Auch in Österreich wird von einigen Aktivisten unbedacht der Ausdruck von der „aktiven Neutralität“ genutzt, um eine Zielvorstellung gegen die EU-Militarisierung und die NATO-Tendenzen unserer politischen Klasse – und keineswegs nur der ÖVP-FPÖ – zu benennen. Wir, die wir gegen die heuchlerische „Friedens-Orientierung“ der derzeitigen Opposition ein tiefes Misstrauen hegen, sollten uns daher diese Wendung etwas genauer ansehen. Und ihr Pferdefuß zeigt sich schon auf dem ersten Blick.
Gerade wir, gegen die man auch den Anwurf bringt, wir seien „Nationalbolschewisten“ – über diesen Begriff werden wir bei Gelegenheit auch einmal sprechen müssen – , schauen ganz gerne auch zu den Nachbarn. Aber wir starren nicht gebannt auf Deutschland, wie unsere Gegner. Wir sehen uns z. B. einmal die Schweiz an. Dieser Blick in die Schweiz, eines neutralen Kleinstaats, hilft uns, uns vor der devoten Unterordnung unter die BRD und in der Folge der Großmacht-Phantasien der EU und anderer Mächte zu bewahren. Dazu kommt ein anderer, ziemlich wesentlicher Punkt: Die Erklärung der Neutralität erfolgte 1955 – in Absprache mit den Befreiern / Besetzern – klar und ausdrücklich „nach Schweizer Muster“ (Stourzh 1975).
Doch beginnen wir vorerst „daham“. Der Begriff der „aktive Neutralität“ dient in Österreich als Vorwand für so schmutzige Vorhaben wie die Darabos’sche Unterstützung des französischen Militäreinsatzes im Tschad. Der war eindeutig und klar ein imperialistisches und neokolonialistisches Unternehmen. Sehen doch viele französische Politiker Afrika immer noch als ihren Hinterhof, ihr reserviertes Jagdgebiet. Da gab es keinen Unterschied zwischen Mitterrand, Chirac, Sarkozy und Hollande.
In der Schweiz, die bei aller konservativen Dominanz eine lange Tradition der sorgfältigen politischen Debatte hat, die wir uns nur wünschen würden, wird es völlig deutlich. „Aktive Neutralität“ ist das Vokabel jener, welche tatsächlich die integrale Neutralität – also die schweizerische Haltung seit 1939 – ersetzen wollten, um die Schweiz, gegen den Willen ihrer Bevölkerung in die EU zu führen. Das sind vor allem SP-nahe Akademiker – nicht selten leben sie im Ausland. Thomas Maissen ist unter ihnen prominent. Er kann sich nicht einkriegen, über die „feige Schweiz“: „Neutralität bedeutet Feigheit“ (Aargauer Zeitung, 5. Jänner 2015).
Und er sagt es auch: Er ist gegen die integrale Neutralität. „Gegenwärtig sind die schweizerischen Debatten blockiert, weil integrale Neutralität und souveräne Unabhängigkeit als Beweis historisch einzigartiger Überlegenheit der Schweiz interpretiert werden, die sich angeblich auch in Freiheit, Demokratie und Föderalismus ausdrücken“ (in einem Blatt der NEBS, der Schweizer Euroturbos: Europa.ch 2 / 2015, 7). Allerdings traut er sich dann nicht ganz offen gegen die Neutralität Stellung zu beziehen. Es sei nicht so, „dass die Neutralität einen Beitritt zur EU verunmöglicht“. Der bundesdeutsche Zungenschlag ist übrigens kein Zufall. Maissen ist Chef des deutschen Historischen Instituts in Paris und Professor an einer deutschen Universität.
Aber es halten sehr viele mit, und sie haben politische Unterstützung, auch in Österreich. Die hiesigen Kriegstreiber laden diese Personen gerne zu Interviews ein, z. B. Jakob Tanner im Standard vom 17. 10. 2017. Man vgl. auch André Hollenstein; u. a..
Das ist, wie wir es aus unserer eigenen Geschichte seit 1994 kennen. Man sollte eigentlich sagen, seit 1991, denn der damalige Regierungs-Beschluss, welcher der NATO gegen die bisherige Rechtspraxis eine Durchfahrt für ihre Panzer ermöglichte, war eine Vorleistung auf den EG-Anschluss. Seit damals datiert man den Übergang der österreichischen Regierungspolitik von der integralen zur differenziellen Neutralität (vgl. auch Rotter 1991).
Wenn wir also ehrlich für die Erhaltung der Neutralität sind, als politische Haltung wie auch als Rechtsfigur, dann müssen wir klar für die integrale Neutralität eintreten.
Man kann den Unterschied zwischen aktiver und integraler Neutralität ganz gut in einer Reihe von Fach-Publikationen nachlesen, z. B. Schümperli Younossian 2008. Man sollte auch die Propaganda-Broschüre der Regierung (2004) lesen, die auch für „aktive“ Neutralität eintritt. Es ist eines der Erfolgsrezepte der Schweizer Rechtspopulisten, wieder einmal, dass sie als fast einzige in der politischen Klasse für die Neutralität eintreten, die im übrigen von fast der gesamten Schweizer Bevölkerung gewünscht wird. Ganz ähnlich wie in Österreich! Da wird in der historischen Übersicht schamhaft verschwiegen, dass die Schweiz nach einer Periode der differenziellen Neutralität 1939 wiederum die integrale Neutralität proklamierte und damit ganz gut durch die Zeit des Zweiten Weltkriegs kam. Es waren die US-Amerikaner, welche zu Kriegsende der Schweiz vorwarfen, sich nicht am Krieg beteiligt zu haben. Das wurde später wieder aufgenommen. Dass Schweizer Banken sich an Flüchtlingen vor den Nazis bereichert haben, machten sie nun den Schweizern insgesamt zum Vorwurf.
Integrale Neutralität hätte als politischer Begriff darüber hinaus den Vorteil, dass sie ein Fachterminus ist. „Aktive Neutralität“ dagegen ist ein Propaganda-Vokabel. Das wird ziemlich klar, wenn man den Text des Andreas Khol liest, den er seinerzeit schon 1990 gegen die Neutralität und für den Anschluss an „Europa“ schrieb. Auch da wird der Zusammenhang wieder sonnenklar. Er setzte zwar damals noch ein Fragezeichen dahinter, um den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Was die Bevölkerung von dieser seiner Politik hält, hat sie ihm bei den Bundespräsidentenwahlen 2016 ziemlich deutlich gezeigt: 10 % …
Ich denke, wir sollten unmissverständlich machen, wofür wir stehen und nicht um klare Begriffe herum eiern. Wir müssen gegen die „aktive Neutralität“ auftreten und für die integrale Neutralität stehen.
AFR, 1. September 2018
Eigenöss. Department (42004), Die Neutralität der Schweiz. Bern: Department für Verteidigung und EDA.
Khol, Andreas (1990), Neutralität – ein überholtes Instrument der österreichischen Sicherheitspolitik? In: Öst. Jb. für Politik, 47 – 73.
Gehler (2001), Finis Neutralität? Historische und politische Aspekte im europäischen Vergleich: Irland, Finnland, Schweden, Schweiz und Österreich. ZEI Bonn. Discussion Paper 92.
Rotter, Manfred (1991), Von der integralen zur differentiellen Neutralität. Eine diskrete Metamorphose im Schatten des zweiten Golfkriegs. In. Europäische Rundschau 19, Heft 3, 23 – 36.
Schümperli Younossian, Catherine (2008), Einführung: Neutralität und Entwicklungspolitik. In: Schweizerisches Jahrbuch für Entwicklungspolitik 27, XI – XVII.
Stourzh, Gerald (1975), Geschichte des Staatsvertrags 1945-1955. Österreichs Weg zur Neutralität. Graz: Styria.
Tresch, T. S. / Wenger, A. (2018), Sicherheit 2018. Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend. Zürich: ETH (Center for Security Studies / MILaK).