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Die Türkei und die österreichischen Antiimperialisten (AIK)

Ein wechselvolles Vierteljahrhundert Revue passieren lassen


30. August 2016
von Wilhelm Langthaler

Anlässlich der Veranstaltung der Antiimperialistischen Koordination (AIK) am 1. September 2016 zum Putschversuch in der Türkei wurde mehrfach die Frage nach der besonderen Rolle der Türkei für die österreichischen Antiimperialisten gestellt. Betrachten wir in aller Kürze diese Jahre und ihre Ergebnisse, dann kommen wir zu dem Schluss: Es gibt nicht mehr nur einen einzigen Antiimperialismus. Es geht heute darum, die antiimperialistischen Momente bei aller Diversität zusammenzuspannen, mit der Systemopposition im Zentrum zu verbinden und über einen notwendig verschlungenen Weg ein neosozialistisches Projekt zu gebären.


Das „Anti-imperialist Camp“ wurde formal im August 2000 in Assisi, Italien, gegründet . Die österreichische Komponente bildete daraufhin anlässlich der im September 2000 ausbrechenden Zweiten Intifada mit diversen Kooperationspartnern die „Antiimperialistische Koordination“.

Mit 9/11 und dem anschließenden globalen Terrorkrieg der Neocons und Bushs hatte sie rasch ihre Feuertaufe zu bestehen. Die Quintessenz dieses Zyklus, der mit der konfessionellen Spaltung des irakischen Widerstands Widerstands und Obamas gedämpfter Realpolitik endete, lautete: Die liberalen Versprechungen der Clinton-Jahre sind gescheitert. Der Widerstand gegen das kapitalistische Imperium ersteht neu bzw. hat nie aufgehört (Symbol Palästina), doch nimmt er vielerorts andere kulturelle Formen an, wie beispielsweise jene des Politischen Islam. Wir müssen uns dennoch an die Seite des konkreten Volkswiderstands stellen. Während wir am historischen Zielen des Sozialismus festhalten, bedarf dieses einer völligen Überarbeitung, einer Neugründung, für die die Zeit noch nicht reif wahr und dadurch in den Hintergrund trat.

Dem war das bleierne Jahrzehnt der 1990er nach der Wende vorausgegangen, in dem sich die Vorläufer der AIK zum Beispiel gegen die EU und ihre Erweiterung engagierten, sich dabei vor allem auf den Kampf gegen die westliche Intervention am Balkan konzentrierend. Die Errungenschaften der Vergangenheit, wie der antikapitalistische Jugoslawismus, wollten nicht kampflos abtreten, allerdings transformierten sie sich dabei kulturalistisch in den serbischen Widerstand. Bereits damals trat der Widerspruch zwischen serbisch-jugoslawischen Antiimperialismus und Politischem Islam auf, der am Balkan de facto auf Seiten der Nato stand, während er vielerorts in Nahost gegen den Westen wirkte. Dieses methodische Problem begleitet uns bis heute oft auf einer höheren Stufenleiter, wie beim schiitisch-sunnitischen Konflikt. Auch in der Türkei besteht das Problem der widersprüchlichen kulturalistischen Überformungen. Nun zur Türkei selbst:

Klassische Gladio-Diktatur

Die 1980er Jahre waren vom Nato-gesteuerten Militärputsch und der anschließenden prowestlichen Diktatur geprägt. Unsererseits stand die Solidarität mit der verfolgten Linken, gegen die sich der Putsch gerichtet hatte, im Zentrum. Uns entging aber nicht, dass der Kampf sich zunehmend auf die kurdische Frage verschob, wo wir selbstverständlich das Recht auf Selbstbestimmung unterstützten.

Wir beteiligten uns an und organisierten teilweise federführend diverse Manifestationen für beide. Bis hierher unterschied sich unser Herangehen an die Türkei methodisch nicht wesentlich von jenem gegenüber südamerikanischen Diktaturen, nur dass sie näher war und die politischen Exilantengruppen präsenter.

Nach Ende des Kalten Krieges waren die türkischen Eliten gezwungen, zivilere Formen der Herrschaft annehmen, was ihnen wahrlich nicht leicht fiel, denn sie führten eine Aufstandsbekämpfung gegen die Kurden und die Linke im Stile der schmutzigen Kriege, wobei sie nicht nur die Neofaschisten der Grauen Wölfe, sondern auch gewisse islamische Strömungen einsetzten.

1993 demonstrierten wir anlässlich des Massakers von Sivas/Sêwas. Ein Mob hatte eine links-alevitische Veranstaltung angegriffen, Brandsätze geworfen und den Versammlungsort in Brand gesteckt. In den Flammen kamen 35 Intellektuelle ums Leben, ohne dass die Sicherheitskräfte oder die Feuerwehr eingegriffen hätten. 1996 kam es nach einer Provokation des tiefen Staates im Istanbuler Alevitenviertel Gaziosmanpaşa zu einem regelrechten Volksaufstand unter Führung der radikalen Linken, dem mit harter Repression begegnet wurde. Die Antiimperialisten beteiligten sich selbstverständlich an Solidaritätsaktivitäten.

Aufstieg des politischen Islam und kalter kemalistischer Putsch

Doch die 1990er Jahre waren vom rapiden Aufstieg der islamischen Bewegung auch auf der Wahlebene geprägt. Nach einer kurzen Episode der Regierungsbeteiligung der islamischen Wohlfahrtspartei führte die kemalistische Armee 1997 einen kalten Putsch gegen den wachsenden „Fundamentalismus“ durch. Es kam zur weiteren Forcierung des autoritären Laizismus, der zum Beispiel ein Kopftuchverbot an den Universitäten vorsah. Als AIK sprachen wir uns gegen den De-facto-Putsch aus und verteidigten die demokratischen Rechte der islamischen Bewegung. Das Kopftuchverbot konnte von der AKP-Regierung erst Ende der 2000er Jahre aufgehoben werden, so tief war es im Staatsapparat verankert.

Doch das spätkemalistische Quasi-Militärregime schlug auch gegen die Linke. Diese hatte sich in den 80er Jahren nach dem Militärputsch dem bewaffneten Kampf verschrieben. Unter dem Druck der Erfolge der kurdischen PKK und im besonderen Habitat des alevitischen Milieus versuchte diese türkische Linke, auch unter den veränderten Bedingungen der 1990er Jahre die Guerillataktik fortzusetzen. Tausende endeten in den Gefängnissen, in denen nach westlichen Vorbild auf Isolationshaft umgestellt wurde. In letzter Aufbäumung dagegen entwickelte sich im Jahr 2000 die Kampagne des radikalisierten Hungerstreiks, des Todesfastens, bei der mehr als 100 Leute ihr Leben opferten. Die AIK war an diversen Delegationen sowie öffentlichen Aktionen beteiligt, kritisierte aber sowohl die Form und vor allem die dahinterliegende Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse und insbesondere die verfehlte Fortsetzung des bewaffneten Kampfes (ausgenommen des kurdischen, der in der eigenen Bevölkerung große Unterstützung genoss).

Die Bewegung gegen die Isolation konnte dennoch erhebliche Unterstützung gewinnen, international sowie auch unter den ebenfalls unterdrückten islamischen und islamistischen Kräften. Hier kam es zu einem vorsichtigen Brückenschlag. Erst unter der AKP-Regierung war der türkische Staat dann zu gewissen Zugeständnissen und Hafterleichterungen bereit, was wesentlicher Teil der demokratischen Reformen unter Erdoğan war und ihm unter dem linksliberalen Mittelstand Kredit einbrachte.

Erdoğans Erfolgsrezept: Der historische Block mit den liberalen Mittelschichten für die Demokratisierung

2002 gewann die islamische AKP in einem Erdrutschsieg die Wahlen und stellt seit damals die Regierung. Dem war der politische Vatermord Erdoğans an Erbakan vorangegangen, weg vom radikalen Islamismus hin zur Vereinbarkeit von Demokratie und Islam. Dies gemeinsam mit einem enormen kapitalistischen Aufschwung eröffnete der AKP die Unterstützung der liberalen Mittelschichten, die von dem kemalistischen Autoritarismus genug hatten, und den beispiellosen Aufstieg der AKP begründete, der ihr wiederum die friedliche Zurückdrängung des einst allmächtigen Militärs ermöglichte. Die islamische Demokratie Türkei stieg damit zum Modell für die gesamte islamische Welt auf.

Die Ergenekon-Kampagne ab der zweiten Hälfte der 2000er Jahre gegen den tiefen Staat und seine kemalistischen Ziehväter (bei dem sich das unter diesem infiltrierte Gülen-Netzwerk als hervorragender Verbündeter eignete) half schließlich mittels zweier Verfassungsreferenden 2007 und 2010 die Macht der Generäle mit überwältigenden Volksvoten zu brechen.

Doch die größte Sensation von allen war die Öffnung zu den Kurden, ein unfassbarer Bruch des türkisch-nationalistischen Staatsdogmas, das Kurden jegliche Existenz abgesprochen hatte. Erdoğan stellte erstmals seit Gründung der Republik eine Lösung in Aussicht. Sie sollte zwar die PKK ausschließen, jedoch in dem er ihren Forderungen gegenüber Entgegenkommen signalisierte. So gewann die AKP auch die Unterstützung der Kurden, jedenfalls ihres islamischen Segments. Der jahrzehntelange Unterdrückungskrieg schien einem Ende zuzugehen, auch dank der Bereitschaft der PKK, und vor allem des inhaftierten Anführers Öcalan, Kompromisse zu schließen.

Große Teile der (radikalen) Linken nahmen diese Veränderungen nicht wahr. Sie sprachen noch immer vom faschistischen Regime, das lediglich eine islamische Fratze aufgezogen hätte. Sie vertraten oftmals eine linke Variante des Kemalismus, der ursprünglich gerade im Alevitentum starke Unterstützung genossen hatte. Im Zuge der globalen antiislamischen Mobilisierung durch den Westen wurden die Aleviten mit ihrem Laizismus ihrerseits Richtung alter Eliten gedrängt. (Siehe beispielsweise die Wahlergebnisse in der Alevitenhochburg Dersim/Tunceli, die bei den Referenden mit überwältigenden Mehrheiten die alten Militärverfassungen verteidigten.) Zudem kam auch die Öffnung und Modernisierung der CHP, die nach fast letalem Blutverlust, dringend einer Erneuerung bedurfte. Durch diese systematischen Fehlpositionierungen wurde die Linke fast wie im Westen marginalisiert.

Historische Kehrtwende Syrien: sunnitischer Kulturkampf

Der Ausbruch der arabischen Revolte führte Erdoğan an den Höhepunkt seiner Hegemonie. Das Modell AKP schien die alten Regime, die in der einen oder anderen Weise der globalen Herrschaftsarchitektur angehörten, friedlich ablösen zu können. Erdoğan setzte alles auf diese Karte – doch konnte diesmal nicht gewinnen, während der Glanz seines Modells verblasst ist. Der Neoosmanismus wurde zu einem leeren Traum reduziert, für viele sogar zum Alptraum.

Aus der syrischen Revolte entwickelte sich ein Bürgerkrieg, der immer stärker konfessionelle Züge annahm und von den regionalen wie internationalen Mächten befeuert wurde. In der Logik dieses Krieges, in dem die Erdoğan-Türkei eine entscheidende Rolle spielt, nahm die AKP den sunnitischen Kulturkampf voll auf.

Die Gezi-Bewegung 2013 zeigte an, dass der demokratische Block mit den Mittelschichten zerbrochen war. Der bereits tot geglaubte Kemalismus erstand wieder auf und drang auch dort ein. Die AIK blieb vorsichtig. Das demokratische Protestmoment war legitim, aber es gab auch etwas Elitäres, Prowestliches und Antikurdisches – sowie das spiegelbildliche Kulturkämpfertum gegen den Islam.

Und dann zerschlug Erdoğan noch sein eigens Gesellenstück, das zum Meisterstück hätte werden können – den Ausgleich mit den Kurden. Den Krieg führt er nun nicht mehr nur in der Türkei, sondern auch auf irakischem und syrischem Boden. Natürlich verteidigt die AIK das Selbstbestimmungsrecht der Kurden. Doch vor den Versuchen der kurdischen Bewegung, sich an die Kemalisten und den Westen anzubiedern und sich die antiislamische Kampagne zu Nutze zu machen, warnen wir. 2015 hätte die HDP der AKP eine Koalition anbieten sollen, natürlich auf der Grundlage ersterer demokratischen Forderungen. Mit der prinzipienlosen Annäherung an die CHP hat man es Erdoğan allzu leicht gemacht.

Der kemalistische Putsch von 2016 zeigt, wie sehr die Kehrtwendung der AKP die Spannungen in der türkischen Gesellschaft vertieft hat. Erdoğan konnte zwar den Staatsapparat säubern und vor allem seinen eigenen soziopolitischen Block kompaktieren. Bei der Verfolgung und Zerschlagung der Gülen-Leute, der Islamo-Kemalisten in einer wilden Mischung aus Opus Dei und liberalem Sufi-Kapitalismus, seinen Ex-Verbündeten und heutigen Konkurrenten, ist er einen großen Schritt weitergekommen. Inhaltlich hat es sich ihnen und dem Kemalismus jedoch nicht nur in der Kurdenfrage wieder angenähert, was ein weiteres Anzeichen des zunehmenden Hegemonieverlustes vor allem angesichts des syrischen Fiaskos ist. Statt das Modell AKP in Syrien einzuführen, droht der konfessionelle (Bürger)krieg nun auf die Türkei zurückzuschlagen. Nicht auszudenken, was in Folge der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise passieren könnte.

Der Putsch scheiterte dennoch an der tiefen Verankerung des politischen Islam in den türkischen Massen, auch dank der noch nicht gänzlich rückgängig gemachten demokratischen und sozialen Errungenschaften, die die kemalistischen Vorgänger niemals zuwege brachten. Die Obama-Führung hat deswegen, nach kurzem Zögern, das von den Putschisten angebotene Staffelholz nicht angenommen, denn sie sind trotz aller Differenzen und zunehmender Autonomie der AKP an einer stabilen Herrschaft interessiert. (Das sehen sogar intellektuelle antiimperialistische Islamisten so.)

Ein antiimperialistisch-neosozialistischen Projekt muss alles tun, um nicht in die von beiden Seiten ausgelegte Falle des Kulturkampfes zu tappen. Sie muss neben der Basis der stark alevitischen Linken und der kurdischen Nationalbewegung auch einen Teil des Politischen Islam auf seine Seite ziehen oder zumindest die Hürden für seine Basis möglichst niedrig legen.

Die AIK hat in hunderten Artikeln diese Entwicklungen analysiert, kommentiert und mit ihren bescheidenen Mitteln auch aktivistisch Solidarität mit den demokratischen, antiimperialistischen und sozialistischen Kräften geübt.

Durch diverse Updates der Website, sowie der Betrieb mehrerer Seiten und die Herausgabe des gedruckten Magazins „Intifada“, sind nicht mehr alle Beiträge einfach zugänglich oder sie sind nicht so wohlgeordnet und gut auffindbar, wie wir es uns wünschen würden. Wer Interesse hat, dem sei empfohlen, unter dem Themenordner https://www.antiimperialista.org/tag/tuerkeikurdistan-de/ zu suchen, der bis 2010 zurück reicht. Ältere Einträge können in der Suchmaschine http://www.antiimperialista.org/de/search/node unter den Stichwörtern „Türkei“, „Kurdistan“ o.ä. oder auf www.intifada.at aufgefunden werden.

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