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Papandreou setzt alles auf eine Karte

Griechisches Regime (nicht nur Regierung) vor Zusammenbruch


1. November 2011
von Wilhelm Langthaler

Die Ankündigung Papandreous ein Referendum über das Rettungspaket durchzuführen, hat die Börsenkurse herunterrasseln lassen und die europäische Elite in Panik versetzt. Des Premiers Hasardspiel (auch als Reaktion auf den Massenwiderstand) zeigt die Dramatik der politischen Krise nicht nur der gegenwärtigen Regierung, sondern des gesamten politischen Systems Griechenlands.


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Wie nach einem Krieg…

Die von der Troika EU-EZB-IWF diktierten sozialen Einschnitte führten zu einem sozialen Niedergang, wie er Westeuropa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr für möglich gehalten wurde. Doch die Austeritätsmaßnahmen haben noch lang nicht ihr Ende erreicht. Im Gegenteil, die europäische Oligarchie zieht die Schlinge um den Hals der einfachen Griechen immer fester zu, als wollte man sie bestrafen. Buchstäblich macht sich der Hunger breit.

Im Schnitt haben die Familien innerhalb weniger Monate mehr als ein Drittel ihres Einkommens verloren. Die öffentlichen Leistungen wie Gesundheitssystem, Schulwesen, Transport, Pensionen werden immer weiter degradiert und nähern sich dem Niveau eines Dritt-Welt-Landes.

„Ein befreundeter Architekt führte ein Büro mit vier Angestellten. Diese musste er Schritt für Schritt kündigen und schließlich das Büro auflassen. Dann wurde noch seine Frau arbeitslos. Glücklicherweise hatte die Großmutter noch eine Green Card. Sie arbeitet nun als Küchenhilfe in den USA und ernährt die Familie.“ Ein heute typisches Schicksal erzählt von Errikos Finales, einem politischen Führer der Kommunistischen Organisation Griechenlands (KOE), der sich Mitte Oktober auf Einladung der Antiimperialistischen Koordination (AIK) in Wien befand.

Letzter Streich der Regierung war die Kündigung von 30.000 nach Verfassung unkündbaren Beamten – als Auftakt für eine radikale Verkleinerung des öffentlichen Apparates. Beamte sind in ihrer übergroßen Mehrheit Parteigänger entweder der regierenden Pasok oder der derzeit oppositionellen Nea Demokratia, die alterniert mit der Pasok das Land regierte. Mit diesem radikalen Schritt zersetzt die Regierung ihre eigene Kientel.

Zudem kommt, dass Griechenland de facto unter das Kuratel der Troika gestellt wurde. Die EU ist nicht mehr der freiwillige Verbund der europäischen Nationen, sondern wird in Kontinuität der Fremdherrschaft der europäischen Eliten, insbesondere Deutschlands, wahrgenommen.

Obendrein beschimpften Papandreou und die griechische Elite ihr Volk noch als faul und dumm, ganz auf der Linie der westeuropäischen Boulevardpresse. Das vor dem Hintergrund, dass während das Volk blutet, die Banken mit dutzenden Milliarden gerettet werden. Was man in Europa nicht weiß oder nicht wissen will, ist für die griechische Bevölkerung unerträgliche Provokation: dass der griechische Geldadel nicht nur jahrzehntelang im großen Stil Steuern hinterzogen hat, sondern ihre Gelder, die sich auf einen guten Anteil des BIP belaufen, auf ausländische Banken in Sicherheit gebracht hat.

Widerstand

Die Wut ist also groß und breitet sich Schritt für Schritt auf weitere Schichten der Bevölkerung aus. Es ist nicht die traditionelle Linke, die da im Vordergrund steht, sondern es kommen Sektoren der Bevölkerung in Bewegung, die bisher gänzlich passiv waren. Parteien werden ähnlich wie von den spanischen indignados abgelehnt oder zumindest sehr skeptisch betrachtet.

Es sind nicht nur die Massendemonstrationen und Generalstreiks, wie sie sie in dieser Größe seit dem Ende der Militärdiktatur nicht mehr gegeben hat, sondern eine spontane Selbstorganisation rund um die unmittelbaren Probleme des täglichen Lebens.

So haben sich angesichts der Protestbewegung bei der Müllabfuhr lokale Komitees zur Beseitigung des Mülls gebildet. Oder: Es kommt immer wieder zu Boykottaktionen bei Mautstationen oder auch zum organisierten Nicht-Zahlen der Fahrkarten für den öffentlichen Verkehr.

Nachdem viele Bürger die neu aufgebürdeten Steuern nicht mehr bezahlen können, werden sie nun gemeinsam mit der Stromrechnung eingehoben. Wer diese nicht begleichen kann, dem wird der Strom abgeklemmt. Da sich die Bediensteten des Versorgungsunternehmens weigern solche Abschaltungen durchzuführen, wurden private Firmen flankiert mit Sicherheitsdiensten beauftragt. Nicht nur, dass es in den Wohnvierteln Widerstand gibt, sondern es finden sich „Robin-Hood-Elekriker“, die ihre Dienste für die Wiederinbetriebnahme anbieten. Zudem kam es zur Besetzung des Druckzentrums der Elektrizitätsgesellschaft, wo für einige Tage sogar die Pasok-nahe Gewerkschaft mitziehen musste.

Die Protestbewegung auf der Straße ist Wellen unterworfen. Sie durchläuft Lernzyklen. Anfang Mai waren plötzlich eine halbe Million Menschen vor dem Parlament, das fast gestürmt worden wäre. Doch dann kamen durch einen Angriff mit Molotov-Cocktails drei Menschen zu Tote, was die Bewegung auf der Stelle zum Erliegen brachte.

Ende Juni entwickelte sich die nächste Welle, an deren Höhepunkt Papandreou nicht mehr Herr der Lage und die Regierung für einen Moment bereits aufgelöst war. Doch nachdem man ihr schließlich doch nicht den finalen Schlag versetzen konnte, ebbte die Bewegung wieder ab. „Die Menschen wollen konkrete Ergebnisse sehen. Wenn Kampfmaßnahmen nicht funktionieren, dann ziehen sie sich zurück. Doch angesichts der Dramatik ihrer Lage versuchen sie es später mit neuen Ideen wieder“, sagt Errikos Finalis.

Seit Mitte Oktober rollt die dritte Welle von Großdemonstrationen und Generalstreiks.

Regime vor der Implosion

Papandreou und die Elite wissen um die Explosivität der Lage und den fast totalen Verlust von Legitimität. Jedes kleine Ereignis könnte als Funke dienen, sowohl auf der Straße als auch im Parlament, wo seine Mehrheit nur mehr an einem seidenen Faden hängt. Die offizielle Opposition, die rechte wie die linke, fordert schon seit längerem Neuwahlen. Solche würden vermutlich Nea Demokratia an die Regierung bringen, die sich sehr zum Missfallen ihrer christdemokratischen Verbündeten in Europa nicht voll hinter die Troika-Programme stellt. Rechte und linke Ränder innerhalb des Systems würden wahrscheinlich ebenso dazu gewinnen. Doch tatsächlich ist das ganze System bereits extrem abgenutzt. Jede neue Regierung würde sich auf einem Schleudersitz befinden.

Darum trat Papandreou die Flucht nach Vorne an. Nicht Neuwahlen, sondern ein Referendum zum Troika-Programm, zur EU und zum Euro kündigte er an. Als Zeitpunkt nannte er Anfang nächsten Jahres, also angesichts der Geschwindigkeit der Ereignisse eine Ewigkeit. Ob die Abstimmung tatsächlich stattfinden wird, ist eine andere Frage, doch nun hält Papandreou vorerst den Trumpf in der Hand. Alle hinter mir oder die Sintflut! Eine eventuelle Formulierung der Referendumsfragen würde wohl ähnlich lauten.

Tatsächlich wird hier die Frage der Alternative gestellt. Gibt es eine andere Logik als die des europäischen kapitalistischen Zentrums?

Verfassungsgebende Versammlung

Die traditionelle Linke war als Teil des Systems konservativ, bewahrend. Sie verschlief oder missachtete die neue Massenbewegung, weil sie nicht von ihr geführt war. Man kann ewig vom Sozialismus oder von einer anderen, möglichen Welt sprechen. Doch mit der Idee eines konkreten, unmittelbar bevorstehenden Wandel konnte man nichts anfangen, man glaube so wie die gesamte europäische Gesellschaft an die immerwährende Stabilität des kapitalistischen Systems. Besonders eklatant ist das Beispiel der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), die anfangs ihre Beteiligung gänzlich verweigerte, denn alles was sich bewegt muss unter ihrer Führung bleiben.

In Anbetracht der Fragilität und Ausgehöhltheit des Systems analysiert Finalis von der aus maoistischer Tradition stammenden, aber unorthodoxen KOE, die Konzentration auf (Neu)wahlen als eine gefährliche Ablenkung. Das Misstrauen gegenüber dem gesamten politischen System hat bereits ein explosives Ausmaß angenommen, zumal dessen Institutionen ihre Souveränität eingebüsst haben. De facto diktiert die Troika. In Anlehnung an die arabische Revolte schlägt er daher eine Konstituante vor, gestützt auf die auszubauenden Volkskomitees, die allerorts am Entstehen sind.

Unabhängigkeit – Demokratie – produktiver Wiederaufbau

Doch welches alternative politische Programm gibt es? Finalis: „Die Menschen sahen, dass der reale Sozialismus gescheitert ist. Heute erkennen sie, dass der liberale Kapitalismus nicht funktioniert. Sie suchen nach einer gangbaren, sofort einzuschlagenden Alternative.“ Nach ihm habe es heute keinen Sinn weiter vom Sozialismus zu sprechen, so wie man es die letzten Jahrzehnte getan habe. De facto hieße das, keine Alternative anzubieten und alles beim Alten zu lassen. Es braucht ein konkretes, unmittelbares Programm:

In einer Erklärung versucht die KOE folgendermaßen ein Sofortprogramm zu formulieren:

„1) Raus mit der Troika, weg mit der Regierung und allen politischen Kräften, die die Troika offen oder versteckt unterstützen. 2) Keine Zahlungen mehr an die internationalen Wucherer. 3) Unabhängigkeit – Demokratie – produktiver Wiederaufbau. Das ist ein schwieriger Ausweg, der tiefe Brüche erfordert. Doch es ist der einzige Weg, der nicht ins soziale und nationale Desaster führt.“

Hinsichtlich des Austritts aus dem Euro und der EU überhaupt meint Finalis, dass sie diese Forderung immer aufgestellt hatten, doch diese heute nicht zur Bedingung einer zu bildenden politischen Front einer Systemopposition gemacht werden könne. Es kämen zwar immer mehr Menschen zu dieser Überzeugung, doch noch überwiegt die Angst vor solchen tiefen Einschnitten. Und vor allen zeichneten sich die Konturen einer Alternative noch nicht klar genug ab.

Nicht umsonst versucht Papandreou hier anzugreifen, denn wer mit Nein stimmt oder die Troika-Politik grundsätzlich ablehnt, richtet sich gegen Euro und EU mit der Konsequenz des Ausschlusses aus dem was bis vor kurzem als Garant der Prosperität galt.

Hier eröffnet sich nicht nur für die griechische Systemopposition, sondern auch für die marginalisierte europäische eine große Möglichkeit: zu zeigen, dass ein Bruch mit der kapitalistischen Oligarchie möglich ist, der nationale Souveränität und Demokratie im Sinne von Volksherrschaft herstellt. Dazu müssen die Staatsschulden gänzlich gestrichen werden. Zur Abwendung des Zusammenbruchs dürfen nicht abermals Milliarden und Abermilliarden von unten an die Oligarchie gepumpt werden (so wie es die Troika vor hat), sondern umgekehrt. Rettung muss Bruch heißen. Der Staat muss die Kontrolle über die Banken übernehmen, die sie vor dem Zusammenbruch bewahrt. Nachdem der globale Markt nicht fähig ist, die Ressourcen sinnvoll zu verteilen, muss der Staat eingreifen und den produktiven Wiederaufbau vorantreiben. Statt Aushungerung der Massen kann die Befriedigung ihrer legitimen materiellen Bedürfnisse die produktiven Kapazitäten des Landes wieder aufrichten. Das heißt aber auch eine eigene Währung über deren Gestaltung souverän bestimmt werden kann, ergo Austritt aus dem Euro.

Doch dazu muss der Staat unter die Kontrolle des Volkes genommen werden, was wiederum Austritt aus der EU bedeutet, die ja Organ der kapitalistischen Oligarchie ist.

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