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Für einen neuen Internationalismus – gegen den Alptraum vom Weltstaat!

13. April 2014
Von A.F.Reiterer

Reflexionen zu einem fundamentalen Thema


Wo liegt heute die Souveränität wirklich, beim Nationalstaat oder beim übernationalen?

Souveränität ist ein zwielichtiges Konzept. Carl Schmitt war Nazi; er war aber hoch intelli­gent. Er wies um diese Zeit auf seine Wurzeln hin: Es ist der Gedanke der Allmacht Gottes, den man nun auf den irdischen Gott, den Leviathan, den Staat übertragen wollte. Was Carl Schmitt als fundamentalistischer Katholik allerdings nicht einsehen konnte und wollte, hat Emile Durkheim aufgezeigt: Der Gottesbegriff selbst ist nichts Anderes als die Idealisierung und Hypostasierung der Gesellschaft und in der Folge ihrer Organisation, des Staats. Es war übrigens Marx, der bereits in den „Grundrissen“ (o. J. [1857]) diesen Gedanken formulierte.

In der „asiatischen Grundform“ der Gesellschaft und des Eigentums – sagt Marx (o.J., 376 f.) – wird die „umfassende Einheit die über allen diesen kleinen Gemeinwesen steht, als der höhere Eigentümer oder der einzige Eigentümer“ betrachtet, „die wirklichen Gemeinden daher nur als erbliche Besitzer“. Die „Gesamtheit, die im Despoten realisiert ist, als dem Vater der vielen Gemeinwesen“, erscheint nur „durch die Vermittlung der besonderen Gemeinde. Das Surplusprodukt gehört damit von selbst dieser höchsten Einheit.“ Sonderlich klar ist dieser Passus vielleicht nicht formuliert, zu hegelianisch. Und doch finden wir hier den Ansatz zu einer Theorie des Staats.

 Chefre trägt Horus, ist Horus

 

Robert Carneiro hat in den 1970er den Anspruch erhoben, den Ursprung des „Staats“ aus der „Eingrenzung“ (circumscription) von wesentlichen Ressourcen zu erklären. Seine Über­legungen – bei freien Ressourcen besteht immer die Möglichkeit, der politischen Herrschafts­bildung auszuweichen, ist ziemlich wichtig. Bis ins 19. Jahrhundert hinein kann man davon noch etwas lernen, selbst bei der Kolonisierung des dann US-amerikanischen Westens. Aber den Staat erklärt er damit nicht, allenfalls eine ziemlich wichtige Phase im politischen Herrschaftsaufbau, in der Ursprünglichen Usurpation der Macht.

Denn Souveränität wurde zum eigentlichen begrifflichen Fetisch. Und als solcher ist er tat­sächlich Teil des traditionalen Staatsverständnisses. Usurpation der Macht wird erst dann möglich, wenn die Verkörperung der Macht, ob ein Pharao oder eine „Staatsidee“, nicht mehr dem Alltag der Beherrschten angehört. Der Große Mann oder der Dorfhäuptling ist noch im­mer Mensch, isst, schläft, scheidet aus und ist erkenntlich verwundbar. Sogar der Oberhäupt­ling (paramount chief) über mehrere Dörfer, ist erst eine Zwischenstufe. Erst der Pharao, das „große Haus“, ist Gott oder zumindest Stellvertreter Gottes, die Verkörperung des Himmels.

Aber der Staat hat einen besonderen Charakter. Max Weber hat darauf hingewiesen: Der Staat kann nicht zuletzt deswegen fast unbefragt agieren, weil er in seiner Machtfülle auch ein ganz spezifisches Pathos mit sich trägt. Seipel hat daraus eine ganze Mystik des Staats her geleitet. Ihm ging es darum, die Nation abzuwerten. Warum? Der Staat wurde im Denken damals durch die Nation als seine Trägerin legitimiert, durch „das Volk“. Das wünschte der autoritäre Geistliche keineswegs. Vom Volk legitimieren wollte er den Staat nicht lassen. Nicht Volks­souveränität, sondern Gottgnadentum wollte er.

Die Rationalität der Gegenwart hat diese Konstruktionen teilweise, aber nicht zur Gänze un­terhöhlt. Einem Fetisch schreibt man direkt ein Wirken zu, das er vielleicht symbolisieren, aber nicht ausüben kann. Das verfängt heute nicht mehr wirklich: Und doch hat die Souverä­nität in der Politik und in der Jurisprudenz ihren Fetisch-Charakter noch nicht ganz verloren. Man muss ihn also dekonstruieren. Souveränität ist nichts als die faktisch ausgeübte konzentrierte Macht des Staats.

Nationalstaatliche Kompetenz bedeutet heute mehr denn je eine gewisse Schutzfunktion für die Unterschichten. Sicherlich, das dürfen wir nicht überschätzen. Aber der Druck bevorsteh­ender Wahlen wirkt immerhin ein wenig. Es ist das sicherste Zeichen der demokratie-politi­schen Belanglosigkeit des EP, dass von seiner Wahl nicht der geringste Druck auf die Politik ausgeht. – Um den Druck der Bevölkerung auf die nationale Politik zu mildern, haben die heutigen Regierungsparteien (ÖVP, damals mit BZÖ, SPÖ) 2007 die Legislaturperiode ver­längert, als sie noch die Verfassungsmehrheit hatten. Was aber die Grünen von Demokratie halten, haben sie auch in diesem Fall wieder demonstriert. Die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre hat einen hohen symbolischen Wert. Die Kinder sind zwar noch nicht volljährig und voll geschäftsfähig. Aber ein bissl wählen werden sie doch dürfen …

Die EU ist die regionale Variante, die europäische Filiale des Weltstaats. Somit ist es alles Andere als ein Zufall, dass gerade in diesem Kontext das Vokabel Souveränität con brio eingesetzt wird. Je weiter weg vom „Bürger“, umso eher hat der Fetisch reale Bedeutung.

Der neue supranationale Staat, und das beirrt manche auf der Linken, versucht auch dem Finanzkapital gewisse Regeln aufzudrängen. Aber das ist doch genau das, wozu der Staat für das Kapital überhaupt gut ist: Er ist der ideelle Gesamtkapitalist, wie sich Marx seinerzeit ausgedrückt hat. Und der supranationale bürokratische Staat, Brüssel, ist der ideelle Gesamt-Finanzkapitalist. Der muss eben bisweilen den einzelnen Spekulanten auch disziplinieren. Überdies meint die Bürokratie ja immer, dass sie der Weisheit letzter Schluss ist.

Aber es ist trotzdem eine fast groteske Ironie. Ausgerechnet unter den Linken, die teils den Staat abschaffen wollen, wie die Anarchisten, teils ihn von selbst absterben sehen, wie es bei Lenin heißt, ausgerechnet diese Linke pflegt einen Staatsmythos und will einen Weltstaat bauen.

Wenn wir aber diesen Fetisch wirklich dekonstruieren und trotzdem die Großorganisation als notwendige Voraussetzung sowohl des Wohlstands als auch einer Abwehr gegen die Oligar­chie einsetzen wollen, dann gibt es theoretisch eine nüchtern-einfache Lösung: Die Staats­gewalt darf nicht konzentriert sein.

Ein neuer Internationalismus wird daher versuchen müssen, das zu tun, was realiter ohnehin eine Zeitlang praktiziert wurde: Wir müssen nach einer variablen Geometrie für die unter­schiedlichen funktionalen Notwendigkeiten suchen. Beispiele? Wir haben in Europa seit einem hal­ben Jahrhundert den Europarat und den EGMR, den Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte in Strassbourg. Der ist gewiss nicht vollkommen. Aber er ist für Grund- und Menschenrechte ein wesentlich besserer Schutz als eine EU-„Grundrechte-Charta“, die teils absurde Bestimmungen aufweist, und die zum Krenreiben für jene ist, welche des Schutzes wirklich bedürfen, nämlich die Minderheiten und nicht die Eliten. Es ist doch wohl kein Zu­fall, dass sich die EG / EU seit Jahrzehnten weigert, dem Europarat und der Menschenrechts­konvention beizutreten. Sie will sich nicht durch solche Kleinigkeiten wie Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrem Agieren einengen lassen. Eine Zeitlang hat sie aktiv versucht, den Europarat zu ruinieren, nicht völlig ohne Erfolg.

Für andere Funktionsbereiche wird es andere Organisationsformen geben. Die werden auch andere Mitglieder haben. Eine Freihandelszone oder auch eine Zollunion macht durchaus Sinn. Aber die Hochentwickelten und die Peripherie sollten doch wohl nicht in derselben Organisation sein: Der Kern wird die nicht-kompetitive Peripherie sonst nur zugrunde richten. Wir können dies gegenwärtig gut beobachten – und Friedrich List hat dies im 19. Jahrhundert schon gewusst.

Usw.

Der Traum vom Weltstaat war stets der Traum machtgeiler Intellektueller. Sie wollten an die Stelle der alten Eliten treten und allen anderen ihre Lebensart aufzwingen. Wir wissen, was daraus entstanden ist. Er ist zum Alptraum geworden – außer für viele Intellektuelle! Wir sehen auch gegenwärtig, wohin dies läuft. Es ist Zeit, sich von solch düsteren Utopien zu verabschieden.

 

Carneiro, Robert L. (1970), A Theory of the Origin of the State. Traditional Theories of the State Origin are considered and rejected in favor of new ecological hypotheses. In: Science 169, 733 – 738.

Carneiro, Robert L. (1977), A Theory of the Origin of the State. In: Studies in Social Theory No. 3, 3 – 21. (Menlo Park: Institute for Human Studies.)

Marx, Karl (o.J. []), Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Frankfurt / M.: Europa Verlag.

10. April 2014

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