Site-Logo
Site Navigation

Der Sozialstaat, die Politik der Prekären und die Theorie des Bullshit

19. Oktober 2013
Von A.F.Reiterer

Anlässlich eines Besetzungsvorschlags für die Theorie der Politik an der Wiener Uni


Vor 1 1/2 Jahrhunderten betrug die Lebenserwartung in Österreich für Frauen 36,2 Jahre und 32,7 für Männer. Das war hauptsächlich auf die Kindersterblichkeit zurück zuführen. Doch auch im Erwachsenenalter war die Sterblichkeit hoch. Ein Mann im Alter von 50 Jahren hatte eine Sterbe-Wahrscheinlichkeit von 0,0207 – heute beträgt sie 0,00385. Verständlicher ausgedrückt: Damals starben im Alter von 50 bis 51 zwei unter Hundert Personen; heute sind es vier unter Tausend. Die Sterblichkeit in diesem Alter war damals also um mehr als das Fünffache höher als heute (2012). Aber auch 1955 war sie noch doppelt so hoch. Die Erfahrung des Gefährdet-Seins war also selbst in der näheren Vergangenheit wesentlich existenzieller als heute. Die hohe Sterblichkeit betraf alle, und die extreme Kindersterblichkeit führte den Menschen Tag für Tag vor Augen, dass Leben ein hohes Risiko ist.

Judith Butler hat ein Buch geschrieben: Precarious Life. Es wurde ins Deutsche übersetzt als „Gefährdetes Leben“. Die deutsche Politologin Lorey bemängelt, damit wäre die Verbindung zum Prekariat unterbrochen. Aber die Übersetzung passt völlig. Butler führt die Debatte über Unsicherheit als Grundzustand des Menschlichen. Es geht um das Dasein selbst, die nackte Existenz. Die Prekarisierung der Gegenwart ist ein sozioökonomischer Ausdruck dessen, eine eindimensionale und verengte Übersetzung ins Politische. Und die Kritik geht daran vorbei, dass es sich um eine Frage der rhetorischen Aufbereitung dieser conditio humana handelt.

Nicht nur die Lebenserwatung der 1950er war niedriger als heute. Die Lebensumstände waren rundum ungünstiger. Und doch herrschte eine optimistische Grundstimmung. Denn Mitte des 20. Jahrhunderts begann für Europa eine neue Zeit. Sie dauerte nur kurz, wenige Jahrzehnte. Es war vor allem eine Frage der Wahrnehmung, seitens der Bevölkerung, aber auch seitens eines Gutteils der damaligen politischen Klasse.

1942 hatte William Beveridge in seinem Report festgehalten: Wir können die Unsicherheit des Lebens nicht beheben. Aber wir können die gewöhnlichen sozialen Risiken des Lebens, die Arbeitslosigkeit, die Krankheit, das Alter, erträglich machen, aus einem Existenz-Risiko in beherrschbare Ereignisse umwandeln. Polis, das war seit je die zivilisierte menschliche Lebensform, das war die Versicherung gegen den „Krieg Aller gegen Alle“ im „Naturzu-stand“. Es sollte ein Einstehen Aller für jeden Einzelnen werden. Gewiss, das war Ideologie. Aber es war nicht nur Ideologie. Es war der Wille, jene Erkenntnis nach zu vollziehen, die selbst bürgerliche Ökonomen schon erreicht hatte. Alfred Marshall, der Generationen von Ökonomen heranbildete, hatte ein halbes Jahrhundert vorher schon festgehalten: Es gibt für eine hochproduktive Gesellschaft der Moderne keinen Grund, die Hälfte der Bevölkerung im Elend und in Verzweiflung verkommen zu lassen. Beveridge wiederholte dies vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und sicher auch vor der Alternative des Sowjet-Systems. Und damit gab er den Ton für die nächste Generation in Westeuropa an.

So war die Aussage gemeint, und so wurde sie von den Menschen aufgenommen. Wenn es je ein Fundamental-Anbot für die Integration ins System gab, dann war es dies. Und es funktio-nierte. Bedingungen gab es, doch sie waren erfüllbar. Teilnahme am Erwerbsleben war die Bedingung. Sie sollte durch eine entsprechende Politik ermöglicht werden. Beveridge war insoweit der Zwillings-Bruder von Keynes.

1991 hörte ich auf einer Konferenz in Krakau plötzlich einen neuen Ton. Ein Soziologe aus Berlin, aus Ungarn stammend, dozierte: „Man would be idle if there would be no threat to him!“ Man glaubte vorerst, seinen Ohren nicht zu trauen. Da waren sie wieder, die Töne aus dem 18. Jahrhundert!

In den nächsten Jahren wurden diese Töne mainstream in der politischen Klasse. in den USA und in Großbritannien hatte die neokonservative Wende schon stattgefunden. Nun wurde sie von Kohl, Delors, Persson, Tony Blair und Vranitzky auf den Kontinent importiert. Die Stimmung schlug um und erreichte schnell die Bevölkerung.

Prekariat ist nun zum eigentlichen Symbol dieser Wende geworden. Halten wir fest: Das hat ganz und gar unterschiedliche Bedeutungen für die einzelnen Schichten und Gruppen. Und das ist der eine fundamentale Vorwurf, den man den neuen Theoretiker/innen des Prekären zu machen hat. Sie reden allgemein vom Prekariat, machen sich aber nicht die geringste Mühe, die ganz klassenspezifischen Wirkungen konkret anzusehen. Ihr unreflektiertes Problem ist die eigene Situation: Man glaubt Anspruch auf eine Professur zu haben, und hat sie noch immer nicht!

Die Verunsicherung hat die Mittelschichten erreicht. „Prekarität und Prekarisierung bezeich-nen somit Prinzipien des Brüchigwerdens, die sich nicht auf die unteren Schichten der Gesellschaft beschränken“ (Castel, zit. Bei Lorey 2012, 73). Das ist die zentrale Aussage für die Debatte seit 2008. Sie muss aber konkretisiert und differenziert werden. Denn man kann es nicht oft genug wiederholen: Prekarisierung ist eine Frage der Wahrnehmung. Das gilt im doppelten Sinn. Die individuelle Wahrnehmung wird durch die soziale ergänzt, durch die Thematisierung des Problems seitens jener, die nun die Erfahrung plötzlich selbst machen und ganz überrascht davon sind, die Menschen mit akademischer Ausbildung z. B. Das Phänomen ist übrigens nicht so neu. In den 1930er gab es junge Ärzte, sie hatten eben das Studium abgeschlossen; die gingen zu Fuß in der Nacht von Penzing nach Baden: Dort war eine Stelle ausgeschrieben, um die sie sich in der Früh bewerben wollten, und das Fahrtgeld fehlte. Und seit Anfang der 1970er wird das Problem der Akademiker-Arbeitslosigkeit diskutiert, nachdem es vorher zwei Jahrzehnte eine „goldene Zeit“ für diese Gruppe gab.

Die Phrase „Regieren durch Unsicherheit“ ist falsch und führt in die Irre. Es handelt sich um ganz was Anderes. Die politische Ebene tritt im westeuropäischen Kern durchaus mit einem anderen Anspruch auf. Man spielt das Spiel good guy vs. bad guy. Und die Politik ist der good guy. Wir haben dies in den Wahlkämpfen in der BRD und in Österreich eben miterlebt. Aber: Das Niveau wird gesenkt, hier wie überall. Es ist ein bedingtes Versprechen: „Wenn Ihr Euch zufrieden gebt, wenn Ihr brav seid, wird Euch nichts passieren!“

Und was hat das mit der Wiener Uni zu tun? An einem Lehrstuhl der Politikwissenschaft ist Lorey an erster Stelle nominiert. Dass die „Theorie des Bullshit“ – „durch hochtrabendes Gehabe in Wort und Tat irreführende und verfälschende … Darstellung eigener Gedanken, Gefühle oder Einstellungen“ (Harry G. Frankfurt) – an den universitären Sozialwissenschaften gut vertreten ist, erstaunt weniger. Aber es ist schon misslich, dass nunmehr solche Beiträge nicht ungern als „links“ missverstanden werden. Prekariat und die existenzielle Verunsicherung der eigenen Existenz sind wichtige Kampfmittel der Elite und sehr ernst zu nehmen.

Die Instrumentalisierung dessen durch ambitionierte Sprösslinge der gehobenen Mittelklasse ist eine ganz andere Sache. Die eifrigsten Vorkämpfer eines solchen zynischen Missbrauchs sind mittlerweile die Grünen. Wegen der geforderten Zwangs-Abgabe auf Speichermedien („Festplatten-Gebühr“) weinen nun manche einer der reaktionärsten Figuren unserer Politik nach, der jungen Frau Fuhrmann von der burgenländischen ÖVP – jener Frau Fuhrmann, die seinerzeit gemeint hat: Was regen sich die Pensionisten denn so auf über die Kürzungen? Ist ja eh nur eine Wurstsemmel in der Woche. Oder sehen wir uns das Programm der Grünen zur NR-Wahl 2013 einmal an: „Ein Drittel der Kunstschaffenden verdient weniger als 700 Euro im Monat… Wer weniger als 18.000 Euro im Jahr verdient, erhält die Differenz aus einem Fonds.“ Kann man den Zynismus weiter treiben? Die Grundsicherung beträgt unter einer Reihe von demütigenden und harten Bedingungen derzeit 794,91 Euro. Die Grünen aber kommen flott daher und sagen: „Künstler“ (wer ist das?) müssen das Doppelte bekommen, egal ob sie was tun oder nicht. Aber das passt ganz gut zum Verhalten bisher: Grüne Studenten haben vor wenigen Jahren arrogant erklärt: Wir wollen mindestens 1.100 Euros haben; „Studenten brauchen dies eben!“

19. Oktober 2013

Thema
Archiv