Analyse der Regionalwahlen, von Ole Kaminer, Caracas
Auf den ersten Blick könnte es nach einem klaren Sieg des Chavismus aussehen: In insgesamt 17 Bundesstaaten haben die Kandidaten der PSUV gewonnen, die Opposition kontrolliert künftig fünf und Groß-Caracas. Außerdem gingen über 80% der Bürgermeisterämter an den Chavismus, darunter auch viele in den Staaten, in denen die Opposition gewann. Das bedeutet, dass die Opposition neben den zwei Staaten, die sie bereits bei den letzten Regionalwahlen gewonnen hatte (Zulia und Nueva Esparta) noch drei weitere hinzugewinnen konnte: Carabobo, Táchira und Miranda. Außerdem den Bürgermeisterposten in Groß-Caracas. Der Chavismus hat es geschafft, mit Guárico, Sucre, Carabobo, Yaracuy und Aragua fünf Staaten zurückzugewinnen, in denen die ehemals chavistischen Gouverneure dem Prozess den Rücken gekehrt hatten.
Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 65%, was sehr viel ist (letzte Regionalwahlen: 45%). In absoluten Zahlen haben (bei 95% der ausgezählten Stimmen) 5,3 Millionen für die chavistischen Kandidaten
gestimmt und 4 Millionen für die Opposition. Das entspricht einem Verhältnis von etwa 57% zu 43%, was ungefähr dem üblichen Kräfteverhältnis entspricht. Generell liegt die Zustimmung zum Chavismus bei Regional- und Parlamentswahlen deutlich niedriger als bei Präsidentschaftswahlen.
Im Vergleich mit dem verlorenen Referendum im Dezember 2007 haben die Chavisten 1 Million Stimmen hinzugewonnen. Die Opposition hat einige hunderttausend Stimmen verloren (etwa 300.000).
Die für vielen überraschendsten Ergebnisse waren der Bundesstaat Miranda und der Distrito Capital, also Groß-Caracas. In beiden haben die Umfragen der meisten Meinungsforschungsinstitute auf einen Sieg der Kandidaten der PSUV hingewiesen. In Caracas sogar recht deutlich. Allerdings sind in Caracas alle Municipios außer Libertador (also Sucre, Baruta, Chacao, El Hatillo) verloren gegangen. Der Municipio Sucre, in dem eines der größten Barrios Lateinamerikas (Petare) liegt, war vorher chavistisch regiert. Außerdem ist das Ergebnis in Libertador weniger deutlich ausgefallen als erwartet. Ersten Analysen zu Folge sieht es so aus, als ob dort vor allem die Mobilisierung der Mittelklasse zum Erfolg der Opposition geführt hat.
In Miranda hat Diosdado Cabello eine dicke Niederlage einstecken müssen. Für die politische Landkarte ist das aus Sicht des Chavismus zwar ungünstig, intern aber vielleicht deutliches Zeichen gegen ihn und seine Mafia sowie gegen seine schlechte Regierungsführung. Diosdado Cabello gilt als einer der Köpfe der sog. „Derecha Endà³gena“, also dem rechten Flügel des Chavismus. Ihm wird vor allem Korruption und Reformismus nachgesagt. Interessant könnten die genauen Ergebnisse werden, um zu sehen, wie viele zwar die PSUV, aber nicht Cabello gewählt haben. Und auch, wie viele (absolut) bei den PSUV-internen Wahlen für ihn gestimmt haben – diese hatte er mit über 80% der Stimmen gewonnen.
Auch wenn die o.g. Ergebnisse als Sieg der chavistischen Kandidaten interpretiert werden könnten (und viele internationale Medien und auch die PSUV tun das zumindest öffentlich), zeigt sich bei genauerer Betrachtung ein anderes Bild. Die Opposition hat zwar zahlenmäßig kein überwältigendes Ergebnis abgeliefert, qualitativ aber äußerst wichtige Staaten gewonnen: Zulia und Táchira sind in der Grenzregion als Einfallstor für den Paramilitarismus aus Kolumbien wichtig und ebenso als mögliches Szenario für Separationsbestrebungen wie in Bolivien. Carabobo als Industrieregion sowie Miranda und Caracas als bevölkerungsreichste und zentral gelegene Staaten haben ebenfalls strategische Bedeutung. Darüber hinaus haben in einigen Staaten zwar chavistische Kandidaten gewonnen, eine linke Politik ist aber nicht wirklich von ihnen zu erwarten. So z.B. mit Edgar Rangel Gà³mez in Bolàvar (ebenfalls wichtig wegen der Industrie), mit Henry Falcà³n in Lara und in mit Hugo Cabezas in Trujillo.
Nach außen wird das Ergebnis als Erfolg verkauft, was sich quantitativ auch rechtfertigen ließe. Nach innen ist das Ergebnis, zumindest was die Staaten angeht, aber ein Desaster für den Chavismus. Die Frage ist aber, wie genau das Ergebnis zu verstehen ist.
Als Absage an Chávez? Oder gar den Prozess? Wohl eher nicht. Es scheint vielmehr, dass er alles für „seine“ Kandidaten gegeben hat, dass es aber nicht gereicht hat. Seine Unterstützung für die Kandidaten seiner Partei war dabei (logischerweise) bedingungslos, seien sie noch so korrupt und opportunistisch, die Einheit war in diesem Fall wichtiger. Chávez ist über zwei Monate durchs ganze Land gerast und hat jeden Tag mehrere Veranstaltungen gemacht und stundenlang geredet (auch wenn man sagen muss, dass der letze Punkt nichts wirklich neues ist). Möglich ist allerdings, dass er sich mit seinem aggressiven Diskurs und seiner extremen Polarisierung – vor allem in Zulia – übernommen hat. Vor allem bei der Mittelschicht dürfte sein Diskurs, der fast ausschließlich auf die Ausgeschlossen gerichtet war, abschreckend gewirkt haben.
Als Abstrafung der Lokalregierungen der letzten Jahre? Bestimmt. Das Maß an Korruption und Ineffizienz ist, trotz löblicher Ausnahmen, bei den Gouverneuren enorm, bei den Bürgermeistern wohl ebenfalls erheblich. Auch wenn sie das alles, wie üblich, in einem revolutionären Diskurs verpacken. Chavismus eben. Die Menschen merken aber, ob die Institutionen funktionieren, ob die Gelder ankommen usw. Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte dabei auch die Kriminalität gespielt haben, die landesweit als größtes Problem angeführt wird. Auch wenn sie medial aufgebauscht wird, die meisten chavistischen Amtsträger haben keine mittelfristigen antworten auf dieses Problem gefunden – auch wenn es grundlegend nur langfristig gelöst werden kann.
Die Wahl war für Chávez und den Prozess von strategischer Bedeutung und um die größtmögliche Zahl an Staaten und Bezirken zu gewinnen, wurde in Kauf genommen, auch Kandidaten zu unterstützen, die vielen Ideen Chávez‘ und der venezolanischen Linken entgegen stehen. Eine solche Wahl – PSUV ankreuzen und sich beim einwerfen des Zettels die Nase zuhalten, wie jemand aus Mà©rida berichtete – erfordert aber ein politisches Bewusstsein, das bei vielen nicht im nötigen Maß vorhanden ist. Und sicher kann man in konkreten Fällen auch anzweifeln, ob es wirklich keine Alternative zu bestimmten Kandidaten gibt. Chávez hatte mit Sicherheit die Strategischen Überlegungen klar, als er Wahlkampf gemacht hat, seine Besuche haben sich auf die kritischen Staaten konzentriert: Zulia, Carabobo und Guárico. Guárico hatte sich aber schon vor der
Wahl als etwas stabilisiert herausgestellt.
Eine Erklärung könnte also sein, dass die Menschen müde sind auf Grund der Differenzen zwischen Propaganda und konkreter Realität und nicht bereit waren strategisch zu wählen. Die Hoffnung, das sich nach dem verlorenen Referendum vor einem Jahr ein selbstkritischer Prozess innerhalb des Chavismus durchsetzen und zu Veränderung führen könnte, hat sich also bisher nicht bestätigt. Nun wird sich zeigen müssen, wie viele Schläge der Chavismus noch benötigt, um die notwendigen Korrekturen einzuleiten oder ob diese Schläge ihn (zumindest in seiner institutionellen Form: an der Macht) zu Grunde richten werden. An dem Zustand der Landes- und Lokalregierungen nach vier Jahren an der Macht hat sich zumindest ein weiteres Mal gezeigt, dass es für die Linke um die Kräfteverhältnisse innerhalb der Führungselite des Chavismus nicht gut bestellt ist.
Eine entscheidende Frage wird sein, ob es unabhängig von den Wahlen gelingt, die Volksmacht auszubauen und so die repräsentativen Strukturen überflüssig zu machen. Bestrebungen in diese Richtung gibt es viele und sie drücken sich vor allem in der massenhaften Gründung von Nachbarschaftsräten (Consejos Comunales) und deren zunehmenden Vernetzung in Kommunen und Kommunalen Städten aus. Allerdings sieht sich die Basis in diesem Prozess häufig mit den Funktionären der eigenen Partei konfrontiert, die über ihren Diskurs hinaus wenig Interesse an einer tatsächlichen Umstrukturierung des bürgerlichen in einen kommunalen Staat haben. Diese kann darüber hinaus aber nur im Einklang mit weitreichenden strukturellen Veränderungen der Wirtschaft, d.h. der Produktionsverhältnisse, gelingen, von der bisher nicht viel zu sehen ist.
Ole Kaminer, Caracas