1. Anders als es die Erwartungen nach der Oktoberrevolution verlauten ließen, ist der Kapitalismus nicht nur nicht unter der Last seiner Widersprüche zusammengebrochen, sondern es ist ihm auch gelungen, die bewegteste Periode seiner Geschichte hinter sich zu lassen, wenn auch mit sichtbaren Wunden. Das war aus drei Gründen möglich: a) weil die dominanten Klassen die verschiedenen Emanzipations- und Befreiungsversuche gnadenlos unterdrückt haben; b) weil der Großteil der westlichen Arbeiterbewegung sowie der Eliten, welche die nationalen Befreiungsprozesse in den halbkolonialen Ländern geführt hatten, die revolutionären Traditionen aufgegeben und ihnen eine Politik der Kollaboration mit dem Imperialismus vorgezogen haben; c) letztlich hat der Kapitalismus eine mächtigen Entwicklung seiner Produktivkräfte erlebt, während die Länder, die den Weg des Sozialismus gewählt hatten, nach einer ersten Periode des Aufschwungs in die Stagnation verfallen sind, die sie zum Zusammenbruch geführt hat. Die ökonomistische und mechanische These, derzufolge die imperialistische Phase die Phase der Verfaulung und Todesagonie des Kapitalismus sei, hat sich als trügerisch und falsch herausgestellt.
2. Die sogenannte „Globalisierung“ (von der der Neoliberalismus nur eines ihrer vielen Gesichter ist) bezeichnet zweifellos eine neue Etappe der weltweiten Hegemonie des Kapitalismus, auch wenn sie nicht als neue historische Phase der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet werden kann. Doch es ist nicht wahr, dass der Kapitalismus mit der „Globalisierung“ zu den Zeiten der „freien“ Konkurrenz und der „freien“ Marktgesetze zurückgekehrt ist, dass er eine neue historische Entwicklungsphase erleben würde. In den letzten zehn Jahren haben sich die gegenteiligen Tendenzen verstärkt: sehr starke und unausgewogene weltweite Kapitalkonzentration zu Gunsten des spekulativen Finanzkapitals und der parasitären Renditen-Wirtschaft; Verschärfung des Gefälles zwischen hoch- und unterentwickelten Ländern mit gleichzeitiger Verschärfung des neokolonialistischen Charakters des imperialistischen Systems; Stärkung der nordamerikanischen Dominanz, wachsende weltweite Militarisierung. Die verwüstenden Zusammenbrüche einiger kapitalistischer Länder (Mexiko 1995, Thailand 1997, Russland und Indonesien 1999, Argentinien 2001) zeigen auf, dass der Kapitalismus trotz aller Bemühungen ein antagonistisches und instabiles System ist, das es dem Großteil der Völker nicht erlaubt, ihre chronische Unterentwicklung zu überwinden. Der Kapitalismus ist unempfindlich gegen jedwede Politik der strategischen Programmierung, verweigert von Natur aus die Unterordnung der Wirtschaft unter gesellschaftliche Ziele. Dem entspricht auf der Ebene der internationalen Politik eine Verschärfung der Widersprüche und der Konflikte, auf die der Westen mit der Intensivierung seiner Kommandoherrschaft und der Anwendung von Gewalt als permanentem Faktor antwortet, mit der Strategie des „Kriegs niedriger Intensität“ in den zerrütteten Peripherien, mit dem präventiven Angriff auf jedes als Feind betrachtete Land oder Kraft und schließlich mit der autoritären Degeneration der „opulenten Demokratien“ mit dem Ziel jeder inneren antagonistischen Bewegung zuvorzukommen. Den Nationalstaaten steht in diesem widersprüchlichen Prozess ein asymmetrisches Schicksal bevor: diejenigen, deren kapitalistisches System schwach und abhängig ist, werden geschwächt und instabil werden, die imperialistischen (siehe die USA) werden sich stärken. Die Europäische Union (vorausgesetzt, der Vereinheitlichungsprozess wird nicht unterbrochen) drückt die Krise der alten bürgerlichen Nationalstaaten aus, doch nicht in Richtung einer unbestimmten und nicht-staatlichen Realität, sondern bestenfalls in Richtung eines imperialistischen, den USA untergeordneten Meta-Nationalstaates.
3. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten in Zentral- und Osteuropa, die kapitalistische Orientierung Chinas und die Aufsplitterung Jugoslawiens stellen in verschiedener Hinsicht eine entscheidende Wende in der modernen Geschichte dar. Diese Ereignissen haben zerstörerische Auswirkungen auf den weltweiten Klassenkampf gehabt. Sie haben die antikapitalistischen und antiimperialistischen Bewegungen, die sich bereits in der Krise befanden, tödlich verwundet und eine radikale Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Gunsten der imperialen Front bewirkt, deren Entscheidungs- und Machtzentrum mehr denn je die USA darstellen. Die nordamerikanische Supermacht, dank auch der strategischen Allianz mit den anderen Mächten (Kanada, Europa, Australien und Japan) und der Unterstützung zahlreicher Satrapen (unter denen die Länder einer entscheidenden Region wie Israel, Türkei und viele arabische Länder hervorstechen) versucht mit allen Mitteln die Herausbildung einer „multipolaren“ Weltordnung zu verhindern und scheint bereit zu sein, jedwedes Mittel einzusetzen um die globale Vorherrschaft zu erhalten. Enduring Freedom, das Theorem der Achse des Bösen, der Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus weisen darauf hin, dass das Weiße Haus einen ununterbrochenen Präventivkrieg begonnen hat, mit dem Ziel, jede feindliche Kraft in Bereichen, die es als strategisch betrachtet – also fast alle Regionen der Erde – zu zerbrechen. Die imperiale Supermacht bemüht sich, mit allen Mitteln die Möglichkeit zu verhindern, dass in irgendeinem Land von mittlerer Bedeutung aufs Neue eine revolutionäre Macht entstehen könnte, dass sich eine befreiende Welle antiimperialistischer Bewegungen entfesseln könnte. Diese Politik kann nur zu einer weiteren internationalen Destabilisierung führen, dazu dass sich die latenten Widersprüche vergrößern, die Konflikte verschärfen. Neue Kriege und neue Revolutionen werden unvermeidlich sein und diese könnten auch die Frage der Machteroberung von Seiten der Unterdrückten wieder auf die Tagesordnung setzen, wenn auch in bisher ungekannter und unvorhersehbarer Form. Diese Siege werden dem imperialistischen Gegenangriff nicht standhalten können, wenn sie sich nicht auf internationaler Ebene ausdehnen und wenn sie zögern werden, die Reaktion zu zerschlagen. Der Konflikt ist zunehmend von weltweiter Dimension.
4. Die revolutionären und antiimperialistischen Kräfte leben in einer verlängerten Phase des strategischen Rückzugs. Der Imperialismus greift an allen Fronten an, sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie. Doch es ist in der Peripherie, wo das imperialistische System den breiten Massen weder wirtschaftliches Wachstum noch die elementarsten Rechte garantieren kann, wo es sich in seiner rohen Barbarei manifestiert, wo sich die unmittelbaren und explosiven Widersprüche konzentrieren. Dort kann die sogenannte neue Weltordnung, d.h. die monopolare Ordnung am leichtesten ins Wanken gebracht werden. Tatsächlich ist in den halbkolonialen Ländern der antiimperialistische Widerstandskampf, wenn auch in unterschiedlichster Form, nicht für einen Augenblick stillgestanden. Dort drängt die Politik der Ausbeutung nicht nur die Ärmsten zum Widerstand, sondern auch wichtige Sektoren der Intelligenz, der Armee und der nationalen Bourgeoisie, die um nicht unterzugehen, sich manchmal auf die Seite der Masse der Verdammten stellen müssen, fast immer unter patriotischen, nationalistischen oder panislamischen Fahnen. Dieser Widerspruch zwischen dem Imperialismus und den unterdrückten Nationen kann die Funktion eines Wegbereiters für echte revolutionäre Prozesse der nationalen und sozialen Befreiung annehmen. Neben Widerstandsnestern, die nach wie vor von genuin antiimperialistischen Kräften geführt werden (Palästina und Kolumbien etwa) mobilisieren sich die verarmten Massen auch unter populistischen, caudillistischen, panislamischen, „ethnischen“ und häufig offen reaktionären und halbfeudalen Vorzeichen. Es ist unsere Pflicht, unter Beibehaltung einer kritischen Einstellung und ohne unserer internationalistischen und revolutionären Grundlagen verlustig zu gehen, nicht nur die von antiimperialistischen Kräften geführten nationalen Befreiungskämpfe zu unterstützen, sondern alle Aufstände jener Völker, Nationen und Bewegungen, die ungeachtet ihrer reaktionären Führungen dem imperialen kapitalistischen System Risse zufügen.
5. Unser Antiimperialismus gründet sich auf antikapitalistische Prinzipien, unsere Perspektive ist letztendlich der internationale Sozialismus. Unser Antiimperialismus unterscheidet sich daher von jenen, die sich auf rein nationalistisch-bürgerliche, religiöse, ethnisch-kulturelle oder populistische Kriterien stützen. In diesen Fällen ist unsere Unterstützung immer krisch und bedingt. Anders ist jedoch der Fall all jener Widerstandsbewegungen der unterdrückten Völker mit revolutionär-demokratischem Charakter, die nicht zufällig fast immer von Kräften kommunistischen Ursprungs geführt werden. In diesem Fall muss unsere aktive Unterstützung weitergehen, bis hin zu einem stabilen Bündnis, und nach Möglichkeit bis hin zu einer Koordinierung der Initiativen mit der Perspektive einer internationalen Einheitsfront. Das bedeutet nicht, mit dieser oder jener Partei und ihrer jeweiligen Politik akritisch Verbindungen einzugehen. Wenn wir auch mit den Befreiungsbewegungen vollkommen solidarisch waren, so haben wir unserer Missbilligung Ausdruck gegeben, als diese den Kampf den Verhandlungen mit dem Feind untergeordnet und „Friedensabkommen“ geschlossen haben, die sich als fatale Misserfolge herausgestellt haben. Was die Länder betrifft, die das imperialistische Joch abgeschüttelt haben, so ist unsere Verteidigung bedingungslos. Das hindert uns allerdings nicht daran, unsere Bedenken auszusprechen, wenn ihre Politik schädlich für den internationalen oder lokalen antiimperialistischen Kampf ist.
6. Besondere Bedeutung und eine neue Physiognomie nehmen die Fragen der Selbstbestimmung der Nationen, sowie von Frieden und Krieg ein.
Nicht alle Kämpfe für nationale Selbstbestimmung sind progressiv und unterstützenswert. Der Imperialismus hat die Lektion gelernt und unterstützt und bewaffnet oft sezessionistische Kämpfe, um seine eigenen geostrategischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen zu verteidigen (siehe die NATO-Politik auf dem Balkan). Im Allgemeinen können wir sagen, dass wir nur jene nationalen Befreiungskämpfe unterstützen, die tatsächlich antiimperialistisch sind.
Die Tatsache, dass es keinen dritten Weltkrieg gegeben hat, bedeutet keineswegs, dass die Welt befriedet wurde. Wenn früher zwischen einem Krieg und dem nächsten viel Zeit verstreichen konnte, so befinden wir uns heute in einem permanenten und globalen Kriegszustand, den der Imperialismus noch, doch mit rückläufiger Tendenz, von seinem Territorium fernzuhalten im Stande ist. Es reicht aus, Europa und den Mittelmeerraum zu betrachten. Seit 1991 befindet sich der Balkan im Krieg. Krieg ist in Algerien und auf dem Gebiet des saharouischen Volkes. Krieg ist in Palästina, im Irak und im Mittleren Osten. Krieg ist in der Türkei. Etwas weiter im Osten, sehen wir Krieg in Afghanistan und einen latenten Krieg zwischen Pakistan und Indien. Wenig weiter südlich, in Afrika, befindet sich alles in einem Kriegszustand zwischen „Nationen“, Staaten und sogenannten Ethnien. In Lateinamerika erlebt Kolumbien den längsten Bürgerkrieg seit Vietnam, während die Reaktion mit allen Mitteln versucht die Regierung Chavez zu stürzen und die aufständischen argentinischen Massen bedroht.
Diese Fragmentierung erlaubt es nicht, eine einheitliche Position einzunehmen. Für gewöhnlich müssen wir in inter-bourgeoisen Kriegen und Konflikten eine defätistische Position einnehmen, jedoch immer bereit sein, Seite zu beziehen, falls eine konkrete Analyse einer konkreten Situation uns darauf verweist, auf welcher Seite der Imperialismus, unser Hauptfeind, steht, und wie seine Handlanger sich verhalten. Was die Konflikte zwischen imperialistischen Mächten um die Aufteilung der Welt betrifft (interimperialistische Kriege), so sind wir für den revolutionären Defätismus! Das kleinere Übel ist die Niederlage des eigenen Imperialismus. Keine Unterstützung dem patriotischen Imperialismus, welcher Rasse er auch immer sei! Transformation des imperialistischen Kriegs in sozialen Befreiungskrieg!
7. Im Warten darauf, dass der Klassenkampf im Westen einen Neuaufschwung und neue Kontinuität erfährt, dass eine neue proletarische Bewegung im Herzen des bürgerlichen Europas wieder ersteht und zur treibenden Kraft eines neuen antikapitalistischen Blocks wird, bleiben die antiimperialistische Solidarität und die internationalistische Mobilisierung (wie es zwanzig Jahre des Kampfes für Nikaragua, Irak, Mexiko, Kurdistan, Jugoslawien, Afghanistan und Palästina beweisen), von entscheidender Relevanz.
Die in Seattle entstandene Bewegung gegen die Globalisierung, auch wenn sie in pazifistischen und philantrophischen Ideen gefangen sein mag, ist ein unzweideutiger Hinweis auf ein Wiederaufflammen des Konfliktes in Europa. Wir beteiligen uns nicht nur aktiv an dieser Bewegung, wir können und müssen eine positive Rolle in ihr spielen, damit sie ihren zivilistischen Minimalismus überwindet und zu einer tatsächlichen antiimperialistischen Bewegung wird. Das setzt eine geeignete Politik voraus, die sich auf einerseits auf die Kritik und andererseits auf die Einheit stützt. Kritik ihrer humanitaristischen Ideen, ihrer klassenübergreifenden und auf die (neuen) Medien ausgerichteten Politik, ihrer Führungsgruppen, die sich immer mehr der Sozialdemokratie annähern. Wir kritisieren auch jene, die aus der Guerilla einen Fetisch machen, die die bewaffneten Kämpfe in vielen unterdrückten Ländern nachahmen wollen und so den Weg wieder aufnehmen wollen, der sich schon in den 60er und 70er Jahren als falsch erwiesen hat. Konflikt und Konsens müssen hand in hand gehen. Wenn die kämpferischsten Sektoren sich isoliert auf eine Offensive einlassen würden, würde das nur ihre Vernichtung begünstigen.
Die strategischen Zentren der wirtschaftlichen, politischen, militärischen und finanziellen Macht des imperialistischen Systems befinden sich im Westen. Die Aufgabe der Antiimperialisten und der Internationalisten ist es nicht nur, die Solidarität mit den antiimperialistischen Kämpfen der Peripherie des Imperiums herzustellen, sondern diese aktiv durch die Rolle einer verbindenden Brücke zu unterstützen, damit diese Kämpfe einen Weg ins Herz des imperialen Systems finden. Dies kann nicht losgelöst von der Notwendigkeit, dem gegen die Proletarier wütenden Liberalismus und der autoritären Panzerung des Westens entgegenzutreten, geschehen, wo unter dem Vorwand des „Kampfes gegen den Terrorismus“ die errungenen demokratischen Grundrechte mit Füßen getreten werden, chauvinistische, rassistische und militaristische Tendenzen erstarken. Dieser reaktionäre Kurs wäre schließlich nicht möglich, wenn das, was Lenin Sozialimperialismus nannte, nicht existieren würde, nämlich die Tendenz der westlichen Arbeiterbewegung als komplementäre Kraft der imperialistischen Politik ins System integriert zu werden. Die epochalen Migrationsströme von Süden und Osten in die imperialistischen Länder könnten mittel- bzw. langfristig ein höchst positives Element für die antikapitalistischen Kräfte darstellen. Ein neues multinationales Proletariat ist langsam im Entstehen und dieses könnte, freilich nicht automatisch, nicht nur zu einem der Hauptwerkzeuge für die Gegenoffensive der Klasse werden, sondern auch zu einem Kohäsionselement für einen neuen antagonistischen sozialen Block und schließlich zur sauerstoffspendenden Flamme, die es erlaubt, die Klassenkämpfe der Peripherie mit jenen der imperialistischen Zentren zusammenzuschweißen.