Türkei-Kurden: vor historischem Ausgleich?

31.03.2013
Scheinbar bedarf es der Islamisten, um den kemalistischen Chauvinismus niederzuringen
von Wilhelm Langthaler
Was sich in Kleinasien langsam aber zunehmend wahrscheinlich anbahnt, schickt sich an, ein Bruch von historischer Bedeutung zu werden. Ein Jahrhundert lang fungierte der Kemalismus als Kern und Stütze des türkischen Staates, der seinerseits als unerschütterliches Bollwerk des kapitalistischen Weltsystems in der Region galt. Als ideologischer Panzer diente ihm ein modernistischer türkischer Nationalismus. Dieser richtete sich in höchst chauvinistischer Art gegen alle Minderheiten jeglichen Typs, gegen die Linken und auch gegen den zuletzt aufkommenden politischen Islam. Doch seinen Erzfeind erkannte er in den Kurden. Gelingt es nun der islamischen AKP dieses Monster zu bändigen und den Weg zu einem Friedensabkommen mit den Kurden freizumachen?
Kurdish settlement areas

Nachruf auf den Kemalismus?

Der Kemalismus ist ein ganz besonderes und einmaliges Phänomen. Es handelt sich um eine der ganz wenigen Nationalbewegungen gegen die europäischen Kolonialmächte, in der die aufkommenden kapitalistischen Eliten das Heft in der Hand behalten konnten. Natürlich gelang ihnen das nicht ohne die Unterstützung breiter Schichten des Volkes und der subalternen Klassen. Doch bei deren Mobilisierung verloren sie nie die Kontrolle, wurden nie ernsthaft herausgefordert. Angesichts der von der jungen Sowjetunion ausgehenden Gefahr für das kapitalistische Weltsystem und der Grenzlage der Türkei, gaben sich die europäischen Mächte schließlich gegenüber dem Kemalismus konziliant. Er wurde rasch in das Weltsystem eingegliedert und gegen die zum Kommunismus tendierenden Volksbewegungen in Stellung gebracht. Mit harter Hand schlugen Atatürk und seine Epigonen gegen die erstarkende Bewegung der subalternen Klassen, um schließlich im Rahmen der Gladio-Strategie der Nato eine sehr harte Militärdiktatur zu errichten.

 

Als ideologische Basis diente dem Kemalismus der türkische Nationalismus, der ausgesprochen breiten Konsens genoss. Der Laizismus war dabei zwar ein wichtiger Aspekt, trat aber im Kampf gegen die Linke zeitweilig in den Hintergrund. Erst gegen den politischen Islam wurde er wieder akzentuiert und ins Absurde gesteigert – mit ein Grund für seinen tiefen Fall.

 

Nachdem die Linke geschlagen war, entwickelten sich zwei neue Feinde. Einerseits die kurdische PKK. Doch von dieser ging allein schon aus demographischen und sozioökonomischen Gründen keine existenzielle Bedrohung für das Regime aus, ganz zu schweigen vom fehlenden politischen Instrumentarium der PKK gegenüber dem türkischen Chauvinismus im Volk. Auf der anderen Seite wuchs der moderate Islamismus als Artikulation des Protests im Volk immer weiter an. Dieser versprach die Demokratisierung einer von der Militärdiktatur geprägten Gesellschaft. Der in der Endphase immer mehr hervorgekehrte Laizismus des alten Regimes wurde als Provokation durch die kemalistischen sozialen Eliten aufgefasst. Doch es handelte sich beim Aufstieg der AKP keineswegs um eine Revolution, sondern vielmehr war die AKP dem zuvorgekommen, was in der arabischen Welt zehn Jahre später eine demokratische Volksrevolte werden sollte. Teile der kapitalistischen Elite wurden politisch einbezogen und die folgende wirtschaftliche Expansion nahm der alten politischen Kaste jeden Spielraum.

Entgegen dem gängigen Narrativ in kemalistischen Kreisen, folgte der Regimewechsel keineswegs einem amerikanisch-imperialistischen Drehbuch um die „große türkische Nation“ zu schwächen, sondern auch Washington musste die Veränderung als alternativlos akzeptieren. Zumal ja die AKP den Kapitalismus nicht in Frage stellte und nur sehr vorsichtig und möglichst reibungsfrei ihren Spielraum innerhalb der amerikanischen geopolitischen Vorgaben erweiterte. Das führte zu einer Entspannung der Konflikte in der türkischen Gesellschaft und zu einer hegemonialen Stellung der AKP – eine Entwicklung die die niedergehende Linke bis heute nicht zu verstehen vermochte. In den Paradigmen der Zeit der Militärdiktatur verfangen, übersah sie den Regimewechsel und interpretierte die AKP als lineare Fortsetzung des ancien regime. Ihr zunehmend verfehlter und ungehört verschallender Schlachtruf lautet bis heute: „Nieder mit dem Faschismus!“

Aus dieser Position der Stärke versucht die AKP den historischen Konflikt mit den Kurden zu lösen. Unter den Kurden löste das große Hoffnungen auf schnelle Veränderungen aus, die zunächst einmal mehrfach enttäuscht wurden, denn auch die Klientel der AKP ist nicht vor einem türkischen Nationalismus gefeit und steht daher unter dessen Druck. Doch Erdoğan weiß, dass eine Entschärfung oder gar Lösung des Konflikts seinen Einfluss in der Bevölkerung noch weiter stärken wird, insbesondere auch unter den Kurden selbst, die ja gegen den Islamismus nicht immun sind, zumal dieser die Gemeinsamkeit in der Religion zu betonten vermag. Er weiß auch, dass ein Scheitern im weniger kostet als ihm ein Erfolg bringen würde. Er hat also mehrere Versuche und genug Zeit. Er weiß, dass ein Ausgleich substanzielle Zugeständnisse erfordert, doch er befindet sich gleichzeitig in der Position der Stärke, kann also die Zugeständnisse moderieren und möglichst klein halten.

Gelingt Erdoğan dieser historische Ausgleich (und von kurdischer Seite ist die Bereitschaft da), dann ist der Kemalismus erledigt und wird zu einer nostalgischen Randerscheinung marginalisiert werden.

Noch ist es allerdings nicht so weit, noch dauert sein Todeskampf an. Der neue Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, repräsentiert ihr letztes Aufbäumen aber auch die Widersprüchlichkeit, ja letztlich die Unmöglichkeit der Rettung. Er ist zweifellos eine schillernde Persönlichkeit und ein Versuch der Erneuerung und des Bruchs mit der alten Parteielite, die gleichzeitig die alte Staatselite war. Er gilt als Kämpfer gegen die Korruption, als bescheiden und volksnah, hat alevitischen und kurdischen Hintergrund. In seiner Heimatprovinz Tunçeli (der frühere, kurdische Namen lautet Dersim), die das Zentrum des Alevitentums, der Linken und auch der Geburtsort der PKK ist, kann er satte Mehrheiten auf sich vereinigen 1, trotz einer langen Geschichte von blutigen Niederschlagungen von (kurdischen) Volksaufständen.

Von großer symbolischer Bedeutung ist die Auseinandersetzung um den Dersim-Aufstand von 1937/38, der sich gegen die Zwangstürkisierung richtete. Kılıçdaroğlu, dessen Partei CHP die Unterdrücker, die kemalistischen Militärs repräsentiert, forderte von der AKP-Regierung eine Entschuldigung für über zehntausend getötete Kurden. Premier Erdoğan leistete der Aufforderung folge, eine unerhörte Geste, die von einer CHP-Regierung nicht zu erwarten gewesen wäre.

Dersim region in the mid 1930s German.png

Die Provinz Dersim im Jahre 1937 (Quelle Wikipedia)

In gewisser Weise zeigt die weiche Linie Kılıçdaroğlus an, dass Edogans Kurs auf einen Kompromiss mit den Kurden in der Luft liegt, von der türkischen Gesellschaft akzeptiert werden kann. Doch gerade in der CHP selbst wird das nicht durchsetzbar sein, denn ginge sie diesen Weg zu Ende, machte sie ihre historische Quintessenz zunichte. Der orthodoxe Flügel wird und kann das nicht akzeptieren, was Kılıçdaroğlus Rettungsversuche wenig Aussicht auf Erfolg beschert. Die CHP bleibt gelähmt. Sie kann den durch die Erdoğan-AKP unternommenen historischen Veränderungen nur zusehen.

 

Der Faktor Syrien

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die syrischen Ereignisse die PKK gestärkt haben. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung haben sie nun de facto den Status einer sehr weitgehenden Autonomie unter ihrer Kontrolle erreicht. Allem Anschein nach wird dieser längere Zeit andauern. Auch wenn die Selbstbestimmung mit einem noch nicht absehbaren Ende des syrischen Bürgerkriegs wieder unter Druck geraten wird, ist die Aufhebung dieses Status ohne einen heftigen bewaffneten Konflikt nicht denkbar. Damit wird die AKP – von außen – gewaltig unter Zugzwang gesetzt.

Nach dem Irak ist nun Syrien das zweite der vier Länder mit starker kurdischer Bevölkerung, in der diese eine Autonomie durchsetzen konnten. Während in Syrien die PKK-nahe PYD die kurdischen Gebiete weitgehend beherrscht, ist das im Nordirak keineswegs der Fall. Die PKK verfügt zwar mit den Kandil-Bergen über ein strategisches Rückzugsgebiet, doch werden die zentralen Gebiete von den beiden Parteien KDP und PUK kontrolliert. Diese befinden sich sogar in einem De-facto-Bündnis mit der Türkei und sitzen auf sehr viel Öl mit der bekannten korrumpierenden Wirkung.

Die PKK hat im Sinne der Autonomie die kollaborationistische Linie der KDP-PUK mit der amerikanischen Besatzung des Iraks indirekt mitgetragen, weil sie den Widerstand als potentiell panarabisch wahrnahm. Sie hat damit eine Flanke aufgemacht, gegen die der Kemalismus von links attackieren bzw. die Linke ihren Kemalismus links tarnen konnte.

Auch zu Syrien öffnete sich für den Kemalismus ein window of opportunity. An Syrien hat sich der so erfolgsverwöhnte Neoottomanismus der AKP-Türkei entschieden überhoben. Erdoğan dachte mit der Protegierung des Volksaufstands seinen Höhenflug in Syrien und der arabischen Welt weiter fortsetzen zu können. So ließ er die bewährte Null-Problem-Linie mit den Nachbarn vorzeitig hinter sich. Doch es kam anders und die Türkei verstrickte sich in einen langwierigen konfessionellen Bürgerkrieg mit Kräften, die auch in Kleinasien mit ihren Pendants vertreten sind, nämlich in erster Linie Aleviten aber auch Laizisten in Allgemeinen, die von den Kemalisten repräsentiert werden. Die syrische Sackgasse der AKP bietet für die CHP eine Chance. Zwar wird es das Assad-Regime auf Dauer nicht überleben, doch könnten die syrischen Allawiten wieder zu einer unterdrückten und bedrohten Minderheit werden und damit Stoff für eine alevitisch-laizistische Mobilisierung in der Türkei selbst abgeben.

 

Die kurdische Seite: PKK

Eines muss klargestellt werden: nur durch den fortgesetzten Kampf der Kurden geführt von der PKK konnte der notwendige politische Druck erzeugt werden, der nun ein Abkommen auf der Basis von substantiellen demokratischen Zugeständnissen möglich machen könnte. Die PKK mag da und dort Fehler gemacht, notwendige und unnötige Kompromisse geschlossen haben, aber kapituliert hat sie nie. Ihr Durchhalten ist eine Leistung, die den vergleich mit anderen Befreiungsbewegungen zu scheuen braucht.

In der Türkei und auch in Europa wird die PKK simpel unter Terrorismus verbucht. (Bewaffneter) Widerstand gegen die herrschende Ordnung wird von ihren Ursachen und ihren oft demokratischen und sozialen Forderungen abgetrennt (siehe Palästina, Irak, politischer Islam, Venezuela usw.) Doch es liegt auf der Hand, dass die Kurden ohne den bewaffneten Kampf niemals zu ihren Rechten gekommen wären, so wie Revolutionen im seltensten Fall ohne Gegengewalt gegen die strukturelle Gewalt der herrschenden Ordnung möglich sind.

Unsere Kritik an der PKK-Linie sowie der Solidaritätsbewegung wollen wir in drei Punkten zusammenfassen:

Erstens: Es ist ein sehr kostspieliger politischer Fehler, die Trennung zwischen türkischer Elite und türkischem Volk verschwimmen zu lassen. Selbst wenn sie in der Realität manchmal tatsächlich verschwommen ist, muss es die Aufgabe der kurdischen Seite sein, diese zu entwickeln und schärfen, denn es geht letztlich darum die breite Masse für demokratische Zugeständnisse zu gewinnen. In letzter historischer Konsequenz geht es sogar um ein Bündnis mit den türkischen subalternen Klassen. Darum musste die Regel, ausschließlich Repräsentanten des Staates und des türkischen Chauvinismus ins Visier zu nehmen, auf das strengste eingehalten werden – was nicht immer der Fall war.

Zweitens: Die Kurden haben es mit drei großen Nationen zu tun, die selbst einen Jahrhunderte andauernden Kampf gegen den europäischen Kolonialismus und westlichen Imperialismus führen. Das gilt im geringeren Ausmaß für die Türken, im größeren für die Araber und Perser. Nun beherrscht der Westen auch die Klaviatur des Teile-und-Herrsche. Zuletzt wurde sie im Irak angewandt, wo die Kurden im Austausch für eine Autonomie von den USA und auch von Israel gegen den Widerstand in Stellung gebracht werden konnten. Die PKK hat diese Positionierung im Wesentlichen unterschützt und damit dem Narrativ der drei großen Nationalbewegungen, nachdem die Kurden das fünfte Rad am Wagen des Imperialismus wären, einen Funken Wahrheit geliefert und jedenfalls Vorschub geleistet. Hier bedarf es einer sehr klaren antiimperialistischen Haltung nicht nur in Worten, sondern auch in Taten.

Drittens, und dieser Punkt richtet sich an die Solidaritätsbewegung und insbesondere auch an die demokratische Bewegung unter den Türken: Es war die PKK, die der Türkei bereits ein gewaltiges Zugeständnis gemacht hat, nämlich den Verzicht auf das nationale Selbstbestimmungsrecht, das die Möglichkeit einer selbständigen staatlichen Existenz mit einschließt. Mit mehreren Dutzend Millionen das größte Volk ohne Staat, stünde den Kurden dieses Recht mehr als zu. Hat Öcalan mit dem Verzicht auf dieses Recht einen Verrat begangen oder sich einer realpolitischen Notwendigkeit gebeugt? Wohl eher Zweiteres, denn sonst wäre der türkische Chauvinismus kaum zu knacken.

Zudem schwebt Öcalan ein noch zu formulierendes Konzept der der regionalen Föderierung über die heutigen Grenzen hinaus vor. In seinem Aufruf zum Newroz 2013, in dem der einseitige Waffenstillstand ausgerufen wird, kommt diese Idee mehrmals zur Sprache: "Die Eroberungskriege der letzten 200 Jahre, die imperialistischen Interventionen des Westens und repressives und ignorantes Denken hatten zum Ziel, arabische, türkische, persische und kurdische Gemeinschaften durch Mikro-Nationalstaaten, künstliche Grenzen und künstliche Probleme zu ersticken. […] Ethnisch reine und mono-nationale Gebiete zu schaffen, ist eine unmenschliche Praxis der Moderne, die unseren Wurzeln und unserer Identität widerspricht. […] Der Mittlere Osten und Zentralasien sind auf der Suche einer zeitgemäßen Moderne und einem demokratischen Konzept, das ihrer eigenen Geschichte entspricht." 2 Es sind alle aufgerufen, an einem solchen Projekt mitzuarbeiten und darin das Selbstbestimmungsrecht in kreativer Form zur Geltung zu bringen.

 

Folgen eines Friedensschlusses

Man darf sich nicht die vollständige Befreiung und das Paradies für die Kurden erwarten, sondern einen notwendigerweise mangelhaften Kompromiss. Beide Seiten werden versuchen so viel als möglich für sich herauszuholen – und der kurdische Kampf wird und muss auch nach einem Abkommen mit den Methoden einer politischen Massenbewegung weitergehen. Die Bedingungen dazu werden durch den Teilerfolg jedoch grundlegend verbessert sein.

Auf der anderen Seite wird es wohl zu einer weiteren Stabilisierung der AKP führen. Quasi als Belohnung für die historische Leistung werden sie ihre Hegemonie weiter ausbauen können, wenn ihnen nichts anderes dazwischen kommt.

Ein Durchbruch in der Kurdenfrage muss insgesamt als großer Schritt Richtung Demokratisierung für die gesamte, auch türkische Bevölkerung verstanden werden, der die Kampfbedingungen der Volksmassen substantiell verbessert.

Die PKK und/oder Teile ihres Milieus könnten ihrerseits als Plattform und Sprungbrett für eine antisystemische Volksopposition dienen, die die sozialen und demokratischen Interessen der Unterklassen vertritt.

Vieles hängt von der Entwicklung der arabischen Revolte auf der einen Seite und von den Auswirkungen der globalen Krise auf die Türkei auf der anderen Seite ab, deren Wirtschaft bisher noch boomt und damit stabilisierend wirkt. Sollte es auch dort zu einem Einbruch kommen, so setzt das die unabhängige politische Formierung der subalternen Klassen (Türken und Kurden gemeinsam) gegen die kapitalistische Elite auf die Tagesordnung. Der Bruch muss und wird durch die islamische Bewegung mitten hindurch gehen – eine präzedenzlose Herkulesaufgabe, an der sich derzeit die arabische Linke und die demokratische Volksbewegung die Zähne auszubeißen droht.

Verweise