Doch ist es unumgänglich den Kontext in Rechnung zu stellen, jenen des syrischen Bürgerkriegs, der innertürkischen Konflikte sowie natürlich der massiven regionalen und globalen Einmischung.
So darf nicht vergessen werden, dass die türkische Aggression eine sehr breite politische Unterstützung praktisch des gesamten politischen Systems außer natürlich der Kurdenvertreter genießt. Der antikurdische Chauvinismus ist eine Grundkonstante des türkischen Staates, für die alten Eliten repräsentiert durch CHP, MHP, Iyi noch mehr als bei den neuen Eliten der AKP.
Die Unterstützung des Westens für die antikurdische Politik ist ebenso eine Konstante, unter der Nato-Militärdiktatur in den verschiedenen Varianten des Kemalismus sowieso, aber auch unter Erdogan. Lediglich mit der zunehmend konfessionalistischen und jihadistischen Form der türkischen Intervention in den syrischen Bürgerkrieg und dem Verzicht auf eine direkte US-Militärintervention blieb Washington und mit ihm dem Westen in Syrien nur die Kurden als Verbündete übrig.
Mit dem syrischen Abenteuer hat Erdogan den Bogen weit überspannt. Den Rückschlag beherrscht er nicht. Er und sein neoosmanischer Adjutant Davutoglu wollten auf der Basis eines demokratischen und islamischen Kapitalismus die Türkei zur Zentralmacht der Region machen. Doch mit Ankaras wesentlichem Zutun wandelte sich die demokratische Revolte in Syrien in einen konfessionellen Bürgerkrieg mit immer größer werdender regionaler und internationaler Einmischung.
Nach dem halben Fehlschlag im Irak, wollte Obama keine abermalige Intervention, die zudem wenig kontrollierbare Islamisten an die Macht gebombt hätte. Genau darauf hatte Erdogan aber gehofft und gesetzt. Er ging nun auf eigene Faust los. Doch die Russen waren stärker und gewannen mit iranischen Bodentruppen die Oberhand.
Damit war der neoosmanische Traum endgültig geplatzt. Statt lauter Freunden war Erdogan nur noch von Feinden umgeben und so isoliert wie nie zuvor. Er musste den Rückzug antreten, ordnete sich Russland unter – und versucht zu retten was zu retten ist.
Die gegenwärtige Invasion Nordsyriens kann nur mit der Duldung Russlands stattfinden. Sie ist einerseits begrenzt, andererseits wird ein Preis zu zahlen sein und der heißt Idlib. Damit muss Erdogan akzeptieren, dass er als Schutzherr der Jihadisten versagt hat, er muss die Kräfte, die er gerufen hat, ans Messer liefern. Er verliert damit einen Teil seiner Klientel. Er muss abermals Federn lassen, nachdem er eh schon ordentlich gerupft wurde und sich immer mehr den Kemalisten an den Hals werfen musste.
Zudem, Russland ist nicht unbedingt antikurdisch, lediglich ist Moskau Assad und auch das Einvernehmen mit der Türkei wichtiger.
Die PYD-Kurden haben einen historischen Fehler begangen, auf die USA zu setzen. Klar, es war verlockend. Zuerst war Kobane, eine Schlacht, ohne die die territoriale Autonomie verloren gewesen wäre. Doch den Sieg des IS, den Ankara taktisch unterstützt hätte, wollten die USA nicht zulassen. Sie gingen viel weiter, ließen die diversen islamischen Kräfte (außer an der jordanischen Front, wo sie den Fluss an Geld und Waffen kontrollierten) fallen und setzten alles auf die kurdische Karte. Die SDF stieß so mit US-Hilfe weit auf arabisches Gebiet vor, ein letztlich annexionistischer Akt, der einen politischen Preis haben wird.
Warum nun die US-Kehrtwende? Der Trump-Faktor ist sicher wichtig, da er manchmal auch nicht deckungsgleich mit den Interessen der US-Eliten handelt. Tatsächlich will der Präsident die US-Truppen aus einigen Konflikten zurückziehen, was die Vorherrschaft der USA schwächt – was unbedingt zu begrüßen ist. Andererseits bleibt die Türkei ein wichtiger Nato-Staat und die Annäherung an Russland ist Washington ein Stachel im Fleisch. Um da zu entspannen, können die Kurden schon einmal eingeschränkt werden. Die Frage ist, wie weit der US-Abzug gehen wird.
Nun müssen die Kurden retten was zu retten ist. Das heißt einerseits gegen die Türkei in Absprache mit Russland syrische Regierungstruppen in verlassenes Territorium einrücken zu lassen – es ist jedoch zweifelhaft, ob diese überhaupt genug Truppen haben. Aspekte der Autonomie werden sich erhalten.
Auf der anderen Seite geht es darum politische Brücken zu den antiimperialistischen, demokratischen und emanzipatorischen Kräften in der Türkei und auch Syrien wieder aufzubauen. Im Befreiungskampf kann es keine Abkürzungen mit Hilfe des Imperialismus geben.
Erdogan ist bei weitem nicht so stark, wie er scheint, darum auch seine Wendung zum antikurdischen Chauvinismus, denn er war ja auch mit dem Versprechen eines Ausgleichs mit den Kurden groß geworden und hatte tatsächlich Verhandlungen aufgenommen. Nach ihm droht die Rückkehr zu einer Variante der alten kemalisierenden Eliten, die wieder in die Arme der USA zurückdrängen. Es war ein schwerer politischer Fehler, am Angebot Erdogans auf einen Ausgleich nicht drangeblieben zu sein, selbst als dieser es schon wieder zurückgezogen hatte. Vielmehr wäre es dabei darum gegangen, das kurdisch-islamisch Segment in der Türkei dafür zu gewinnen.
Assad wiederum steht zwar vor einem Sieg, der mit sehr viel Blut geschrieben wurde, aber dessen Wunden nicht verheilen werden können – dazu ist die Form seines Regimes nicht fähig. Zudem hat er sich in die Abhängigkeit von Russland und Iran begeben, aus der er nicht herauskommen wird. Auch wenn die syrische Erde verbrannt und mit Blut gedrängt, es wird eine Generation kommen, die einen Neuanfang der Selbstbestimmung versuchen kann. Auch da können und müssen die Kurden eine Rolle spielen.