Es ist die größte und tiefste Volksmobilisierung in den USA seit der Bürgerrechtsbewegung vor mehr als einem halben Jahrhundert. Sie hat die meisten großen aber auch viele kleinere Städte erfasst. Der Corona-Notstand hat dem keinen Abbruch getan. Im Gegenteil. Er hat das Elend und damit auch die Wut der systematisch diskriminierten schwarzen Unterschichten, die von Corona am härtesten getroffen wurden, noch weiter angefacht.
Jahrzehnte vergingen, wo Neoliberalismus mit White Supremacy gepaart, zu einer unvorstellbaren sozialen und kulturellen Kluft geführt hat, hat die Afroamerikaner ausgeschlossen – das ist zwar bekannt, aber nicht, wie groß dieses Ausmaß war und ist. Es hat ein Regime etabliert und gefestigt: das der permanenten Repression und Militarisierung, ein System der Klassen- und Rassenjustiz, ja, man könnte sagen eine Form der neuen Sklaverei, ausgedrückt in einer schwarzen Gefängnisbevölkerung von einer dreiviertel Million. Jeden Afroamerikaner trifft soziale und kulturelle Diskriminierung und das Risiko, dass er von der Repressionsmaschine erfasst wird, ist sehr hoch. Die zahllosen Polizeimorde sind nur die Spitze des Eisbergs. Schwarze Leben zählen einfach nichts oder jedenfalls viel weniger als weiße. Darum trifft der Name blacklivesmatter den Nagel auf den Kopf.
Doch im Unterschied zu den 1960er Jahren trifft die Revolte auf eine Elite, die zu keinen substantiellen Zugeständnissen bereit ist. Damals wurde nicht nur die Rassentrennung abgeschafft, sondern das Prinzip der affirmative action, der aktiven Förderung, etabliert.
Klar, es gibt einen Konflikt innerhalb der herrschenden Elite, wie mit der Revolte umzugehen ist. Trump will seine Wiederwahl sichern und setzt auf demonstrative Repression und White Supremacy. Wichtigen Teilen des Staatsapparats geht das entschieden zu weit. Bei mehr als 40% an Afro-Amerikanern innerhalb der Streitkräfte wäre deren Einsatz nach innen eine große Gefahr. Trump gießt einfach Öl ins Feuer und das will das Regime nicht. Zudem führen auch die Liberalen Wahlkampagne. All das darf man mit der Bereitschaft, wirkliche Zugeständnisse zu machen, nicht verwechseln.
Die Bewegung hat bereits zwei sehr große Erfolge erreicht. Einerseits die Strafverfolgung der mordenden Polizisten. Denn das ungeschriebene Gesetz sichert ihnen Straffreiheit zu und allein die Anklagen zerrütten den Zusammenhalt des Polizeiapparats enorm. Die Realverfassung ist in Frage gestellt. Das Kalkül geht sicher dahin, dass die Justiz das schon wieder regeln wird, wenn die Bewegung abebbt. Ein noch größerer Erfolg ist die Reorganisation der Polizei von Minneapolis, allein durch die Begründung: „wegen Unreformierbarkeit muss sie aufgelöst werden“. Welche Ergebnisse das bringen wird, hängt einzig von der Kraft und Dauer der Bewegung ab.
Derzeit ist die schwarze Revolte nicht allein, sondern es besteht ein Bündnis mit einem Teil der linken und städtischen Mittelklassen, auch Weißen, die selbst Opfer des Neoliberalismus geworden sind. Das ist sehr wichtig, gibt Antrieb und schützt (ein bisschen) vor Repression.
Natürlich greift hier der Apparat der Demokratischen Partei auch ein und versucht Stimmen für Joe Biden zu gewinnen. Doch die Chancen, dass sich politische Kräfte etablieren und konsolidieren, die nicht mehr der Logik des kleineren Übels folgen wollen, die die Demokraten gänzlich ablehnen, ist besser als jemals zu vor.
Die herrschende Klasse der USA ist gleichzeitig das Zentrum der Welt. Da hat man offensichtlich einen Goliath zum Gegner und Bewertungen von Erfolg und Misserfolg muss dieses Faktum mit in Rechnung stellen. Aber allein die Tatsache, dass Trump zum Herrschaftserhalt auf White Supremacy setzen muss und der Liberalismus in Teilen der Mittelschichten diskreditiert ist, muss in letzter Instanz als Schwäche angesehen werden. Den Eliten reicht der Weiße Block vorerst zur Herrschaft aus, doch die Breite des alten Liberalismus, der praktisch oppositionslos war, weist er nicht mehr auf. Jetzt ist eine Regimeopposition am Entstehen, die wahrscheinlich auch weiterbestehen kann, wenn der Restliberalismus des Demokraten Biden an die Präsidentschaft kommen sollte. Das gab es zuletzt in den 1930er Jahren.
Blacklivesmatter bei uns
Auch in Europa gibt es durch den Neoliberalismus eine immer stärkere soziale Differenzierung und einen kulturell überformten Ausschluss, insbesondere von Muslimen. Doch das Ausmaß erreicht nicht jenes der USA und vor allem haben die Eliten den offiziellen Antirassismus und die Menschenrechtsideologie noch nicht über Bord geworfen, sondern halten daran fest. Sie betreiben den Spagat der identitären Mobilisierung unter Einschluss von Diversity („wir sind die Guten“ – siehe das Schwarzgrüne Regierungsprogramm). Das geht nicht ohne ein gerüttelt Maß an Heuchelei, ja bisweilen Verlogenheit.
Die enorme Welle der Sympathie für Blacklivesmatter bewegt sich in diesem Spannungsfeld, das ein wenig an die Lage vor dem Irak-Krieg 2004 erinnert. Auch hier versuchte sich der (Links)liberalismus als Alternative zu präsentieren, als der Vertreter des „guten Amerika“, repräsentiert durch Obama. Obama ist in den USA unter den Schwarzen selbst politisch tot. Unter ihm hat sich an ihrer Situation nichts substantiell gebessert. Doch in Europa geistert das Gespenst noch herum.
Ganz entscheidend zur Abwehr der Vereinnahmungsversuche des Linksliberalismus ist die Entwicklung von ganz konkreten Forderungen, die an der Bewegung anknüpfen aber auch über sie hinausgehen:
1) Zunächst geht es natürlich um die Rechte der Schwarzen und Menschen anderer Hautfarbe hier. Der wirkungsvollste Hebel ist dabei affirmative action, also gezielte Förderung für mehr Farbige in öffentlichen und auch privaten Positionen, auch in höheren Hierarchieebenen. Besonders wichtig wäre das für die Polizei und die Justiz.
2) Dazu bedarf es natürlich auch der Kontrollinstanzen. Doch hier beginnt das Problem des Kriteriums. Der offizielle Antirassismus kommt nur jenen zugute, die sich bedingungslos dem Liberalismus unterwerfen. Nur dann zählt die Hautfarbe nicht. Noch mehr, der offizielle Antirassismus dient auch dazu, Opposition, vor allem antiimperialistisch-postkoloniale, zu denunzieren, insbesondere wenn sie in islamischen Farben auftritt. Darum legen Sobotka & Co so viel Wert darauf, Türken, Araber und Muslime als Antisemiten zu verunglimpfen. Das funktioniert viel besser, als ein offener Rassismus, ja tarnt sich antirassistisch und lenkt von der eigenen unhinterfragten antisemitischen Vergangenheit ab. Die ÖVP hat sich ja vom antisemitischen Austrofaschismus nie ganz abgegrenzt.
Hier liegt ein großer ideologischer Unterschied zur USA. Die europäischen Eliten haben Bruchstücke der Linken übernommen. Sie sprechen nicht offen von den Weißen, wie Trump und sein Block, sondern nennen sich die Aufgeklärten und Geläuterten („jüdisch-christliches Abendland und das Erbe der Aufklärung“, als wäre das so einfach zu vereinen). Auf dieser Basis lassen sich die „Barbaren“ viel leichter ausschließen, als Gefahr für die Zivilisation auf kulturell-politischer Ebene und nicht auf rassischer. Das Symbol für diese Identitätspolitik ist die Ablehnung und Verfolgung des Kopftuches. Dagegen muss sich die Bewegung eindeutig stellen. Der Antirassismus muss umfassend verstanden werden und vor allem auch dem dominanten Kulturchauvinismus entgegentreten.
3) Die Sklaverei ist eine Form und Folge des Kolonialismus und Imperialismus. Das ist offensichtlich. Die meisten ehemaligen Kolonialstaaten haben sich von ihrer Geschichte nicht distanziert – wie beispielsweise die Führungsnation der Zivilisation, das Land der Französischen Revolution. In der Bewegung geht es sehr stark darum, Ansprüche aus den Folgen des Kolonialismus und Imperialismus einzufordern. In einem Land wie Österreich erscheint das nicht als unmittelbar, aber natürlich geht es um die Unterentwicklung und Unterdrückung, die Ursache der Migration war und ist. Diese Ansprüche und diesen Nexus versucht der Liberalismus abzuwehren.
Am deutlichsten und exemplarisch sieht man das an der Palästinafrage. Israel ist der letzte große westliche Siedler-Kolonialismus, der den Holocaust schamlos für seine imperialistischen Zwecke nutzt. Die Verdrehung des Antifaschismus und die Inanspruchnahme des Kampfs gegen den Antisemitismus für neokoloniale Zwecke, wird von Vielen nicht verstanden. Das wird durch die Nutzung von kontextlosen Versatzstücken linker Ideologeme erreicht.
Darum muss es heißen: Wer über die Rechte der Palästinenser nicht reden will, soll auch von Blacklivesmatter schweigen, denn das ist ein Kampf.
4) Ungezielter Rassismusvorwurf: So wie es beim Wechsel hin zu einem offiziellen Antifaschismus um 1989/91 sehr stark darum ging, mit der Kollektivschuldthese die kapitalistischen Eliten für die Katastrophe des Weltkriegs zu entschuldigen, gibt es im offiziellen Antirassismus eine Tendenz, die Bevölkerung als Ganzes verantwortlich zu machen. Dabei ist es historisch und gegenwärtig ein qualitativer Unterschied, ob Chauvinismus und Rassismus von den Eliten und ihren Institutionen verwendet wird oder ob es ein Ressentiment in der Bevölkerung gibt. Natürlich besteht da eine Wechselwirkung, aber ganz simpel gesagt: die akute Gefahr geht von der Nutzung von Rassismus und Chauvinismus durch die herrschenden Eliten aus.
Politisch gewendet: Es ist sehr wichtig und sinnvoll, präzise Forderungen zur Gleichberechtigung an die Eliten zu richten. Es ist jedoch sinnlos, die Unterschichten kollektiv als Rassisten zu denunzieren. Noch mehr, das lenkt letztlich Wasser auf die Mühlen des offiziellen elitären Antirassismus.
5) Offene Grenzen? Die Globalisierung versuchte, sich links einzukleiden – grenzenlose Freiheit für alle. Doch der Sachzwang des Marktes wirkt als brutaler Sozialdarwinismus, der alle dem Kapital gesetzte Grenzen einzureißen versucht. De facto hat das Freihandelsregime die nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten sozialen und politischen Errungenschaften systematisch angegriffen. Die imaginäre Weltpolis der „Globalisierung von Unten“ beförderte die Diktatur des US-geführten Kapitals und demontierte und diskreditierte die unvollkommenen, aber realen Poleis der Nationalstaaten, die als einzige den Druck der Mehrheit institutionalisierten.
Was heißt das für die jetzige Bewegung?
Mittels Grenzen die Bewegung von Kapital, Waren und Arbeitskräften politisch zu regulieren, ist nicht automatisch rassistisch, sondern letztlich die einzige Möglichkeit, die Interessen der Mehrheit gegen die Eliten durchzusetzen. Die Polis gegen andere Poleis abzugrenzen ist eine conditio sine qua non. Erst dadurch kann der Anspruch auf die Volkssouveränität gestellt werden und die Diskussion über die Gestaltung der Polis beginnen. Es geht darum, sie demokratisch und durchlässig, ohne Rassismus und Chauvinismus zu gestalten. Offene Grenzen zu fordern bedient die Interessen der Eliten, zerstört die Möglichkeit auf eine demokratische Polis und befördert den Chauvinismus.
Erst unter diesem Blickpunkt kann das Asylrecht verteidigt, Immigration und Integration reguliert ermöglicht werden – nämlich im Einklang mit und nicht gegen das demokratische Interesse der Mehrheit.