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Gordischer Knoten Idlib

Eines ist sicher: wenn überhaupt, wird es ein ungerechter und undemokratischer Frieden


8. März 2020
Wilhelm Langthaler

Schon fast ein Jahrzehnt dauert nun der syrische Bürgerkrieg mit seinen zahlreichen Volten, seinem unendlichen Leid für die Bevölkerung und seine emanzipatorische Hoffnungslosigkeit. Der Kampf um Idlib gehört sicher zum Schlussakt, aber das Ende ist noch keineswegs abzusehen.


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Bei dieser jüngsten Episode der türkisch-russischen Unstimmigkeit treten nochmals viele der Widersprüche ans Tageslicht, die ungelöst bleiben. Ganz augenscheinlich ist da das ungleiche Verhältnis zwischen der Türkei und Russland; aus der Tiefe bricht sich die Tatsache, dass eine rein militärische Lösung unter Begrabung der Artikulationen der Bevölkerung auf dauern nicht funktioniert.

Erinnern wir uns: Das direkte Eingreifen Russlands in den Bürgerkrieg auf Seiten Assads ab September 2015 stellte einen der großen Wendepunkte dar. Vorausgegangen war dem das Disengagement der USA, die einen zweiten Irak nicht riskieren wollten, die Abwendung der USA vom Jihadismus der in Form des IS zur Bedrohung wurde und schließlich die Erhebung der linken Kurden zu Washingtons Hauptverbündeten.

Das führte zu einer mehrgestalten Niederlage der Türkei. Einerseits verlor sie die Schlacht um Aleppo, dessen eigentlicher politisch-militärischer Architekt sie war, gestützt auf den Jihadismus. Noch mehr, der historische innere Feind, die Nationalkurden, wurden plötzlich von der Nato-Zentralmacht USA hofiert. (Alles oder nichts – Weichenstellungen für die syrischen Kurden vor Raqqa)

Rote Alarmlichter mussten bei Erdogan spätestens im Juli 2016 mit dem Putschversuch aufleuchten, den die USA erst nach seinem Scheitern verurteilten. An ihm waren jedenfalls Pro-Nato-Kräfte sowie diverse Elitekemalisten beteiligt gewesen. Den immer tieferen Graben mit Washington, die Serie von Niederlagen in Syrien, das man im Sturm hatte nehmen wollen, sowie das Zerwürfnis mit allen Nachbarländern – ganz abgesehen vom Hegemonieverlust im Inneren – wurden zur akuten Bedrohung für den Erdoganismus. Erdogan musste eine jähe Wende machen, eine Fähigkeit, die ihn und sein System auszeichnet.

Und Erdogan wandte sich auf sensationelle Art und Weise Russland zu, der Schutzmacht des syrischen Feindes. Eigentlich war es eine Teilkapitulation, denn damit war der Sturz Assads, das erklärte Kriegsziel, vom Tisch. Doch Erdogan gelang es, dies hinter der starken Belebung des traditionellen türkischen Nationalismus und Chauvinismus gegen die Kurden zu verstecken. Einerseits waren und sind die Absetzung von den USA im Volk populär, andererseits konnten mit dem forcierten Nationalismus die verärgerten kemalistischen Eliten zumindest neutralisiert werden.

Der zu zahlende Preis für den Kreml war akzeptabel, nämlich die Eindämmung der kurdischen Autonomiebestrebungen einerseits (zumal diese sich ja an die USA angehängt hatten), sowie die direkte militärische Präsenz türkischer Truppen auf syrischem Territorium andererseits, dessen Dauer unabsehbar ist. (Angriff auf Afrin: Erdogan versucht in der syrischen Niederlage das Gesicht zu wahren)

Auf dieser Basis wurde der syrische Rückeroberungsfeldzug erst möglich. Politisch erfolgte dieser auf der Linie der algerischen Bürgerkriegsgeneräle der 1990er Jahre, genannt Éradicateurs, Auslöscher. Die Islamisten müssten physisch vernichtet werden, kein politischer Kompromiss sei zulässig, die ganze Macht gehöre den konfessionell gepanzerten alawitischen Militärs. Algerien kostete diese Linie hunderttausende Tote in einem grauenhaften zehnjährigen Bürgerkrieg. Aber es gibt erhebliche Unterschiede zu Syrien. Zunächst gibt es die Ölrente nicht, mit der die Basis des politischen Islam beruhigt werden kann. Zweitens gibt es den konfessionellen Aspekt nicht. Und drittens wurde man nach dem errungenen militärischen Sieg politisch etwas weicher (Bouteflika). In Syrien hat diese Linie noch schrecklichere Auswirkungen:

Es sei an den grausamen Charakter der syrischen Kriegsführung erinnert, die wegen ihrer Schwäche am Boden mit ungezieltem Artilleriebeschuss und Bombardement aus der Luft verbrannte Erde hinterlässt. Eine Folge davon ist die gigantische Fluchtbewegung, die von der UNO auf die Hälfte der Bevölkerung geschätzt wird! Dass die andere Seite keine besseren Intentionen hat, mag sein, aber sie hat für solche Verbrechen jedenfalls nicht die Mittel.

Beim langsamen Vormarsch der Regierungstruppen waren Teilkapitulationen der vorwiegend islamistischen Aufständischen üblich (anfangs hatte sie in den Armenvierteln der großen Städte erhebliche Unterstützung), die die Evakuierung nicht nur der Kämpfer, sondern auch ihrer Familien vorsah – nach Idlib. So wurde die Provinz Idlib zum Sammelbecken des Jihadismus mitsamt unterstützender Bevölkerung. Ein erheblicher Anteil der gegenwärtigen Einwohner stammt also nicht von dort. Es gab sogar eine Art Bevölkerungstransfer auf Basis politischer Loyalitäten, denn aus der Provinz Idlib wurde im Gegenzug schiitische Bevölkerung abgesiedelt.

Wenn es einen politischen Kompromiss gab, dann den über Russland mit der Türkei vermittelten, die damit einerseits Schutzmacht und andererseits Domestizierer der militanten Islamisten wurde, mit denen Damaskus selbst nicht fertigwerden konnte.

Das Abkommen von Sotchi 2018 machte die Türkei zur Garantiemacht, die militärische Beobachtungsposten in Idlib eingeräumt bekam, allerdings auch die Demarkationslinie sichern und vor allem die HTS, die Nachfolgeorganisation der Nusra, zurückdrängen und entwaffnen sollte. Diesen unkontrollierbaren Jihadisten war aus Pragmatismus nichts anderes übriggeblieben, als den türkischen Schirm zu akzeptieren. Doch von Unterordnung oder Entwaffnung kann nicht die Rede sein, zumal die Bewegung tiefe Wurzeln in der Bevölkerung geschlagen hat und ein militärisches Vorgehen der Türkei gegen die HTS politisch-militärisch nur sehr schwer möglich ist.

Mit der schrittweisen Konsolidierung der syrischen Regierungskräfte rückten diese mit russischer Luft- und iranischer Bodenunterstützung vom Süden und Osten auf Idlib vor – gegen die türkischen Interessen im Allgemeinen und die türkischen Beobachtungsposten im Besonderen. Ein Zusammenstoß war unvermeidlich und seitens der Türkei war eine Machtdemonstration notwendig, um die andere Seite in die Schranken zu weisen und nicht das Gesicht zu verlieren.

 

Bemerkenswert sind die unmittelbaren Folgen des türkischen militärischen Eingreifens insbesondere aus der Luft einschließlich Drohnen und mit moderner Artillerie. Die islamischen Rebellen konnten schnell vorrücken und verlorene Gebiete zurückgewinnen. Jedenfalls scheinen die HTS nach wie vor eine bedeutende militärische Kraft zu sein.

 

Kurz diskutierte man schon Szenaren des türkisch-russischen Bruchs und eine Wiederannäherung an die USA und die EU. Doch würde das sowohl für die Türkei als auch für Russland eine tiefe Niederlage mit unabsehbaren Folgen bedeuten. Ein Waffenstillstand war also imperativ und absehbar.

 

Schaut man sich die Bedingungen des Waffenstillstands genauer an, dann erkennt man unschwer, dass die Türkei ordentlich Federn lassen musste. Der West-Ost-Korridor entlang der M4 durchschneidet das Rebellengebiet im unteren Drittel und wird auf die Dauer nicht gehalten werden können. Die Stadt Idlib selbst liegt direkt an der demilitarisierten Zone und kommt so in Reichweite für Russland und die syrische Regierung. Die gemeinsamen türkisch-russischen Patrouillen dienen tendenziell der politischen Deckung der Rückeroberung.

 

Weitere Konflikte sind unvermeidlich und es ist nur eine Frage der Zeit, dass Kampfhandlungen wieder aufflackern. Die Türkei hat keinen Hebel Russland aufzuhalten, sondern kann nur mit dem Selbstmord drohen, der auch Moskau schaden würde. Russlands Interesse ist es also, Erdogan zu helfen, den schrittweisen Rückzug politisch verkäuflich zu machen.

 

Und dazu dienen die Kurden, namentlich die Verhinderung einer Autonomie unter der Führung einer PKK-nahen politischen Kraft. Wie das genau aussehen wird, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, denn da gibt es viele Mitspieler, nicht zuletzt Washington. Die Erdogansche Grundidee vom Anfang seiner Ära, den Kurden Zugeständnisse zu machen aber dabei die PKK einzudämmen, wird wohl auch für Syrien als Leitfaden dienen. Für das türkische Territorium ist sie jedoch gänzlich gescheitert. Es gibt keinen Anlass anzunehmen, dass eine kurdische Autonomie ohne Nationalkurden funktionieren könnte.

 

Die PYD/PKK-Führung hat mit ihrem Bündnis mit den USA hoch gepokert. Wie das beim Hasardieren so ist, kann man viel gewinnen – aber auch verlieren. Mit Sozialismus darf man Rojava aber keinesfalls verstehen, sondern als mögliche Nische zwischen den Reibungsflächen der Groß- und Regionalmächte, von den von genauso gut auch zermalmt werden kann.

 

Eine übergeordnete Betrachtung zum Schluss: Die Zurückdrängung des Einflusses der USA in Nahost ist eine positive Entwicklung und zeigt das Momentum zu einer multipolaren Weltordnung. Doch die möglichen anderen Pole sind damit nicht automatisch fortschrittlich. So spielen sowohl Russland als auch Iran auf der einen, sowie die Türkei auf der anderen Seite eine konterrevolutionäre Rolle im Sinne der sozialen und demokratischen Emanzipation. Antiimperialismus wiederum kann in größerer historischer Dimension nur auf das Volk gestützt sein und dessen Emanzipation anstreben.

 

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