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Die wachsenden Sorgen der Eliten und ihrer Intellektuellen

17. Dezember 2014
Von A.F.Reiterer

„Bruchlinien“ und Ungleichheit


 

Letzte Woche hat sich ein Arbeitspapier aus der OECD in den Zeitungen ein bisschen Platz erkämpft. Ungleichheit bremst Wachstum (Cingano 2014). Es ist nicht gerade die neueste Erkenntnis, diese fast schon triviale Aussage. Was dieses umfangreiche Arbeitspapier interessant macht ist, wie so oft, die Tatsache, wer sowas sagt: Die OECD war und ist die Speerspitze des Neoliberalismus vor allem für Europa. Auf den Inhalt werden wir kurz noch eingehen.

Ein Teil der intellektuellen Prominenz an der Spitze ist unverkennbar um das System und sein Funktionieren besorgt. Das gilt für diese Gruppe sogar ausgeprägter als für den Großteil der Bevölkerung. Und es sind nicht irgendwelche Leute, es sind teils die großen Kaliber aus dem Feld, welches zwischen Ökonomie und Politik liegt. Joseph E. Stiglitz war Weltbank-Chef­ökonom; R. G. Rajan war Chefökonom des IMF; Paul Krugman hat nicht nur den Preis der Stockholmer Zentralbank („Wirtschafts-Nobelpreis“) erhalten, einer Institution, die damit seit Jahrzehnten den Neoliberalismus aufpeppt, er war zu Reagans Zeiten Regierungsberater. Da wirken Menschen wie Thomas Piketty oder Andrew Sayer („Warum wir uns die Reichen nicht leisten können“) geradezu bescheiden.

Nur um das klarzustellen: Das sind systemimanente Kritiker, welche dieses System auch erhalten wollen. „Ich glaube, dass die Grundidee des freien Unternehmertums gültig ist“, meint Rajan, und Thomas Piketty wendet sich explizit gegen „öden Antikapitalismus“. Aber sie sehen, was andere ˗ nach ihrer Meinung ˗ sich weigern zu sehen: Geht der Ablauf weiter wie bisher, dann ist dieses System akut bedroht.

Da ist es schon interessant, dass diese Ökonomen sich ausgerechnet der Frage annehmen, was die wachsende Ungleichheit für Folgen hat. Die Gründe werden unterschiedlich formuliert. Bei Cingano aus der OECD ist es die negative Auswirkung erhöhter Ungleichheit auf das Wachstum, das ihn besorgt macht. Das Wachstum selbst stellt er keineswegs in Frage. Die Idee, dass das BIP kein sonderlich guter Wohlstands-Indikator ist, scheint ihm nicht im Traum zu kommen.

Aber, für Österreich speziell und auch für Deutschland nicht uninteressant, er konstatiert: Größere Ungleichheit behindert insbesondere die Menschen aus der Unterschicht, am Bildungssystem entsprechend teilzunehmen und senkt daher auf Dauer die Produktivität. Das Argument ist mehrfach interessant. Da ist zum Einen die naive Gleichsetzung von höheren Einkommen der Menschen mit höherer formaler Bildung mit Produktivität. Die Quasi- und Pseudo-Meritokratie über die Bildungsebene und die Abschlüsse werden nicht im Geringsten reflektiert. Dass in einer hoch vernetzten Wirtschaft der Beitrag des Einzelnen auf der Output-Seite im Allgemeinen gar nicht mehr gemessen werden kann, ist ihm offenbar ein fremder Gedanke. Dazu passt, dass Bildung in Jahren gemessen wird. Das ist gang und gäbe. Dabei müsste jedem, der die Augen aufmacht, auffallen: Es kommt nicht auf die Bildungsdauer an. Es ist ausschließlich der Bildungs-Abschluss, der zählt. Ich erinnere mich noch an die Laudatio für einen alten und sehr fähigen B-Beamten in der Statistik. Er hatte sein Jus-Studium seinerzeit nicht fertig gemacht. Und die Abteilungsleiterin meinte: „Nur eine Staatsprüfung mehr, und ihm wäre jede A-Karriere offen gestanden…“

Eher nebenbei bemerkt, aber nicht ganz unwichtig: Das sollte auch Auswirkungen auf die Methodik solcher Untersuchungen haben. Ökonomen rechnen stets Regressionen. Dabei wird ihre Technik immer komplizierter, oft bis zur Unverständlichkeit für Nicht-Statistiker. Aber das bezieht sich meist auf Nebenprobleme, welche erfahrungsgemäß wenig Auswirkungen auf die Ergebnisse haben. Regressionen setzen aber prinzipiell kardinale Messgrößen voraus. Man muss von den Werten sagen können: x ist doppelt so groß wie y, wie eben 6 doppelt so hoch ist wie 3. Das ist weder bei der Bildungsebene der Fall noch gar beim Geschlecht. Ein Lehrabschluss ist nicht „doppelt so viel“ wie ein Pflichtschulabschluss. Für das Geschlecht werden meist Dummies, Hilfsgrößen eingesetzt, auch für Länder. Es gäbe aber eine passende Technik, das log-lineare Modell. Zugegeben, es ist aufwendig, und es ist nicht immer ganz einfach, es zu interpretieren. Aber die Ökonomen bilden sich doch sonst soviel auf ihre statistischen Fähigkeiten ein.

Und noch etwas: Diese OECD-Studie benützt das „Haushalts-Äquivalenz-Einkommen“. Das ist aber kein Einkommen, das ist eine Schätzung für den Wohlstands-Effekt, welcher dem Einzelnen und einem Haushalt bestimmter Größe durch seine Einkommen gegeben wird. Das enthält bereits die Reaktion z. B. auf sinkende Einkommen, wenn etwa Kinder nicht aus dem elterlichen Haushalt ausziehen; usw. Es vermindert also drastisch die wirkliche Ungleichheit. Und so könnte man noch einiges sehr Fundamentales kritisieren.

Bleiben wir trotzdem noch einen Moment bei dieser OECD-Studie. Sie bezieht sich auf die Jahre 1985 bis 2010. Noch immer wächst die Ungleichheit in den USA. Aber interessant ist Europa. Den größten Schub zu mehr Ungleichheit stellen wir in Schweden und Finnland fest, aber auch Deutschland sticht hervor. Schweden hat den mitteleuropäischen Sozialdemokraten stets als Vorbild gegolten. Nun müssen wir festhalten: Das „schwedische Modell“ kommt wirklich den Eliten zugute.  Eine hohe Marktungleichheit, die „200 Familien“ in Schweden, kann vielleicht eine Zeitlang politisch etwas korrigiert werden, durch Steuern bzw. öffentliche Leistungen an die unteren 95 %. Aber dieses Modell ist leicht revidierbar. In Schweden hat sich die Stimmung in der Elite gedreht, wie auch im übrigen Europa. Wenn man sich also auf hohe strukturelle Ungleichheit einlässt, wie im Norden, dann ist eine sekundäre Korrektur ein Glücksspiel. Den Eliten fällt schon was ein. Mit dem EU-Beitritt hat sie die Entscheidungen aus Schweden wegverlagert, obwohl die dortigen Sozialdemokraten willfährig genug waren, schon Ende der 1980er.

Es wären noch eine Reihe von Einzelheiten besprechen. Verschieben wir sie auf ein anderes Mal. Die Einwanderung muss seriös angesprochen werden, sonst übernehmen so schmutzige Strömungen wie PEGIDA, DÜGIDA, BOGIDA, und wie sie alle heißen, das Thema.

Ungleichheit ist also ein Thema. Aber es ist nicht das einzige Problem der Besorgten. Wenn allerdings ein Ökonom, der für ein US-amerikanisches Publikum schreibt, vor allem Deutsch­land und China wegen ihrer forcierten Export-Orientierung kritisiert, dann macht dies seine Argumente zwar nicht falsch. Aber ein bisschen misstrauisch wird man schon.

Aber der wesentliche politische Punkt ist: Der Großteil der Bevölkerung unterliegt (noch?) so völlig der Hegemonie einer geballten Macht von Politik und Medien, dass sie kaum an die grundsätzlichen Probleme herangeht. Sicher, die ärgsten Auswüchse erzeugen Wut und Über­druss. Die HAA in Österreich, die massiven Geldgeschenke der Regierung an die Banken in Deutschland, die dauenden Gängelungen seitens der EU fast in allen Ländern ˗ die Frustration ist hoch. Und die politischen Spitzen versuchen teilweise zu beschwichtigen, mit einer „Millionärs-Steuer“, statt mit einem Umbau des Steuersystems; mit Zahnspangen für die Teenager, in einem Gesundheitssystem, das immer mehr allgemeine Leistungen verweigert; mit dem Umtaufen von Hauptschulen in „Neue Mittelschule“, anstelle mit einem integrativen Konzept der Bildung.

Einige aus der Elite haben begriffen: Auf die Dauer wird dies so nicht funktionieren. So machen sie zunehmend auf die Probleme aufmerksam. Und sie werden teilweise auch gehört ˗ von sensiblen Gruppen der Oberen Mittelschicht, wie der Erfolg ihrer Bücher belegt. Die Linke aber scheint in unserer Gegend bisher wenig Chancen zu haben. Noch haben hier wesentlich mehr Leute viel mehr zu verlieren als mittlerweile in Spanien und Griechenland. Die Frage ist: Wenn sich die Unterschichten zu lange an diese unbestreitbare Tatsache klammern und an die Hoffnung, dass es so bleibt, wie lange wird sich eine zynische Elite von diesen Ängsten wirklich beeindrucken lassen?

17. Dezember 2014

 

Cingano, Federico (2014), Trends in Income Inequality and its Impact on Economic Growth. OECD Social, Employment and Migration Working Papers No. 163. http://dx.doi.org/10.1787/5jxrjncwxv6j-en

Piketty, Thomas (2013), Le capital au xxie siècle. Paris: Seuil.

Rajan, Raguram G. (2010), Fault Lines. How Hidden Fractures Still Threaten the World Economy. Princeton: Univ. Press.

Sayer, Andrew (2014), Why We Can’t Afford the Rich. Bristol: Policy Press.

 

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