Am 22. November rief der ägyptische Präsident Mursi die Anhänger der Moslembrüder (MB) dazu auf, auf die Straßen zu gehen, um „revolutionäre“ Beschlüsse zu unterstützen, die er demnächst bekannt geben würde.
Dieser Aufruf kam nach mehreren Tagen gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen oppositionellen Demonstranten und den Sicherheitsapparaten in der Mohammad Mahmoud-Straße vor dem Innenministerium. Diese fanden zum Jahrestag der Ereignisse am selben Ort statt. Die Demonstranten wiederholten die bisher nicht erfüllten Forderungen der Bewegung nach der Reform des Innenministeriums und der Bestrafung der Verantwortlichen an den Morden an Demonstranten beim Aufstand vom Jänner 2011 und danach.
Die Proteste in der Mohammad Mahmoud-Straße wurden mit denselben Methoden unterdrückt wie ein Jahr davor. Genau wie 2011 bezeichneten die MB die Demonstranten als Mubarak-Anhänger (Fuloul), wobei die Anhänger Mursis den Präsidenten zu mehr Härte aufforderten. Dieses „harte Durchgreifen“ war mehr gegen Linke und Liberale gemeint als gegen den Staatsapparat.
Populäre Forderungen als Maske für den Putsch
Die „revolutionären“ Beschlüsse Mursis übertrafen alle Erwartungen. Die „revolutionäre“ Absetzung des Staatsanwalts aus Mubaraks Zeiten war zu erwarten, erfüllt formell eine Forderung der Massenbewegung und hätte unter anderen Umständen einen erstmaligen Schritt in Richtung Reform bedeuten können. Jedoch wird ohne jegliche vertrauensbildende Maßnahmen seitens der MB seit dem Abgang Mubaraks dieser Schritt als ein weiterer Versuch der MB, alle Mächte im Land in ihren Händen zu konzentrieren interpretiert. Das ist nicht nur Spekulation, denn im selben Dekret werden diese Befürchtungen bestätigt: Immunisierung einer umstrittenen und von den meisten politischen Kräften verlassenen Verfassungskommission, Immunisierung der von den MB dominierten Oberkammer* des Parlaments (diese wird die neue Verfassung ratifizieren) und vor allem Immunisierung der Beschlüsse des Präsidenten. Diese seien unwiderruflich und sollen über allen Instanzen stehen.
Die MB behaupten, die Ausschaltung des Justizsystems sei notwendig, da dieses von Mubarak-Männern dominiert sei und staatlichen Reformen im Wege steht. Man braucht jedoch nur daran zu erinnern, dass die MB sind seit dem Abgang Mubaraks ständig gegen die Forderungen der Tahrir-Bewegung nach revolutionären Reformen im Staatsapparat standen und stattdessen eine Abmachung über die Machtteilung mit diesem Staat anstrebten. Auch die Forderung der Absetzung des Staatsanwalts lehnten sie damals ab. Ohne grundlegendes Reformprogramm im gesamten Staatsapparat unter Beteiligung aller politischen Kräfte und gewerkschaftlichen Verbände besteht die „Reform“ der MB darin, mit allen Mitteln MB-Mitglieder in Schlüsselfunktionen einzusetzen. Daraus resultiert eine Vertrauenskrise mit den anderen politischen Kräften im Land. Diese sind berechtigterweise der Meinung, die MB versuchten nur ihre Macht auszubauen und den autoritären ägyptischen Staat eher zu benützen als zu reformieren.
Selbst die Ernennung eines neuen Staatsanwalts erfolgt nach dem Dekret Mursis nicht wie üblich aus der Justiz selbst, sondern direkt vom Präsidenten. Mursi ernannte einen Anhänger der MB, der seit 2007 als Richter im verrufenen bahrainischen Kriminalgerichtshof tätig war und bei den politischen Urteilen an bahrainischen Oppositionsaktivisten eine Rolle gespielt hatte. Dieser richtete auch seine erste Wortmeldung an die Opposition. Er erinnerte die Protestierenden daran, dass nach dem neuen Gesetz „Hetze gegen das Regime und den Präsidenten“ strafbar sei. Die ersten Anzeigen gegen die Anführer der Opposition (den Linken Hamdin Sabahi und den liberalen Mohammad Baradei) sind bereits erstellt worden.
Dekret als Deckmantel für die umstrittene neue Verfassung
Für die Islamisten ist im Moment der Hauptkampf jener um die neue Verfassung, in der sie die Sharia und den islamischen Charakter des Landes expliziter als zuvor verankern möchten. Dazu kommen andere repressiven Elemente, die im Moment in manchen umstrittenen Gesetzen festgelegt sind und welche die islamistischen Freunde von Recht und Ordnung gerne in der Verfassung wissen möchten. Salafiten in der Kommission setzen die MB unter Druck und verhindern Kompromisse mit den säkularen Kräften. Selbst die Zusammensetzung dieser Kommission war von Anfang an Gegenstand von Kritik und Zweifel an den fachlichen Kompetenzen ihrer Mitglieder.
In der Woche vor dem Dekret Mursis hatten sich Vertreter der Zivilgesellschaft sowie der Kirche zurückgezogen. Nach dem Dekret Mursis zogen sich weitere Kräfte zurück und es blieben nunmehr Vertreter der MB und der Salafiten. An sich wäre die Kommission dadurch nicht mehr beschlussfähig, jedoch wurde sie durch Mursis Dekret fixiert. Sie beschleunigte ihre Arbeit und legte den Entwurf der Oberkammer des Parlaments vor, der in einer Marathonsitzung Paragraph für Paragraph einstimmig einwilligte. Die „Abstimmung“ fand in der Nacht vor der Freitagsmobilisierung der Opposition und während eines langen TV-Interviews mit Mursi statt, in dem er erneut sein Dekret beharrlich rechtfertigte.
In diesem Sinne kann das Dekret als ein Ablenkungsmanöver gesehen werden, in dem Mursi die Vereinnahmung der Verfassungsfrage im Interesse der MB deckt. Geht die Verfassung durch, so zieht er das Dekret zurück und glaubt damit die Spannung abbauen zu können. Geschieht das nicht, so behält er die legislative Macht weiter in seiner Hand.
Moslembrüder gegen alle?
Im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Polarisierungen in Ägypten konnten diese Dekrete nur als Putsch der MB gegen den Rechtsstaat sowie gegen das gesamte politische Spektrum im Land aufgenommen werden. Versuche der MB, die Dekrete als administrative Notwendigkeit zu verkaufen und damit die Öffentlichkeit zu beruhigen stehen im Widerspruch zum internen Diskurs der Islamisten, der die Anhänger zur Unterstützung von Mursi aufruft. Denn dieser spricht vom islamischen Staat und von der „Verteidigung der Sharia gegen Säkularismus“. Das führt zur Vereinigung aller anderen politischen Kräfte gegen die MB, um die Rechtstaatlichkeit, die demokratischen Errungenschaften und nicht zuletzt die Säkularität des Staates zu verteidigen.
Nimmt die Führung der MB den Ernst der Situation nicht wahr? Oder ist sie aus anderen Kalkülen an dieser offene Konfrontation interessiert?
In Hinblick auf die große Protestbewegung unterschied sich der Diskurs der MB nicht von jenem Mubaraks: „..kleine Gruppen.. vom Ausland bezahlt.. .“. In seinem ersten Medienauftritt nach dem Dekret unterschied sich Mursi in dieser Hinsicht nicht von klassischen Putschisten, die das Kommunique Nr. 1 bekanntgeben. Er rechtfertigte seinen Schritt mit dem „Verhindern einer von ihm aufgedeckten Verschwörung“, ohne auf den Inhalt dieser „Verschwörung“ einzugehen.
Bündnis von Oppositionellen mit dem alten Regime?
Neu im Staatsdiskurs ist die pauschale Diffamierung aller Mursi-Gegner als „Fuloul“, wobei dies älter als die jetzigen Proteste ist und mit der Tendenz der MB zusammenhängt, die gesamte Demokratiebewegung für sich zu beanspruchen. Absurderweise hatten die MB selbst am wenigstens Hemmungen, mit Elementen des Mubarak-Regimes zusammenzuarbeiten. Selbst die jetzige Regierung Mursis geriet in die Kritik der Demokratiebewegung, da solche „Fuloul“ unter den Ministern sind. Viele Mubarak-Männer wurden von Mursi mit den höchsten staatlichen Orden geehrt. Salafitenführer, die heute glühend für Mursi werben und eine gewaltsame Einführung der Sharia fordern, standen im Jänner 2011 gegen den Aufstand und unterstützten danach den Militärrat.
Nichtsdestotrotz ist es eine Tatsache, dass auch ehemalige Anhänger des Mubarak-Regimes am Tahrir sind. Über diese Präsenz bestand bereits in den ersten Tagen eine Debatte innerhalb der Opposition. Zum Beispiel wurde der ehemalige ägyptische Außenminister Amre Moussa in derselben Reihe mit Hamdin Sabahi und Mohammad Baradei gesehen. Auf diesen Vorwurf antwortete der linke Anführer Hamdin Sabahi: „Wir können keinen Bürgern verbieten, an Protesten gegen Tyrannei und für demokratische Rechte teilzunehmen. Was die politischen Kräfte betrifft, so beschränkt sich das Bündnis auf die Forderung, das Dekret zurückzunehmen, welches das gesamte politische Leben in Ägypten gefährdet“.
Jedoch ist es den Islamisten tatsächlich gelungen, die politische Debatte von den eigentlichen Themen (Demokratie, Reformen, soziale Gerechtigkeit, nationale Souveränität) in eine Debatte über den „islamischen Charakter“ des Staates umzulenken. Da dieser und seine Definition kein Konsens in der Bevölkerung sind, so bilden sich in der Verteidigung der Rechtstaatlichkeit und der Säkularität des Staats neue politische Fronten. Das bedeutet nicht, dass die Tahrir-Rebellen ein Bündnis mit dem alten Regime als solchem eingehen.
„Islam gegen Ungläubige“
Die seit siebzig Jahre illegale und politisch marginalisierte Gruppe kann offensichtlich ihre bewährten Methoden der Intrige und des politischen Feilschens nicht leicht aufgeben. Daraus ergeben sich eine Holprigkeit im Handeln und ein demagogischer Diskurs, der die Wahrnehmung der neuen politischen Realitäten in Ägypten verweigert. An Popularität eingebüßt und praktisch auf ihr spezifisches Gewicht reduziert, richtet sich die MB-Führung mit demselben alten Diskurs von islamischen Werten, Jihad, Opferkomplexen und der Geschlossenheit der MB-Reihen an die Parteibasis.
Gefährlichere Ausmaße nehmen die Mobilisierungen innerhalb der MB-Klientel zur Unterstützung Mursis an. Hier drücken sich stark die Dualismen „Islam gegen Ungläubige“ und „Revolution gegen Fuloul“ aus. Demnach stünden am Tahrir alle Feindbilder, die einem MB-Anhänger im Rahmen seiner politischen Erziehung vorgestellt wurden. Eine berühmt gewordene Aussage des islamistischen Aktivisten Mohammad Seif fasst diese zusammen: „Juden, Christen, Zionisten, Baradei-Anhänger, Säkulare, Fuloul, Atheisten, Homosexuelle, Satanisten, Tänzerinnen, Künstler, Diebe, Agenten, Mubarak-Gefolgschaft, Mubaraks Partei, und die Medien von Sodom in Gomorra, alle gegen den Islam“.
Schon am Tag des Dekrets fanden in ganz Ägypten blutige Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und den Anhängern Mursis statt. Letztere standen im Bündnis mit den Sicherheitsapparaten und beteiligten sich in vielen Fällen an den Festnahmen von Demonstranten. Am 27. November standen am Tahrir mehr Menschen als während des Aufstands von 2011. Eine Gegenmobilisierung der MB an einem anderen Platz wurde von den Einwohnern der betroffenen Vierteln verhindert, währen die Mobilisierung von MB-Anhängern von außerhalb Kairos von den Massen verhindert wurde, welche die Parteizentralen der MB in mehreren Städten angriffen und sie dadurch zur lokalen Verteidigung zwangen.
Die Mobilisierungskraft der Islamisten zeigte auch am 1. Dezember ihre Grenze, wo trotz Verfrachtung von Salafiten und MB-Anhängern aus ganz Ägypten deren Anzahl weit geringer ausfiel als jene der Opposition am Tahrir.
Eskalation vorprogrammiert – Ausgang offen
Die Ratifizierung der neuen Verfassung unter diesen Umständen sowie die zwei Auftritte Mursis (Interview und Rede an seine Anhänger am 1. Dez.) lassen der Opposition keine andere Wahl als die Eskalation der Proteste. Der Präsident zeigte sich von Millionendemonstrationen unbeeindruckt und will am 15. Dezember eine Volksabstimmung über die neue Verfassung abhalten. Dabei geht es in Ägypten in Richtung ziviler Ungehorsam. Seit Monaten streiken die Ärzte im öffentlichen Sektor. Seit dem Dekret Mursis streiken die Richter und auch die Lehrer kündigten ihren Streik an. In der Arbeiterstadt Mahalla führen die Arbeiter die Protestbewegung an, die zugleich mit der sozialen Frage verknüpft ist. Die Opposition kann und muss diesen seltenen Moment der Einheit nützen, um eine Veränderung der Kräfteverhältnisse herbeizuführen. Ebbt diese Welle ab, so gehen die MB als Sieger aus dieser Runde hervor und der demokratische Prozess erleidet einen Rückschlag, dessen Schaden schwer zu beseitigen ist. Ein Teil der Kräfte betrachtet die Proteste als die Vollendung der Jännerrevolution und fordert den Marsch zum Präsidentenpalast und den Sturz des Regimes.
Es wird sich zeigen, welche Kräfte die MB und die Salafiten zur Verteidigung Mursis und zur Unterstützung der Sicherheitskräfte mobilisieren können. Es ist auch offen, wie sich die Sicherheitskräfte verhalten werden. Eine Intervention der Armee ist nicht auszuschließen und würde die Situation zu ihrem Ausgangspunkt nach dem Abgang Mubaraks zurückbringen. Der Unterschied ist nur, dass ihr diesmal eine vereinigte Opposition gegenübersteht, die von keiner Moslembrüderschaft mehr hintergangen werden kann.
Mohamad Aburous
Wien, 03.12.2012
.
* Zum Thema Oberkammer siehe Abdelhalim Qandil, Der Kampf um Meinungsfreiheit in Ägypten, https://www.antiimperialista.org/2012-09-23-der-kampf-um-die-meinungsfreiheit-in-aegypten/