Tunesien ist nicht nur das arabische Land, indem 2010 die Protestbewegung des sogenannten arabischer Frühling begann; sondern auch das erste Land, wo der Kopf des Regimes verjagt wurde; das erste Land, wo eine verfassungsgebende Versammlung stattfand; und letztendlich das erste Land, in dem eine gewählte Regierung die Macht übernahm.
Vielleicht müssen wir zum Anfang zurück: Diese Bewegung, die in den ärmsten Regionen begann (2008 Rdeyf, 2010 Sidibouzid), drehte sich um soziale, wirtschaftliche und demokratische Forderungen, nicht um Identiätsfragen oder religiöse Angelegenheiten. Sie erreichte ihren höchstes Punkt in den Sit-ins von Alkasbah (Regierungsviertel) I und II, die die Kernforderungen der Bewegung durchsetzten: die Wahl einer verfassungsgebende Versammlung – eine Forderung, die vor allem von der Linken stammt. Doch diese Linke ist nicht so einheitlich ist wie sie sein sollte.
Im Wahlkampf und in der Auseinandersetzung um die Neuausrichtung der Machteliten sind die sozialen und demokratisch-wirtschaftliche Forderungen untergegangen. Stattdessen ist eine Schlacht um die Identität des Landes entbrannt.
Eine linksliberale frankolaizistische Elite, die über mehrere Jahrzehnten mit der Diktatur paktiert hatte, schaffte es vorübergehend die Leute vom Weg des Kampfs gegen Ausbeutung, gegen die soziale und wirtschaftliche Misere abzubringen und in einer sekundäre „Schlacht“ zu werfen. Es ist eine Schlacht, in der es in einer arabischen Gesellschaft nur ein Sieger geben kann und zwar jenen, der seinen Diskurs mit der Religion schmückt. So konnte die Ennahda-Partei klar siegen. (Es gibt allerdings noch tiefer liegende Gründe. Letztlich sind es mehrere Faktoren und komplexe Gegebenheiten, aus der Geschichte aber auch den ausländischen Einflüssen geschuldet.) Jedenfalls hat die Diskussion zur Identität, die vor der Wahl stattfand, den Erfolg der Islamisten und die Niederlage der sozialistischen Linken mit verursacht.
Die Ausrichtung Tunesiens nach der Wahl deutet mehr auf Kontinuität der wirtschaftlichen Optionen hin die unter anderem zu den sozialen Zuständen, die heute in Tunesien oder auch in vergleichbaren Länder vorherrschen, geführt haben, aber mit zwei wichtigen Unterschieden:
1. Ein demokratisches Modell mit Wahlen, Mehrparteiensystem und Meinungsfreiheit (alles Faktoren, die dem jahrzehntelangen Kampf viele politische Kräfte Tunesiens zu verdanken sind).
2. Wechsel vom französischen Einfluss Richtung Golfstaaten/USA. Darauf deuten viele politische Signale Richtung Katar und USA oder von Katar und USA Richtung Tunesien und in Zusammenhang mit dem „arabischen Frühling“ hin.
Schaffen es die Islamisten durch pragmatische Politik im In- und Ausland und einen „moderaten“ religiösen Diskurs eine gewisse Stabilität zu schaffen und soziale und wirtschaftliche Probleme anzupacken? Zumal sie kaum konkrete Vorstellungen über Lösungen haben die über jene des alten Regimes hinausgehen. So hörte man: Arbeitslose nach Libyen schicken; Investoren durch steuerliche Vorteile ins Land holen (!); kaum realistische Versprechen wie die Schaffung von 400.000 Arbeitsplätzen in einem Jahr.
Oder kann es denjenigen, die diese Bewegung gestartet haben, gelingen, den revolutionären Weg weiter zu gehen, um das ganze System zur Fall zu bringen? Werden wir in den nächsten Jahren einen „demokratischen Klassenkampf“ und Widerstand gegen die Systemerneuerer und -erhalter sehen? Bieten sich neue Chancen für die Linke, selbstkritisch und einheitlich näher die Ärmsten und Schwächsten des Landes zu rücken?