Ennahda und der türkische Traum
Der große Sieger sind die moderaten Islamisten von Ennahda, die mehr als 40% der Stimmen auf sich zu vereinigen wussten. Hierzulande herrscht betretenes Schweigen. Man kann einerseits nicht umhin ihren Erfolg zu akzeptieren, denn ein Szenario wie in Palästina, wo der Westen den Wahlsieger Hamas kalt wegputschen ließ, würde die Umarmungspolitik konterkarieren. Doch wohl fühlt man sich dabei auf der anderen Seite nicht und weiß nicht so recht wie damit umzugehen, denn islamophob bleibt man allemal. Das gilt nicht nur für den Mainstream, sondern auch die Linke hüllt sich in Schweigen.
Gewiss ist jedoch, dass Ennahda gegen die Diktatur gekämpft hat (auch wenn sie der Umsturzbewegung zunächst nur folgte). Zehntausende ehemalige politische Gefangene legen davon Zeugnis hab. Gute Teile der unteren Klassen unterstützen Ennahda, weil sie sich Demokratie wünschen, einen Weg aus der Armut suchen, soziale Gerechtigkeit fordern und sich nationale Unabhängigkeit vom Westen erhoffen. (Der Islam muss als auch Symbol dafür gedeutet werden.) Kurz: Die Massen haben Ennahda gewählt, weil sie sich von ihr die Durchführung des Minimalprogramms der Revolution erwarten – auf sozialdemokratische Weise.
Ähnliches gilt übrigens genauso für die zwei linksliberalen Parteien, dem „Kongress für die Republik“ (CPR) von Moncef Marzouki und der „Demokratischen Forum für Arbeit und Freiheiten“ (FDTL-Ettakatol) von Mustapha Ben Jaafar, die zusammen rund ein Fünftel der Stimmen erobern konnten. Sie haben sich beide bereit erklärt mit Ennahda eine Übergangsregierung zu bilden.
Doch Ennahda ist keine einheitliche Partei, noch vertritt sie klar die Interessen der Unterklassen. In ihr gibt es alles und an ihr werden nun alle ziehen. Es gibt den Mittelstand und auch Elemente der Elite und des Business. Es gibt neben Kulturliberalen auch Konservative und selbst Salafiten. Es gibt jene, die gegen die Diktatur kämpften und unter ihr litten und die anderen, die es sich im Exil bequem machten. Es gibt das Geld und den Einfluss von Saudiarabien und dem Golf. Und vor allem sind da die Umarmungsversuche aus dem Westen, die von Obama selbst angeführt werden.
Ennadha selbst kontert mit dem türkischen Modell der AKP. Kapitalismus mit sozialer Entwicklung. Demokratie, Islam und säkularer Staat in einem verwurschtet. Unabhängigkeit ohne Bruch mit dem Westen. Wie lange das in der Türkei selbst gut geht ist hier nicht Gegenstand, in Tunesien stehen jedoch die sozioökonomischen Zeichen auf Sturm.
Die alte Elite und der Säkularismus
Allein die Durchführung der Wahlen zur Konstituante, die die alte Elite nicht haben wollte, sind eine Niederlage für sie, ihr Ausgang indes sogar vernichtend. Sie gingen mit ihrem letzten noch verbliebenen Trumpf ins Rennen, dem Laizismus gegen das Gespenst der islamischen Bedrohung, so wie ihn alle kapitalistischen Diktaturen am Mittelmeer als Rechtfertigung verwendeten. Vor allem im gebildeten Mittelstand hatte und hat diese Position noch einen gewissen Zuspruch. Natürlich war auch der Westen zwei Jahrzehnte auf dieser Welle gefahren und macht das noch immer, wenn heute gezwungenermaßen etwas schaumgebremst.
Insbesondere gegen Ende der Wahlkampagne wurde alles in die Schlacht geworfen. In der Auseinandersetzung um den Film Persepolis, in dem es zu einer im Islam verbotenen bildlichen Darstellung Gottes kommt, versuchte man eine Polarisierung individuelle Freiheitsrechte versus islamischen Fundamentalismus aufzubauen.
Doch die Wähler erteilten dieser Strategie eine entschiedene Abfuhr. Die ultralaizistische „Demokratische Fortschrittspartei“ (PDP), die so wie die zuvor genannten Parteien aus dem Milieu der halblegalen Opposition gegen Ben Ali kommt, war als Hauptkonkurrent zu Ennahda verstanden worden. Teile des Business unterstützten sie. Schließlich musste sie sich unter ferner liefen mit ein paar Prozent geschlagen geben. Ebenso die ehemalige Kommunistische Partei, die sich im Rahmen des Demokratisch-Modernistischen Blocks der Wahl stellte. Sie hatte bereits unter der Diktatur diese als das kleinere Übel zu den Islamisten betrachtet. Dann gab es in dieser Strömung noch einige direkt aus der RDC Ben Alis hervorgegangene Parteien. Alle zusammen blieben sie unter 10%.
Die Revolutionäre im Schlepptau der Säkularisten
Insbesondere der Kommunistischen Arbeiterpartei (PCOT) waren große Chance eingeräumt worden. Ihr Führer, Hamma Hammami, verfügt als einer der profiliertesten Kämpfer gegen die Diktatur über größtes Prestige. Gemeinsam mit einigen anderen Gruppierungen setzten sie den Kampf gegen das Übergangsregime von Essebsi fort, während die meisten anderen mit ihm kooperierten. Ihre zentralen Forderungen sind: die Bestrafung der Folterer und Mörder Ben Alis, eine massive Umverteilung nach unten und ein staatliches Investitionsprogramm, die Streichung der Staatsschulden sowie der politische Bruch mit dem Westen. Die Stärke dieser Position zeigt sich darin, dass es in der Mitte Stimmen gibt Hammami in die Regierung zu nehmen, trotz der bescheidenen Wahlresultate.
Der Fehler: Sie distanzierten sich nicht ausreichend von der säkularistischen Kampagne, da sie sich als Teil der linken Familie verstehen, trotz der Tatsache, dass viele dieser sich im Umfeld des alten Regimes befanden und befinden. Das Milieu der PCOT will die Symbolik des Islam nicht verstehen und sieht den Islamismus durchgängig und glatt als reaktionäre und wirtschaftliberale Kraft an. Sie stellen sich dem Problem des Kampfes um die islamischen Massen nicht, sondern setzen dagegen die kommunistische Identität quasi als konkurrierendes Glaubenssystem. Dazu kommt noch eine gehörige Portion Selbstüberschätzung. Dafür wurden sie trotz ihrer wichtigen Rolle in der Bewegung bestraft.
TV-Milliardär und Populist
Stärkste reaktionäre und letztlich Regime-nahe Kraft wurde überraschend der in London ansässige Medienunternehmer Hechmi Hamdi. Ursprünglich Islamist, kooperierte er später mit Ben Ali. Einzig über sein Fernseh-Programm führte er eine populistische Wahlkampagne, in der er auch zahlreiche soziale Versprechen für die Unterschichten machte. Selbst aus armen Verhältnissen aus der Stadt Sidi Bouzid stammend (wo die Revolte ausgebrochen war), kandidierten auf seiner Liste einige einfache Leute. So gelang es ihm in seiner Heimatstadt sogar die Mehrheit von Ennahda und landesweit vielleicht um die 15% zu erobern.
So gefährlich dieses Phänomen auch sein mag, so sehr zeigt es gleichzeitig auch die politische Schwäche der Elite an, die nur mehr mit leeren sozialen Versprechen Stimmen zu machen in der Lage ist. Sollte es diese einmal einzulösen gelten, wird nicht viel übrig bleiben.
Und der dritte Akt?
Das kräftige Lebenszeichen für die Demokratie ist für sich genommen bereits ein großer Schritt vorwärts. Denn sie gibt den sozialrevolutionären und antiimperialistischen Kräften nicht nur legalen Bewegungsspielraum.
Für westliche Friedhofsdemokratie, die nur der Elite als Maskerade dient, ist in Tunesien kein Platz, denn es gibt letztlich zu wenig zu verteilen. Die große, im weitesten Sinn sozialdemokratische Mitte (gemeint sind Ennahda, CPR, FDTL-Ettakatol) hat keine Chance auf ein türkisches AKP-ähnliches, geschweige denn auf ein europäisch-sozialdemokratisches Schicksal im Stil der Nachkriegszeit. Schwere soziale und politische Konflikte sind vorprogrammiert, die diese Mitte sprengen werden. Die neuen Eliten (eventuell gemeinsam mit Resten der alten) werden versuchen mit der Hilfe des Westens die demokratischen Errungenschaften zurückzuschrauben (siehe Ägypten), doch die Massen werden sich diese nach den errungenen Erfolgen nicht so ohne weiters nehmen lassen.
So wird sich Platz für eine sozialrevolutionär-antiimperialistische Front bieten, die nichts mehr zu tun braucht als das genannte Minimalprogramm ernsthaft zu verfolgen. Denn dessen Durchsetzung erfordert radikale Schritte sowohl gegen die einigen Eliten als auch gegen den globalen Kapitalismus. Das wird der schwere, dritte Akt der Revolution.
Die größte strategische Herausforderung besteht dabei darin, einen Teil der islamischen Massen in die Front zu führen, während der andere, elitennahe Teil vom Westen vereinnahmt werden wird. Ohne Bruch mit dem Franko-Laizismus besteht die große Gefahr, die islamische Armut in die Arme der Eliten zurück zu stoßen.
Derweil soll der tunesische Erfolg die arabische Volksbewegung beflügeln.