Ägypten konnte ab 1876 seine riesigen Schulden trotz aller Peitschen für die Fellachin, die Bauern, nicht mehr bedienen. Der Khedive Ismail war sie im Jahrzehnt zuvor bei wohl informierten britischen und französischen Banken eingegangen. Die damaligen Großmächte Großbritannien und Frankreich entsandten daraufhin ein Tandem von Kontrolleuren, die zuerst prüften, was heraus zu holen war. Dann setzten sie den Khediven ab und installierten einen ihnen genehmen Regent. Ziemlich bekannt aus der Gegenwart, nicht? Die winzige ägyptische Armee wurde darauf mit einigen Offizieren (vor allem Ahmed Urabi) zur nationalen und antiimperialistischen Sprecherin des Lands. Als der neue Khedive Tewfiq die Proteste nicht mehr bewältigte, schickten die Briten Truppen aus England und Indien und ließen die unausgebildeten Bauern-Soldaten 1882 bei Tell el-Kebir zusammen schießen. Zum neuen „Generalkonsul“ machten sie Sir Evelyn Baring (später: Lord Cromer): Er wird für das nächste Vierteljahrhundert das Land bis in alle Einzelheiten regieren. (Die Bank seiner Familie, die „Sechste Großmacht“ hatte sie ein Autor genannt, ging übrigens 1995 an einer überzogenen Spekulation zugrunde; sie hat das British Empire also deutlich überdauert.)
Angela Merkel hat vorgeschlagen, einen Kontrolleur nach Griechenland zu senden, der jede Ausgabe der Regierung genehmigen soll – also tatsächlich das Land regieren. Wer der neue Reichsstatthalter sein soll, hat sie noch nicht verlauten lassen.
Das ging sogar ihren Kollegen zu weit. Der Konservative Luxemburger Jean-Claude Juncker, den der deutsche Finanzminister, damals übrigens ein Sozialdemokrat, der heute wieder auf eine Karriere hofft, vor wenigen Jahren auch schon mit einem deutschen Einmarsch bedrohte, sah es als „inakzeptabel“ an, andere auf diese Tour zu demütigen.
Die EU ist ein Imperium. Aber ein Imperium ist kein unangreifbarer und unsichtbarer, national quasi geschlechtsloser Weltgeist, wie es „Empire“-Theoretiker (Hardt / Negri) darstellten. Diese Episode zeigt es deutlich genug. Sie zeigt aber auch vorerst die Grenzen. Der deutsche Imperialismus kann nicht so, wie er möchte, auch wenn sich eine ORF-Journalistin überschlägt und Merkel sechsmal innerhalb weniger Minuten zur „Kaiserin von Europa“ ernennt.
Das zeigte sich am Ergebnis des Gipfels vom 30. Jänner: Die „Schuldenbremse“ ist nichts Neues, und der „Stabilitätspakt“ auch nicht. Neu hingegen war, dass sich neben den Briten auch die Tschechen endgültig verabschiedeten. Weniger neu hingegen war, dass der Österreicher Faymann noch zu wenig Geld verschleudert sah und viele weitere Milliarden wünschte.
Doch sehen wir uns die zwei Ergebnisse etwas näher an.
Die „Schuldenbremse“ – „balanced budget rule“ heißt es beim Vorsitzenden van Rompuy – in der Verfassung hat zwei Aspekte, beide gleich wichtig:
Sie ist der Versuch, mit einer Zufalls-Mehrheit die künftige Politik auf Dauer zu binden. Irrevocably, unwiderruflich: Das Vokabel kommt im dürftigen Communiqué des Rats gleich zweimal vor. In einem demokratischen System gibt es dieses Vokabel nicht, oder allenfalls für die Demokratie selbst. Es ist somit der Versuch, auch rechtlich für die Zukunft Demokratie abzuschaffen. Eine künftig andere Mehrheit darf nicht mehr anders entscheiden. Die derzeitige österreichische Regierung hat gerade noch eine knappe Mehrheit in der Bevölkerung. Aber auch mit dem BZÖ – dem Fan-Club des verblichenen Jörg Haider, den es als Partei gar nicht mehr gibt – oder den Grünen kommt keine Verfassungs-Mehrheit in der Bevölkerung zustande. Es könnte kaum ein besseres Beispiel für das Auseinander-Klaffen von Legalität und Legitimität geben. Die Zwei-Drittel-Mehrheit als Verfassungs-Mehrheit ist eine andere Frage, auf die wir uns hier nicht einlassen können. Das ist der eine, fundamentale, Aspekt.
Der zweite ist auch nicht unwichtig: Die sogenannten „Schuldenbremsen“ hatten immer zum Ziel, und haben der Erfahrung nach immer den Effekt, den Wohlfahrtsstaat abzubauen und Umverteilung nach oben zu betreiben. Die Großgrundbesitzer sind tabu. Aber die „Hackler-Pension“, die ist finanziell untragbar, die Pension nach 45 Arbeits-Jahren: eine Zeit, welche die Hetzer dagegen selbst nie erreichen werden, usw. Die Schuldenbremse hat als einzigen Zweck die Mittel- und Unterschichten zu enteignen.
Und der Stabilitäts-Pakt? Er versucht die Abschaffung von Wirtschaftspolitik, geht das Ziel aber auf etwas andere Weise an. Die Entscheidung muss weg verlagert werden von der nationalen Regierung. Die ist zu sehr unter dem Druck der eigenen Bevölkerung. Also müssen jene entscheiden, die nicht davon betroffen sind. Es ist die genaue Umkehrung des Grundsatzes von Demokratie und Subsidiarität: Nicht die Betroffenen sollen selbst bestimmen. Wir kennen dies schon von woanders her: Ob die Menschen in Tirol unter dem Verkehr leiden, sollen Bayern und Südtiroler Frächter entscheiden. Und wenn es nach den Grünen geht: Ob das österreichisch Sozialsystem aufrecht bleibt, soll durch Volksabstimmungen auf EU-Ebene entschieden werden.
Ohne die deutschen Kontrolleue, die durchaus in Berlin sitzen, sekundiert von Pariser Kollegen, wird in Brüssel kein Erlass und keine Richtlinie formuliert. Das Imperium ist eine unpersönliche, unbenennbare Struktur? „Imperialism is over“? Wer dies behauptet, hat gar nichts verstanden.
Österreich bittet in der Person seines Kanzlers und seines Außenministers richtiggehend um Entmündigung und Abhängigkeit – wie schon zu anderen Zeiten. Sogar dem konservativen ehemaligen Kommissar Fischler geht dies zu weit und er versucht, vergeblich, seinen Parteiobmann zur Raison zu bringen.
Der Unterschied zwischen Tell el-Kebir 1882 und Südeuropa 2012 liegt darin, dass damals die Briten die Ägypter massakrierten. Heute sollen die nationalen Regierungen, geführt von EU-Bürokraten, diesen Job selbst übernehmen, wenn möglich auf legal stimmige Weise.
2. Februar 2012