kämpfen in Ländern der „Peripherie“. Der Antiimperialismus war und ist der Motor und der Transformationsriemen hin zum Sozialismus. Nur er verhindert den Kompromiss zwischen Imperialismus und „seinen“ Werktätigen, die Sozialdemokratisierung der eigenen Bevölkerung, der sowohl ausgebeuteten und zugleich vom Imperialismus profitierenden Massen. Sowohl aus der Systemanalyse des Kapitalismus als Imperialismus als auch aus der historischen Analyse ergibt sich eigentlich schlüssig die Unterstützung des neu sich formierenden antiimperialistischen Bündnisses. Es soll zum Abschluss nochmals auf die Vorbehalte gegen dieses Bündnis eingegangen werden, die sich aus emanzipatorischen Überlegungen herleiten. Dass diese für das antifaschistische Bündnis nicht ausschlaggebend waren, wurde bereits erwähnt. Nun soll an diesem Bündnis noch aufgezeigt werden, dass die Geschichte ein dynamischer Prozess ist, dessen Ergebnisse nicht vorausbestimmt werden können.
1. Das antifaschistische Bündnis hat die sozialistischen Kräfte gestärkt. Zeugnis davon sind der Aufschwung der kommunistischen und der nationalen Befreiungsbewegungen und die Bildung des sozialistischen Weltsystems nach dem zweiten Weltkrieg. Diese Perspektive war aber 1935 keineswegs absehbar. Erst im und mit dem antifaschistischen Widerstand wurden trotz Mitwirkung kapitalistischer Kräfte die antikapitalistischen gestärkt. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 lesen wir, dass „das kapitalistische Wirtschaftssystem den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden ist“. Solcherart mussten nach dem Sieg gegen den Faschismus die Anbiederungen sein, um einen Systemwechsel zu verhindern! Grund für die Verschiebung des Kräfteverhältnisses innerhalb dieses Bündnisses war neben der Beteiligung der sozialistischen Kräfte die enge Verbundenheit von Faschismus und Kapitalismus. Konsequenter Antifaschismus musste zum Antikapitalismus führen. Im antiimperialistischen Bündnis sind diese beiden Bedingungen ebenfalls gegeben: seine Unterstützung durch sozialistische Kräfte und die unlösbare Einheit von Imperialismus und Kapitalismus. Nun, auch den Ausgang der heutigen antiimperialistischen Kämpfe kennen wird nicht. Wer aber erst dann kämpfen will, wenn die Schlacht als gewonnen erscheint, der ist nichts weniger, aber vielleicht mehr als ein Opportunist.
2. Wie alle Vergleiche, hat auch der Vergleich von Antifaschismus und Antiimperialismus seine Grenzen. Auf einen wesentlichen Unterschied soll hier hingewiesen werden. Im antifaschistischen Bündnis kämpfte der kapitalistische Part gegen die Auswüchse des Kapitalismus oder gegen die die „freien Marktkräfte“ hemmenden Diktaturen – in beiden Fällen für einen Status quo ante. Dies gilt für den Kampf der Völker gegen Fremdherrschaft nicht. Seit 600 Jahren leben sie nun in kolonialer und neokolonialer Unterwerfung. Das Zerreissen dieser Fesseln wird eine menschheitsgeschichtlich Zäsur bringen, deren Auswirkungen schlicht nicht abschätzbar sind. Unabhängig davon, welche gesellschaftlichen Regimes in den einzelnen Länder vorübergehend (! wir sind noch nicht am Ende der Geschichte angelangt) an die Macht kommen, es stellte in der Perspektive der 6000 jährigen Geschichte des auf Sklaverei, Feudalismus oder Kapitalismus basierenden Imperialismus einen zivilisatorischen Fortschritt dar. Datierte Marx den Beginn der eigentlichen, nämlich der selbstbestimmten Geschichte des Menschen mit dem Beginn des Kommunismus, so würde die volle Souveränität der Staaten erst den Beginn der Geschichte der „Vereinten Nationen“ einläuten.
3. Mit Sozialismus bezeichnen wir jenen gesellschaftlichen Zustand, zu dem hin die seit Menschengedenken geführten Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung und für Gleichheit und Würde tendieren. Marx hat diesen uralten Traum nach Gemeinschaft – Kommune – Kommunismus nur dahingehend spezifiziert, dass er ohne Änderung der Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln nicht wahr werden kann. Die Geschichte der Siege und Niederlagen der sozialistischen Revolutionen und sozialen Bewegungen zeigt nun, dass die Verwirklichung dieses Traumes noch immer an den staatlichen Rahmen gebunden ist. Zeigte ich bis anhin, dass alle siegreichen Revolutionen nach dem zweiten Weltkrieg aus antiimperialistischen Befreiungskämpfen hervorgingen, so gilt es nun noch zu ergänzen, dass der Süden unzählige Niederlagen erlitt, weil die Revolutionen durch den Imperialismus, allen voran durch die USA, erwürgt und zerschlagen wurden. Nicaragua, Chile, Kongo, Ägypten, Iran, Indonesien, Afghanistan, … die Liste läst sich fast beliebig fortsetzen. Ohne die Kraft des Imperialismus würde sich heute ein Netz von sozialistischen oder sozial-liberalen Staaten über Lateinamerika, Afrika, Naher und Fernen Osten hinziehen. Nun, das antiimperialistische Bündnis kann sein Ziel, das Recht der Länder auf Selbstbestimmung, nur in der Schwächung des Imperialismus erreichen. Das heisst aber nichts anderes, dass die Hoffnung, ja die Wahrscheinlichkeit wächst, dass die auch von der eigenen Bourgeoisie unterdrückten Massen des Südens, ihre Kämpfe erfolgreich bestehen können. Auch wenn – und nochmals betone ich: vorübergehend – reaktionäre Regimes die ersten Sieger der Befreiung sind, so sind wir damit unserem Ziel einer sozialistische Welt trotzdem näher gekommen. Unser Vertrauen in den Sinn unserer Kämpfe gründet schlussendlich in der Überzeugung, dass die unterdrückten und ausgebeuteten Massen ihren Schlüssel zur Befreiung selber finden werden. Dieses Vertrauen haben wir allen Menschen zuzugestehen – auch jenen, die Morgen vielleicht noch eine Regierung wählen, die nicht unserem Geschmack entspricht.
Der Kampf gegen den Imperialismus findet heute und jetzt statt. Er ist allein auf sozialistischer Programmatik nicht zu gewinnen und erhöht trotzdem die Chancen einer sozialistischen Umwälzung. Das haben Kuba, Venezuela und Bolivien begriffen. Begreift es auch die „nordische“ Linke?
Schliesslich kam der Präsident der Vereinigten Staaten, um zu den Völkern zu sprechen […] „Dem Volk des Iran sage ich … Dem Volk Libanons sage ich … Dem Volk Afghanistans sage ich …“ Gut, man fragt sich: so wie der Präsident der Vereinigten Staaten diesen Völkern sagt: „Ich sage Ihnen …“, was würden ihm diese Völker sagen, wenn diese Völker reden könnten? Was würden sie ihm sagen? Ich werde es aufgreifen, denn ich kenne den grössten Teil der Seele dieser Völker, der Völker des Südens, der angegriffenen Völker. Sie würden sagen: „Yankee-Imperium go home!“ Das wäre der Schrei, der überall ertönen würde, wenn die Völker der Welt mit einer einzigen Stimme zum Imperium der Vereinigten Staaten sprechen könnten […] Ich habe den Eindruck, Herr imperialistischer Diktator, dass Sie den Rest Ihrer Tage mit einem Alptraum leben müssen, denn wo auch immer Sie hinschauen, werden wir erscheinen, wir, die sich gegen den nordamerikanischen Imperialismus erheben, die die völlige Freiheit der Welt fordern, die Gleichheit der Völker, den Respekt für die Souveränität der Nationen.
Hugo Chávez vor der UNO-Generalversammlung 2006