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Afghanistan – Der Ausschlag des Pendels

20. August 2021
Martin M. Weinberger

Das Pendel der Macht in Afghanistan hat ausgeschlagen – nach 20 Jahren Krieg der US-geführten NATO-Koalition und dem Abzug von deren Truppen haben die Taliban im Land die Macht übernommen. Die Medien quellen über von Bildern des Chaos und der Ratlosigkeit. Gewiss ist nur: Das US-Imperium hat eine gewaltige Niederlage erlitten und die Aufständischen errangen einen großen, einen schnellen Sieg – ohne Rückhalt breiter Bevölkerungsschichten wäre das nicht möglich gewesen. Die Situation in Afghanistan soll daher analysiert werden.


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Die USA und Afghanistan

Jede Analyse der aktuellen Situation in Afghanistan muss vor folgenden Voraussetzungen getroffen werden: 

1. Seit 1978 herrscht Krieg in Afghanistan und die Zeit der verhältnismäßig befriedeten Talibanherrschaft 1996 bis 2002 ist davon nicht ausgenommen. 

2. Die USA und die von ihnen geführte Koalition beschlossen 2001, Afghanistan zu erobern – sie erklärten unrechtmäßig einen Krieg und besetzten das Land. Dieser Krieg, der ungeheures Leid nach Afghanistan brachte, war ein Verbrechen. 

3. Der Krieg wurde in einer Zeit begonnen, als die USA sich als der Weltpolizist begriffen und die eine unbestritten führende Weltmacht. Nachdem der globale Konkurrent Sowjetunion weggefallen war, wurden daher „humanitäre“ Motive für hegemoniale Kriege gegen die „Achse des Bösen“ vorgeschoben, die Zeit des „Krieges gegen den Terror“ hatte begonnen. 

Festgehalten werden muss auch: Die USA sind nicht länger der alleinige globale Player, China und Russland sind ihnen gegenübergetreten – der Hals-über-Kopf-Rückzug und der Zusammenbruch des Satrapenregimes zeigen einmal mehr, wie dieser Weltführungsanspruch herausgefordert wurde. Das wird auch für vergleichbare „Projekte“ nicht folgenlos bleiben. Die internen Öffentlichkeiten in Europa und den USA wollten den Krieg in Afghanistan nicht mehr tragen, in Europa wuchs der Druck gegen immer neue Afghanistanflüchtlinge aus einem vorgeblich „sicheren“ Land – die Ländereinschätzungen beugten sich diesem Druck. Die tatsächliche Lage in Afghanistan wurde zugunsten von Rückführungsmöglichkeiten und Reduktion des Engagements „geschönt“, obwohl die Taliban längst faktische Macht errungen hatten und tatsächlich alle paar Minuten eine Bombe explodierte. Die Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten war nicht länger bereit, in Afghanistan Truppenaufstockungen und enorme Finanzmittel bereitzustellen, um unter veränderten globalen Verhältnissen und ohne greifbare Erfolge amerikanische Truppenpräsenz aufrechtzuerhalten. Die Biden-Administration, unter dem Druck des innenpolitischen Schismas und der Notwendigkeit außenpolitischen Machterhalts, überschätzte die Macht der afghanischen politischen Elite, die sie all die Jahre „gebuttert“ hatte. Sie wollte nur die ewig heiße Kartoffel Afghanistan „loswerden“ – sicherlich wollte sie jedoch keine zeitgleiche Machtübernahme durch die Taliban.

Der Westen in Afghanistan: Einmal nichts

Es ist im Westen leicht, mit dem Finger auf das „wilde“, „rückständige“, „patriarchalische“ Stammes-Afghanistan zu zeigen – wenn diese Strukturen vielfach die einzigen sind, die der Bevölkerung Versorgung und Schutz zu bieten vermögen. Es ist leicht, den konservativen Islam der Taliban zu kritisieren, wenn deren religiös legitimiertes Gesetz an vielen Orten das einzige Rechtssystem bietet. 

Tatsache ist: Die US-geführte Koalition vermochte in Afghanistan 20 Jahre lang nichts auszurichten. Die „Bruchlinien. Zeitschrift für eine neue revolutionäre Orientierung“ sprachen denn schon 2002 von einem „Phyrrhussieg“ und einer „Lüge vom Sieg“ – das Scheitern des westlichen Afghanistan-Projektes war bereits damals abzusehen. Die Milliarden und Abermilliarden Dollar, die nach Afghanistan flossen, verschwanden in den Taschen der korrupten politischen Eliten. Wohlstand für manche, Freiheitsspielräume für Frauen, Bildung und Sicherheit für wenige waren während der gesamten 20 Jahre der Besatzung nur in den großen Städten und einigen wenigen Provinzen gegeben. Afghanistan war während all der Zeit eines der ärmsten Länder der Welt, das Bruttoinlandsprodukt zu mehr als der Hälfte abhängig von Auslandshilfen und dann pro Kopf noch zwischen Niger und Eritrea (BIP pro Kopf), mit der – neben Somalia – gefährlichsten Situation für Frauen, ganz geringer Bildung (lediglich 52% der Männer und nur 24% der Frauen sind alphabetisiert) (Alphabetisierung), einer Lebenserwartung von 43 Jahren bei Männern (Lebenserwartung Männer) und einer dramatischen, sich immer weiter verschlechternden Sicherheitslage und zunehmender Kriminalität. Die US-geführte Koalition konnte Afghanistan in 20 Jahren tatsächlich nichts geben.

Die Arroganz des Westens

Im westlichen Auftreten gegenüber Afghanistan schwingen Sichtweisen mit, die kennzeichnend waren auch für das Zeitalter des Kolonialismus: 

1. Zuerst einmal die Überzeugung von der eigenen technischen Überlegenheit – ein Erbe auch des aufklärerischen Fortschrittsglaubens (dem ebenso viele Marxist*innen huldigten). Die westliche Technologie würde das „steinzeitliche“ Afghanistan beherrschbar machen.

2. Damit einher geht der Glaube an die eigene zivilisatorische und moralische Überlegenheit – das zeigt sich auch an den Bildern von der islamischen Welt allgemein, insbesondere jedoch von Afghanistan. Menschen, die mit Händen essen, ihre Töchter für Ziegen verkaufen, nicht lesen und schreiben können und „blind“ einem archaischen Gott folgen. „Demokratie“ und individuelle Freiheit im Verbund mit Kapitalismus und Konsum, mit Flatscreens und Coca Cola – diese Vision würde genug Anziehungskraft entwickeln, um die Menschen hinter sich zu bringen. 

3. Die Überzeugung von der eigenen kulturellen Überlegenheit und das damit verbundene missionarische Moment kommt als dritte Komponente hinzu – Huntington formulierte es treffend in seinem Werk „The Clash of Civilizations“. Diese „überlegene“ Kultur lässt sich vor dem Hintergrund der liberalen bzw.  „neoliberalen“ Werte, im Kontext von Individualisierung, Säkularisierung und Globalisierung verstehen: Der Westen ist angetreten, der ganzen Welt gesellschaftlich individuelle bürgerliche Freiheiten und wirtschaftlich den Kapitalismus zu bringen – sprich: die Möglichkeit und das Recht individueller Bereicherung und den ökonomischen Rahmen dazu.

Realität und Illusion

Diese imperialistische Arroganz gegenüber Afghanistan ist umso frappanter, wenn man sich die Ungleichheit der Kräfte vor Augen hält – woher kam aber das Erstaunen der westlichen Kräfte angesichts der Implosion des Regimes und der afghanischen Armee? Freilich war letztere gut ausgestattet mit Technik inklusive Kampfjets, biometrischen Erkennungsgeräten, Artillerie, Hubschraubern, freilich wurden die Polizei- und Armeekräfte trainiert – allein, wer führte sie und wofür kämpften sie? Sie verteidigten ein Potemkinsches Dorf.

Ohne die westlichen Gelder, wovon sollte Infrastruktur, wovon sollte Bildungs- und Gesundheitswesen aufgebaut werden, die Wirtschaft angekurbelt, die Versorgung gewährleistet, Kriminalität (ein riesiges Problem in einem kriegsgeschüttelten Land) unterbunden werden? Ohne massives westliches Militäraufgebot, wie sollten aufgebaute Strukturen bestehen bleiben? Auf den Bajonetten des westlichen Militärs und ihrer afghanischen Verbündeten, wie sollten diese Strukturen allen Afghan*innen zugute kommen und nicht nur einer Minderheit? 

Die vielen NGOs wiederum standen vor denselben Hindernissen wie so viele Hilfsorganisationen in anderen Ländern auch: Sie hatten keinen Einfluss auf die Politik und sie waren vielenteils nicht ausreichend lokal eingebunden. Sie helfen, weil es Bedarf an Hilfe gibt, doch sie verändern nicht, sie blasen auf einen heißen Stein in der Sonne. 

Die große Masse der Bevölkerung erlebte mit dem westlichen Krieg nur weitere Schrecken, größtes Elend – alle die Worte vom „freien“, „ethnisch geeinten“ und „demokratischen“ Afghanistan blieben für sie nur hohle Phrasen einer korrupten politischen Führung ohne reale Macht. Die Familien-, Stammes- und Dorfrealitäten, die ethnische und religiöse Zugehörigkeit bildeten die eigentliche Lebenswirklichkeit und – die Taliban.

Es kann nicht wirklich einheitlich von „Taliban“ gesprochen werden, denn die Taliban sind ein Bündnis, ein durchaus fragiles Bündnis, dessen Führung im Exil sitzt und mit vielfach analphabetischen Kämpfern operiert, die seit 20 Jahren praktisch mit der Waffe in der Hand gelebt und gekämpft haben, in einem Land der Entwurzelung, mit Hunderttausenden Flüchtlingen innerhalb und außerhalb seiner Grenzen. Die Taliban eint lediglich derselbe Hass auf Fremdherrschaft und dieselbe Angewiesenheit auf einen konservativen, fundamentalistischen Stammesislam des Beharrens. Das Spannungsverhältnis zwischen den islamisch begründeten Rechtsformen und den tradierten Stammesgesetzen bzw. -verhältnissen, das im Westen kaum beachtet wird, bildet zudem einen weiteren Faktor an Dynamik. Der Westen hatte auf das Stammessystem gesetzt, die Taliban mussten es teilweise überwinden, um Widerstand zu leisten. Das sind Erosionsflächen.

Die derzeitigen Taliban sind eng an Pakistan gebunden und konzentrieren sich zudem auf paschtunische Allianzen: Welche Rolle wird Pakistan also in Zukunft in Afghanistan spielen? Auch wenn die verschiedenen anderen Nationalitäten, die Tadschiken, die Usbeken, die Hazara und die dem Iran nahestehenden Schiiten im Moment schweigen – wie wird sich das in der Zukunft entwickeln? 

Wie sieht es in der Zukunft aus?

Angetreten als „Befreier“ und Regierende einer „nationalen Einheit“ und des „Friedens“ versprechen die Taliban jetzt vieles – doch bestehen sie nicht nur aus der geschulten Führung, sondern aus vielen verschiedenen lokalen Kommandeuren und deren Kampfgruppen. Die Taliban versprechen nationale Einheit, Frieden und Sicherheit, sie wollen sich auch international positionieren und der Isolation entfliehen. Doch wurde Afghanistan von ihnen vor allem erobert, weil der Westen es fallengelassen hat. Auch für die Taliban gilt: Der Sieg war nicht die Schwierigkeit, die Schwierigkeit ist das Regieren. Die Taliban können sich keine ähnlichen Exzesse wie in den 90ern erlauben, sie müssen wahrscheinlich politische Kräfte der vorherigen Machthaber in ihre Regierung integrieren und sie sind angewiesen auf die Bildungseliten, Experten und Fachkräfte der städtischen Zentren, die unter der westlichen Besatzung ausgebildet wurden. Eine ähnlich massive Flüchtlingswelle wie in den 90ern ist zwar möglicherweise nicht mehr zu erwarten, nicht wegen der Taliban, sondern vor allem, wenn die Abschottung in Frage kommender Fluchtländer in Betracht gezogen wird, aber angesichts der weiterhin porösen Grenzen bleibt das abzuwarten. Mit diesen Menschen werden sich die Taliban jedenfalls auseinandersetzen müssen. Die Herausforderungen für die neuen Machthaber sind gewaltig.

Hier sind drei Indikatoren besonders im Auge zu behalten: 

1. Wie erfolgt der Umgang mit den anderen Volksgruppen? Denn eine dauerhafte Herrschaft kann nur mit deren Einbezug gesichert werden, nicht durch deren Unterdrückung. 

2. Wie wird mit der Frauenfrage umgegangen? Tatsächlich ist die Frage der Frauen und deren gesellschaftlichen Rolle im Falle Afghanistans eine sehr zentrale. Das hat einerseits symbolische Gründe. Die Wahrung der islamisch begründeten Rollenbilder und der traditionellen Geschlechtertrennung gehört zum Kerninventar der Taliban-Ideologie. Andererseits kam es unter westlicher Herrschaft hier zu Entwicklungen, die nicht folgenlos revidierbar sind, insbesondere auch die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Partizipation der Frauen betreffend. Wenn Ideologie und Realität aufeinanderprallen, werden sich Brüche auftun und zu denen müssen sich die Taliban verhalten. Das betrifft auch das Verhältnis von Stammesgesetzlichkeit und Islambegründung und hat Rückwirkungen auf die Ideologie.

3. Wie wird mit den „Kollaborateuren“ umgegangen bzw. mit den konkurrierenden politischen Kräften? Diese bilden sowohl in Hinsicht auf Expertise als auch auf wirtschaftliche Ressourcen ein wichtiges Reservoir. Gleichzeitig müssen die Taliban jedoch ihre Staats- und Gesellschaftsvorstellungen sowie ihre Vorherrschaft durchsetzen und absichern. Insbesondere am Umgang mit diesen Kräften wird sich auch ihre Glaubwürdigkeit (auch nach außen – die faktische Außenabhängigkeit Afghanistans ist enorm) und ihre Vertrauenswürdigkeit nach innen festmachen lassen. 

Hinzu kommt: Die USA werden versuchen, sich in den umgebenden Ländern und in der Einflusszone Russlands und Chinas neu zu positionieren, um ihre Drohung und ihren Einfluss nach Afghanistan hinein aufrechtzuerhalten. Dabei werden sie mit afghanischen Kräften zusammenarbeiten. Den USA ging es schon beim Afghanistankrieg 2002 um geostrategische Kontrolle und Sicherung von Ressourcennachschub. Die Taliban jedoch können den Isolationismus von annodazumal nicht wieder hervorkramen. Sie müssen nicht nur Regierungsgewalt ausüben, sie müssen eine Nation und einen funktionierenden Staat aufbauen: 

1. Das wird nicht ohne Konflikte und Widerstand vonstatten gehen, von innen, von außen und aus den eigenen Reihen. Die Versprechen der Taliban sind dann an dem Umgang damit zu messen. 

2. Die Drohung und der mit Abhängigkeit einhergehende Druck von außen bleiben bestehen und die Taliban sind stärker als früher an dem Umgang mit den äußeren Einflüssen zu messen.

Die Frage selbstbestimmter Entwicklung

Der Untergang der westlichen US-geführten Besatzer und deren Scheitern, möchte man fast sagen, waren unvermeidlich. Es bleibt die große Frage der Zukunft, inwieweit die Afghan*innen sich jetzt – nach Abschüttelung der Fremdherrschaft – selbstbestimmt entwickeln werden.

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