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Gezi-Park: Zwischen Demokratie und Kemalismus

Chance und Gefahr für eine sozialrevolutionäre Linke


14. Juni 2013
Von Wilhelm Langthaler

Die alte Linke war an der AKP gescheitert – weil sie sie fälschlich als lineare Fortsetzung der Militärdiktatur ansah. Die immer deutlicher zu Tage tretenden autoritären und kulturkämpferischen Tendenzen Erdogans bieten sozialrevolutionären Demokraten eine neue Chance. Allerdings unter einer Bedingung: dass sie nicht in die Falle des alten, schon totgeglaubten Kemalismus geht.


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Der Anlass der Proteste, die Zerstörung eines Parks im politischen Herzen der Stadt, bietet eine sehr breite und dehnbare Plattform. So vielschichtig die Bewegung ist, in so viele Richtungen lässt sie sich auch entwickeln. Wohin die Reise geht, kann noch nicht abgesehen werden. Zunächst ein paar Gedanken über den Charakter der Bewegung und mögliche Handlungsvarianten.

Die verschiedenen Seelen des Protests

Zunächst richten sich die Proteste gegen den ungezügelten Kapitalismus mit seinen rücksichtslosen Großprojekten, die keinen Widerspruch dulden. Im Visier befindet sich die neue islamische Elite, die versprochen hatte, anders zu sein als seine laizistischen Vorgänger. Das bedeutet aber keineswegs, dass es sich um einen Aufstand der Subalternen handeln würde. Soziologisch und kulturell betrachtet, stützt sich die Bewegung auf eine linksliberale, städtische, europäische Mittelschicht, oft plakativ weiße Türkei genannt – im Gegensatz zur ländlichen, armen, islamischen, schwarzen Türkei. Auch wenn der Kontext in jeder Hinsicht anders ist, kann man als Analogie die deutsche Anti-Atom-Bewegung heranziehen, die in der Folge zu den Grünen führte.

Selbstverständlich gibt es einen entscheidenden demokratischen Aspekt gegen die autoritären Auswüchse und die zelebrierte Arroganz der Macht. Ein wichtiges Moment dabei die Verteidigung der kulturellen Freiheiten der laizistischen Schichten. Anfangs hatte sich die AKP stark zurückgehalten und vor allem die autoritären Auswüchse der Säkularisten beseitigt, wie beispielsweise das Kopftuchverbot. Doch nun macht es den Eindruck, als versuchten sie den Spieß umzudrehen.

Zweifelsohne gibt es auch eine Gruppe von Kemalisten, die nach Revanche dürsten. Sie repräsentieren die Bewegung nicht, aber es gibt Anknüpfungspunkte und sie stellen sicher keinen Fremdkörper da.

Erdogans Fehler

Bisher hatte Erdogans AKP außerordentlichen Konsens genossen und zwar sehr weit über den islamischen Bereich hinaus. Die breite Zustimmung verdanken die moderaten Islamisten nicht nur dem rasanten wirtschaftlichen Wachstum, sondern auch einer Entspannung der Repression, der Bereitschaft zur kulturellen Koexistenz mit den Säkularisten und nicht zuletzt den Avancen den Kurden gegenüber. Auch die pragmatische Außenpolitik, die nicht mehr Washington und Brüssel auf Schritt und Tritt folgte, brachte Unterstützung. Dem gegenüber blieb die radikale Linke, die nach wie vor von einer faschistischen Militärdiktatur spricht, mit Blindheit geschlagen, was zu ihrer zunehmenden Marginalisierung führte.

Der erste große Fehler und Bruch in diesem Siegeszug war die Syrien-Politik. Erdogan hoffte mit der Unterstützung der Volksrevolte einen Höhenflug fortzusetzen und letztlich Seinesgleichen auch in Damaskus an die Macht zu bringen. Doch er verstrickte sich unerwartet in die Sackgasse eines konfessionellen Bürgerkriegs, der zahlreiche Rückwirkungen auf sein eigenes Land zeitigt. Nicht nur mobilisiert es die eigenen Aleviten, die bisher kaum unter konfessionellen Vorzeichen aufgetreten waren. Sondern auch das antiwestliche Image bröckelt, da sich die AKP massiv an den Westen und seine Verbündeten um Hilfe wandte. Konnte die Null-Problem-Außenpolitik noch auf die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung zählen, steht es bei der aggressiv-interventionistischen Haltung maximal halbe-halbe. An diesem neuen Strohhalm kann der sich im Todeskampf befindende Kemalismus sich nun anhalten.

Vor dem Syrien-Desaster gab es in der Türkei außen den Kurden keine signifikante Opposition mehr. Erst vor dem Hintergrund der Spaltung des Landes über Syrien ist die Protestbewegung denkbar geworden. In seiner Hybris reagiert Erdogan auf eine Weise, die ihm sehr viel Konsens kosten wird. Nicht so sehr bei seinem harten Kern, sondern genau bei den Schichten, die nun hinter dem Gezi-Park stehen. Sie hatten vielfach Erdogans vorsichtige Demokratisierung unterstützt. Beim Referendum gegen die Militärs 2010 gaben diese Schichten den Ausschlag, was zum 60:40-Sieg der AKP führte. Die sind nun wieder weg. Dass Erdogan tobt, macht den Schaden für ihn nur noch größer.

Aus revolutionär demokratisch-sozialer Sicht muss man sich an der Bewegung beteiligen, sie unterstützen. Doch Vorsicht bleibt geboten hinsichtlich der zahlreichen Fallstricke. Denn die Kraft der Bewegung kann auch wieder auf die Mühlen der alten kemalistischen Elite gehen.

Fallstricke

Obwohl es gegen die kapitalistischen Exzesse geht, handelt es sich im Kern um eine Artikulation der Weißen. Das macht sie nicht grundsätzlich verdammenswert, doch muss man höchst aufpassen, dass es nicht auf eine Konfrontation Weiß gegen Schwarz hinausläuft. Einmal in Bedrängnis, tendieren die Islamisten schnell dazu sich mittels Kulturkampf zu verteidigen und mittels des Islam den Alleinvertretungsanspruch für die Armen, die Schwarzen zu erheben. In diese Falle darf man nicht gehen, denn dann erscheinen nicht nur die Laizisten, sondern auch die Demokraten als weiß. Man muss sich mit den demokratischen Forderungen an die Schwarzen richten, sie zumindest zum Teil auf seine Seite ziehen, sie jedenfalls nicht vor den Kopf stoßen. Isoliert man sich von ihnen, kann man sich nur mehr in die schützenden Arme des Vaters der Türken, Kemal Atatürk, flüchten.

Noch schlimmer, über den alten Konflikt Laizismus-Islamismus hinaus baut sich die konfessionelle Gefahr auch in der Türkei auf. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die vielen Millionen Aleviten einmal als solche hervortreten werden. Und dann wird auch die Türkei vom Schisma Schia-Sunna erfasst.

Bisher scheint sich die Kurdenpartei BDP an Gezi beteiligt zu haben. Doch die Kurden kämpfen zuerst um ihre nationalen Rechte und das ist beim Mittelstand keineswegs hip. Gerade haben sie den alten chauvinistischen Nationalismus kemalistischen Typs zugunsten einer mehr postmodernen kritischen Haltung gegenüber dem Nationalismus überwunden. Das bedeutet aber im Umkehrschluss keineswegs die Unterstützung des kurdischen Selbstbestimmungsrechts. Im Grunde bleiben die Kurden in dieser Bewegung ein Fremdkörper, der durch die radikale Linke eingeführt wurde, die ihrerseits wiederum Subkultur der städtischen Mittelschicht ist. Denn in einem gewissen Sinn repräsentieren die Kurden den schwärzesten Teil der Türkei. Apo-Kult und Bobotum schlägt sich aber.

Für Erdogan drängt sich ein Schachzug auf: Führt er seinen Ausgleich mit der Kurden weiter, kann er sie vielleicht auf seine Seite ziehen und die Kemalisten isolieren. Die PKK würde ein solches Angebot wohl kaum ausschlagen.

Das allerwichtigste in dieser Auseinandersetzung ist jedoch, die Kräfteverhältnisse im Auge zu behalten. Die AKP hat einen Teil des säkularen Blocks verloren, der andere Teil blieb immer gegen sie. Für die Islamisten bedeutet das einen gewaltigen Verlust. In der arabischen Welt gibt es kein einziges Land, in dem den Islamisten ein solches Bündnis geglückt wäre, vielleicht in Ansätzen in Tunesien. Wahrscheinlich ist Erdogan die Bedeutung dieses impliziten und nun zerbrochenen Blocks gar nicht richtig bewusst. Denn mit Abstand stärkste und dominante Kraft bleiben sie jedoch weiterhin, mit dem Islam als Bindemittel. Visiert man ihren Sturz an, verletzt man ihren zu einem weiten Teil auch durch Wahlen gerechtfertigten Regierungsanspruch. Man drängt so ihren Block nur noch weiter zusammen, denn sie könnten es als laizistischen Putschversuch abwehren.

Wählt man jedoch die Linie der demokratischen und sozialen Opposition, die einfordert ohne jedoch unmittelbar den Machtanspruch zu stellen, kann man vielleicht schrittweise ihren soziopolitischen Block aufbrechen – zumal wenn ein wirtschaftlicher Einbruch kommen sollte. Gleichzeitig begibt man sich nicht in die Arme der alten kemalistischen Eliten samt Militärs. Es geht darum einen Teil der schwarzen Türkei, sowohl von der islamischen als auch von der kurdischen Komponente, auf die Seite der sozialrevolutionären Demokraten zu ziehen. Das nächste Ziel muss also sein, der AKP den Alleinvertretungsanspruch auf die schwarze Türkei streitig zu machen. Allein auf die Aleviten gestützt, lässt sich indes nur Kulturkampf führen und keine Revolution machen.[fn]siehe Revolutionäre und Aleviten[/fn]

13.6.2013

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