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Tunesien: Revolution an der Urne?

10. Oktober 2011
Von Sebastian Baryli

Am 23. Oktober entscheidet sich, welche politischen Kräfte in Tunesien nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes das Ruder in Hand nehmen. Das Kräftemessen an der Wahlurne beendet eine Etappe der Revolution in diesem Land, die durch den Dualismus zwischen den Kräften des Volkes und jenen des alten Regimes geprägt war.


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Nun, nachdem diese Phase nun bald abgeschlossen sein wird, stellt sich die Frage nach der Perspektive des revolutionären Prozesses. Eine immer noch gültige Formel bringt die Verhältnisse in Tunesien auf den Punkt: der Fortschritt der Revolution wird erst durch die Hartnäckigkeit der Kräfte des alten Regimes – sprich der Konterrevolution – angestachelt.

Kräftekonstellation in der Konstituante

Die politische Landschaft der Post-Ben-Ali-Ära ist dynamisch und, um es weniger eupheistisch auszudrücken, unübersichtlich. „120 Parteien haben sich nach der Revolution gegründet“, erzählt Ajmi Lourimi, Sprecher der islamischen En-Nahda Partei. „Das zeugt zwar von einem Willen, sich am politischen System zu beteiligen, doch den meisten fehlt es an Erfahrung. Diese Parteigründungen werden den Wahltag wahrscheinlich kaum überleben.“

Die Unübersichtlichkeit der politischen Arena drückt sich aber nicht nur in der Unüberschaubarkeit der politischen Akteure aus. Nach Umfragen ist jeder zweite Wahlberechtigte in Tunesien noch unentschlossen, wen er wählen soll. Dennoch lassen sich am Vorabend der Wahlen gewisse Tendenzen abzeichnen.

Die politische Hauptfrage in der zu bildenden verfassungsgebenden Versammlung wird sein, wie eine Rückkehr zum Regime von Ben Ali verhindert werden kann. Ausgehend davon lassen sich die politischen Kräfte ordnen. Dabei gibt es vor allem auch im islamischen Milieu Kräfte, die großes Interesse an einer radikalen Abkehr von den alten Institutionen haben. „Daher muss man sehr vorsichtig mit den politischen Zuschreibungen sein“, erklärt Lourimi. „Die Einteilung des politischen Feldes in links, Zentrum und rechts ist für die tunesische Situation nicht unbedingt geeignet.“

Den stärksten Block in der konstituierenden Versammlung wird die En-Nahda Partei einnehmen, die Umfragen zufolge mit 30 Prozent die meisten Stimmen auf sich vereinigen wird können. Die 1987 von Rachid al-Ghannouchi gegründete Partei genießt aufgrund ihres langjährigen Widerstandes gegen das Ben-Ali-Regime großes Ansehen.

Als zweiten Block lassen sich die linken Kräfte zusammenfassen, wie etwa die hoxhaistische „Parti communiste des ouvriers de Tunisie“ (PCOT) und die „Mouvement des patriotes démocrates“ (MPD). Die Frage, welche Stellung man in der Linken zu den islamischen Kräften einnehmen kann, steht aufgrund der Kräftekonstellation und der Rolle der En-Nahda im Widerstand gegen Ben Ali auch in Tunesien – ähnlich wie in Ägypten und Palästina – auf der politischen Tagesordnung.

Für die PCOT ist eine Zusammenarbeit mit der islamischen Bewegung in der verfassungsgebenden Versammlung grundsätzlich vorstellbar. „Entscheidend ist, dass En-Nahda sich gegen das Regime von Ben Ali gestellt hat“, erklärt Ibrahim Ben Taleb von der PCOT. „Wir wollen die Trennung von Staat und Kirche, das lässt sich auch mit En-Nahda verwirklichen.“

Die MPD lehnt hingegen eine Zusammenarbeit grundsätzlich ab: „Die Nahda-Bewegung ist ein Instrument des Imperialismus gegen die kommunistische Bewegung. Auch programmatisch sind wir zu weit entfernt. Eine Allianz, mag sie auch nur taktischen Charakter haben, ist daher nicht möglich“, so Adaili Habib von der MPD, die ihre Ursprünge in der Studentenbewegung in den Siebziger Jahren hat.
Den dritten Block in der verfassungsgebenden Versammlung werden Kräfte des alten Regimes bilden: „Diese umfassen derzeit 40 Parteien“, erklärt Lourimi. Zwar wurde die früher herrschende „Rassemblement constitutionnel démocratique“ (RCD) im März 2011 von einem tunesischen Gericht aufgelöst, doch bestehen starke personelle und institutionelle Kontinuitäten.

Revolution und Konterrevolution

Die gesamte Geschichte der tunesischen Revolution bis zu den Wahlen am 23. Oktober lässt sich klassisch als Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution nachzeichnen. Die gesamte Etappe nach dem 14. Jänner, jenem Tag, als Ben Ali dem Druck der Straße nachgegeben musste und aus dem Land floh, ist geprägt von diesem Dualismus. „Die erste Übergangsregierung unter dem schon unter Ben Ali eingesetzten Premierminister Mohamed Ghannouchi wurde durch den Druck der Straße gestürzt“, erzählt Ben Taleb von der PCOT. Die Bewegung der Volkskomitees gipfelte in der Besetzung der Straßen in Tunis, die nun als Kasbah I in die Geschichte eingegangen ist.

Danach wurde eine technokratische Regierung unter Beji Caid el Sebsi ins Leben gerufen. Doch auch diese trägt das Makel der Kontinuität der alten Kräfte: el Sebsi diente zuletzt von 1981 bis 1986 als Außenminister. Die Bewegung der Volkskomitees ließ es daher auf ein weiteres Kräftemessen auf die Straße ankommen, als Kasbah II konnte sie die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung durchsetzen.

Entscheidend ist nun die Frage, wie sich dieser Dualismus nach den Wahlen weiterentwickeln wird. „Der 23. Oktober ist der letzte Tag der Regierung el Sebsi“, versichert Lourimi. Sobald die Versammlung zusammengetreten ist, werden sowohl ein neuer Premierminister als auch ein neuer Präsident von den Abgeordneten provisorisch gewählt. „Erst nach dem Beschluss einer Verfassung werden dann die Ämter ordentlich besetzt.“

Es ist also ein wichtiges Anliegen einiger Kräfte der Revolution, die Macht der jetzigen Übergangsregierung so bald als möglich zu beenden. Und zwar nicht nur aus der Überlegung heraus, ordentlich arbeitende Institutionen auf einer verfassungsmäßigen Grundlage zu schaffen, sondern vor allem auch aufgrund der Tatsache, den Kräften des alten Regimes nicht mehr entsprechenden Raum zu bieten.

Ein Fortschreiten des revolutionären Prozesses lässt sich aus der Perspektive der Linken vor allem in einer Allianz mit den islamischen Kräften verwirklichen. „Die politische Hauptaufgabe ist, die Rückkehr des Ben-Ali-Regimes zu verhindern“, erklärt Lorimi von der En-Nahda. Solange diese Aufgabe auf der Tagesordnung steht, gibt es die Möglichkeit für eine solche Allianz, mit den bekannten Gefahren und Problemen.

Denn aus der Perspektive der En-Nahda ist eine Allianz mit der Linken nicht unbedingt notwendig. Das politische Zentrum – soweit dieser Begriff angebracht ist – ist durch die „Parti Démocrate Progressiste“ (PDP) – einer Sammlung aus panarabischen, marxistischen und anderen Kräften – relativ stark. Umfragen prognostizieren ihr 15 Prozent, was sie zur zweitstärksten Kraft machen würde. Eine institutioneller Bruch mit dem Ben-Ali-Regime ist auch mit diesen Kräften möglich, ein grundlegender Bruch mit den gesellschaftlichen Strukturen der Vergangenheit und mit dem Imperialismus ist damit nicht möglich. Die En-Nahda selbst verspürt dabei wenig Ambitionen: „Die Beziehungen zu den USA und den europäischen Staaten bleiben aufrecht“, so die Position.

Das Manko des politischen Zentrums besteht aber im Lavieren zwischen den Kräften des alten Regimes und der Volksbewegung. So war die PDP Teil der ersten Übergangsregierung Ghannouchi und hat sich nicht der Front des 14. Jänners angeschlossen, in der die Kräfte der Revolution vereint sind. Dieses Manko wird um so mehr schlagend, je mehr die Kräfte des alten Regimes sich gegen eine Entmachtung wehren. Je stärker die Konterrevolution in Tunesien agiert, desto mehr würde die En-Nahda zu einer politischen Allianz mit der Linken gezwungen werden. Allein der Stachel der Konterrevolution würde also die Bedingung für eine solche Allianz schaffen, die eine Fortsetzung des revolutionären Prozesses garantieren würde.

Abseits von diesem Szenario sind aber auch Varianten denkbar, in den die En-Nahda gemeinsam mit Parteien des Zentrums einen Kompromiss zugunsten eines Projektes der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Modernisierung eingehen. Diese Szenarien sind aber nur dann vorstellbar, wenn die Kräfte des alten Regimes auf ihren Platz freiwillig verzichten.

Die Macht der Volkskomitees

Es ist eine offene Frage, ob die Volkskomitees in diesem politischen Prozess noch eine Rolle spielen können. Auch dies wird davon abhängen, wie sehr die ehemaligen Ben-Ali-Kräfte ihre Machtpositionen abgeben werden.

Die Zeit, in der die Politik in Tunesien auf der Straße gemacht wurde, ist – zumindest für eine Zeit lang – vorüber. Im Wahlkampf wurden öffentliche Veranstaltungen der Parteien verboten, um eine neuerliche Mobilisierung auf der Straße zu verhindern. Kasbah I und Kasbah II haben die Macht des Volkes gegenüber dem politischen System deutlich gemacht. Doch sowohl das geschickte Agieren der Konterrevolution als auch die Erwartungen gegenüber der verfassungsgebenden Versammlung haben die Volkskomitees derzeit von der Bildfläche verschwinden lassen.

Die Konterrevolution hatte den Volkskomitees mit einem taktischen Schachzug den revolutionären Impetus genommen. Denn der zunächst gegründete „National Council to Protect the Revolution“ wurde Schritt für Schritt unterminiert. Parallel hatte die Regierung nämlich die „High Commission for the Realisation of Revolutionary Goals, Political Reforms and Democratic Transition“ gegründet. „Einige Parteien wechselten vom Council zur High Commission, was dem revolutionären Prozess großen Schaden zufügte“, schildert Ben Taleb von der PCOT den Vorgang. Sowohl die PCOT als auch die MDP blieben der High Commission fern. Die En-Nahda hingegen beteiligte sich zunächst, verließ diese Einrichtung dann aber.

Mit der High Commission hat die Regierung der Volksbewegung in gewisser Weise die Spitze genommen. In der Phase bis zur Bildung der verfassungsgebenden Versammlung wird die Stellung zur High Commission noch von Bedeutung sein, danach wird sie institutionell wahrscheinlich überholt sein.

Offen ist die Frage hingegen, inwieweit die Volksbewegung direkt Druck auf die Konstituante ausüben wird können. Dies wird nur insofern der Fall sein, wenn die Errungenschaften der tunesischen Revolution ganz augenscheinlich in Gefahr sind. Das offene Auftreten der Konterrevolution kann die Volksbewegung vielleicht wieder auf die politische Bühne zurückholen. Eine einfache Kompromisslösung zwischen En-Nahda und dem politischen Zentrum wird dies aber nicht hervorbringen.

Insgesamt lässt sich also schlussfolgern, dass die Linke in Tunesien zur Fortsetzung des revolutionären Prozesses Bündnispartenr benötigt, die sie in der En-Nahda finden könnte. Eine wesentliche Bedingung für diese Allianz wäre aber, dass die Ben-Ali-Kräfte an ihrer Macht festhalten. Erst eine radikalsierte Fortsetzung des Dualismus Revolution-Konterrevolution könnte eine solche Allianz tragfähig machen. Unter der Bedingung eines ruhigen, kontinuierlichen Modernisierungsprozesses, ohne substanziellen Bruch sowohl in sozio-ökonomischer als auch in geopolitischer Hinsicht, erscheint ein Zusammengehen der En-Nahda mit Kräften des politischen Zentrums wahrscheinlicher. Die Frage ist also weniger, ob es in der Linken Bereitschaft für eine Zusammenarbeit gäbe, als vielmehr, ob es diese von Seiten der En-Nahda gibt.

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